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Librairie 47° Nord, Mulhouse (F)

Gute Koordinate

Michael Guggenheimer

Ich weiss nicht, auf welchem Längen- oder Breitengrad Zürich, die Stadt, in der ich lebe, liegt. Ich müsste einen Atlas oder Wikipedia konsultieren. Von der französischen Stadt Mulhouse hingegen weiss ich, dass sie auf dem 47. nördlichen Breitangrad liegt. Weshalb ich das weiss? Weil eine dortige Buchhandlung nach der Position der Stadt „Librairie 47° Nord“ heisst. Es ist eine wunderbare Buchhandlung, in der Altstadt gelegen. Frédéric Versolato, Gründer und Besitzer dieser unabhängigen Buchhandlung, hat den Namen erfunden, als er sie vor zwölf Jahren an der Rue du Moulin in der Engelmann Passage eröffnete. Kennt man sich in Mulhouse nicht aus, kann es passieren, dass man am Eingang der Passage vorbeigeht, weil die Schaufenster der Buchhandlung nicht von der Strasse aus einsehbar sind.

Eingang zur Librairie 47 degrés Nord

Ein hoher heller Raum. Ein Oberlicht verleiht der geräumigen Buchhandlung Tageshelle. Ein Bilderfries über den Büchergestellen fällt beim Betreten der Buchhandlung auf. Grosse quadratische Bilder in Schwarz-Weiss, es sind Nahaufnahmen, sie zeigen Lesesituationen, auch eher ungewohnte, etwa eine Hand und ein Buch, einen Schuh und einen Stapel von Büchern, Fotokunst aus dem Studio ziph-king in Strasbourg. Ein rotes Fadengeflecht verläuft über den Köpfen der Kunden und lässt den Blick zu den Büchergestellen mit ihren jeweils sieben Tablaren schweifen, die alle deutlich in Grossbuchstaben angeschrieben sind. Helles Mobiliar, Büchergestelle und Korpusse aus Holz, schwarze Bodenplatten bilden einen Kontrast. Ein wunderbare Opulenz an Büchern wartet auf die Besucher der Buchhandlung! Spiritualités-Religions, Psychanalyse-Psychologie, Questions d’actualité, Histoire und Bien-être heissen einzelne Abteilungen. Bandes dessinées, Romans policiers steht auf den Gestellen geschrieben. Kunst- und Architektur, Wörterbücher, Kinder- und Jugendbücher verfügen über eigene Gestelle.

Man bewegt sich langsam von einem Bücherregal zum nächsten, von einem Bücherkorpus zu nächsten und nimmt wahr, dass die meisten Romane, die in Frankreich gelesen werden, von anderen Autoren geschrieben werden und andere Titel aufweisen als die Belletristik, die in Freiburg in Breisgau oder Basel in den Buchhandlungen aufliegen. Und doch ist die „Librairie 47° Nord“ reich an Literatur, die nicht in Frankreich geschrieben wurde: Fünf Regale sind mit „Littérature etrangère“ angeschrieben. Und die Tablare sind wiederum nach Ursprungssprachen unterteilt. Viel übersetzte Literatur aus dem angelsächsischen Raum, nicht wenige Bücher, die aus dem Deutschen übersetzt wurden. Direkt neben der Kasse Biografien und Bücher von Autorinnen und Autoren, die in den letzten zwölf Monaten gestorben sind: Politikerin und Holocaust-Überlebende Simone Veil, Filmer Claude Lanzmann, Schriftsteller Philip Roth. Ein grosser Tisch mit feministischer Literatur, reichlich Bücher zu aktuellen politischen Themen. Und was auffällt: Mit Ausnahme von Notizbüchern keine Non books in dieser Buchhandel. Hier gilt das Buch, Servietten, Kerzen, Dosen aller Art und Spielsachen haben hier nichts zu suchen.

Buchtitel: La mer! und Une Marée noire

Aber auch Kinder- und Jugendbücher sind reichlich vorhanden. Darunter Titel, die überraschen. So „Une marée noire“ über das Schiffsunglück der Amoco Cadiz, ein Tankerunglück in kindergerechter Sprache dargestellt, eine wunderbar illustrierte Geschichte eines Kindes in der Bretagne, das von der Küste aus das Unglück verfolgt. Oder das voluminöse Buch „La Mer“ von Piotr Kurski. Ein Buch für junge Leser, in dem alles über Strände, Stürme und Schiffe sowie über Fische, Fischfang und die Gefahren der Meeresverschmutzung erzählt wird.

Hat man sich ein Buch ausgesucht oder will man sich die Auslagen nochmals genauer anschauen und ist müde, dann verlässt man die Buchhandlung, geht bloss wenige Schritte weiter durch die Passage und setzt sich nebenan im italienischen Restaurant Mamma Mozza hin, trinkt einen Kaffee, betritt die ebenfalls in der Passage gelegene Confiserie Dany Husser, wo Elodie Husser wunderbar farbige Patisserien anbietet und kehrt wieder zurück in die Buchhandlung, wo die kundige Buchhändlerin Dominique Klein einem bei der Suche nach einem leicht lesbaren französischen Roman gerne hilft. Sie weiss auch ganz genau, dass die Zeitungsbeilage „Le monde de la littérature“ bereits auf das neue Buch von Christophe Boltanski zwar hingewiesen hat, das Buch aber erst in wenigen Tagen ausgeliefert werde. Ob man nicht zuerst als „Vorbereitung“ Boltanskis „La cache“ lesen wolle? Ja, man will und kauft das Buch! Zu viert arbeiten sie in der Buchhandlung, Samstag sei der Tag, an dem die meisten Kunden kämen. Seit über 25 Jahren ist Mme Klein Buchhändlerin, hat früher bei der Buchhandelskette FNAC und bei der Buchhandlung Kléber gearbeitet. Sie betreut die Bereiche Kunst und Sozialwissenschaften, die Belletristik und die Kinderbücher. Die Dynamik von Besitzer Frédéric Versolato und die Grösse des Ladens hätten den Ausschlag gegeben, wieder nach Mulhouse zurückzukommen. Besitzer Versolato hat fast dreissig Jahre lang als angestellter Buchhändler gearbeitet, bevor er sich seinen Traum erfüllte und eine unabhängige Buchhandlung eröffnete. Stolz weist Mme. Klein auf die kleine Plakette am Eingang der Buchhandlung, die besagt, dass man sich hier in einer eigentümergeführten Buchhandlung befinde.

Kurz vor dem Verlassen der Buchhandlung aber doch noch zum Büchergestell mit den Regionalia. Beim Anschauen der Bücher zum Elsass und zu den nahen Vogesen wird einem bewusst, dass man Mulhouse unterschätzt hat, nochmals hinfahren sollte. Mit dem Kulturzentrum „La Filature“ auf dem Gelände einer ehemaligen Baumwollspinnerei errichtet, besitzt Mulhouse eine staatliche Bühne für Musik, Tanz und Theater mit sehenswerten Aufführungen. Und sollte ich wieder nach Mulhouse zur Buchhandlung „Librairie 47° Nord“ fahren, um dort französische Bücher zu kaufen, dann werde ich gewiss noch das Automobilmuseum „Cité de l’automobile“ der Gebrüder Schlumpf mit seinen gegen 500 Autos und die „Cité du train“, das Eisenbahnmuseum, nach eigenen Angaben die größte Sammlung dieser Art auf dem europäischen Kontinent, aufsuchen.

Librairie 47° Nord
8b, rue du Moulin
68100 Mulhouse
T: 0033 3 8936 80 00
www.47degresnord.com

 

Breites Sortiment

Heinz Egger

Es war nicht ganz einfach, nach Mulhouse zu gelangen. Eigentlich ist es ja nur einen Katzensprung von Basel entfernt. Aber ein Unfall zwischen Basel und Saint-Louis unterbrach die Strecke für Stunden. Wir reisten via Flughafen Mulhouse nach Saint-Louis und von dort weiter nach Mulhouse. Das war vielleicht auch nicht der ideale Weg, wenn schon eine Tramlinie direkt nach Saint-Louis Gare führt. Interessant war es trotzdem, eine kleine Entdeckungsreise in unbekanntes Gebiet. – Genau so in Mulhouse. Die Taxifahrerin führte uns um den Stadtkern herum und liess uns in der Rue du Moulin, einer Sackgasse, aussteigen.

Im Haus Nummer 8, genannt Maison Engelmann, gibt es eine Passage. Sie ist dominiert von drei Lokalen, die Essen anbieten: Italienisches, Süsses aus der Confiserie und Kaffee. Tische laden ein, Platz zu nehmen und sich verwöhnen zu lassen. Die Kasse der drei Angebote ist gemeinsam.

Unsere etwas umständliche Reise hat uns hungrig gemacht. So stärken wir uns zuerst und schauen etwas zu, was bei „47 Grad Nord”, der Buchhandlung, wo für das geistige Wohl gesorgt wird, geschieht. Es ist ein jüngeres Publikum, das um uns herum sitzt. Auch die Besucherinnen und Besucher der Buchhandlung sind jung. Oft sind es Eltern mit Kindern. Es ist eben noch Ferienzeit, wie uns die Buchhändlerin Dominique Klein erklärt.

Blick durch die Buchhandlung

Die Buchhandlung ist nicht riesig. Ein Raum, aber ein Blick hinein zeigt sofort, dass da ein breites Sortiment vorhanden ist. Den Wänden entlang laufen helle Büchergestelle, der dunkle Boden trägt eine grössere Anzahl Bücherinseln. Es sind gerade so viele, dass man noch gut dazwischen hindurchgehen kann. Und sie sind alle schwer beladen. Cover neben Cover. Bücher belegen jedes Fleckchen.

Die Gestelle sind oben gross angeschrieben. Schnellere Orientierung bieten allerdings die Schwarz-Weiss-Bilder oberhalb der Gestelle: Es sind sorgfältig gewählte Ausschnitte. Eine Hand führt ein Spielzeugauto unter einem Buch durch, das als Tunnel dient. Die fünf Gestelle darunter enthalten Bücher für Kinder von der Bildergeschichte über Poesie bis zum Sachbuch. Beim dritten Bild muss niemand lange überlegen, was sich darunter befindet: Zwei weit aufgerissene Augen spähen über einen Bücherrand… Drei Gestelle belegen darunter die Kriminalromane. Weisse Einstecker zwischen den Büchern weisen auf bekannte Autorinnen und Autoren hin. So findet jeder schnell seinen Mankell oder Donna Leon.

Das anschliessende Bild zeigt eine Frauenhand, die elegant ein Buch hält. Die dunkel lackierten Fingernägel kontrastieren mit dem hellen Buchumschlag. Und gleich daneben stecken nackte Füsse in hochhackigen Riemchen-Sommerschuhen. Es scheint, dass die Dame weiter oben etwas erreichen möchte, darum steht sie auf einem Bücherstapel. Sicher, ohne Buch sollte niemand unterwegs sein und nach Höherem zu streben ist ebenfalls jedermanns und -frau Pflicht. Um diesen beiden Zielen nachzukommen finden sich unter den Bildern fünf Gestelle mit Littérature étrangère. Es ist ein Meer von Buchrücken, alles auf Französisch. Die Tablare unterteilen die angebotene Literatur nach Originalsprache: Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, asiatische und nordische Sprachen sowie Deutsch. Auch eine Abteilung mit Titeln aus dem nahen und mittleren Osten gibt es.

Vier weitere Gestelle tragen den Titel Littérature française. Drei davon führen als Raumteiler von der Wand weg. Der grösste Teil des Angebots besteht aus Werken moderner Autorinnen und Autoren. Da stehen beispielsweise Bücher der in Minsk geborenen Aliona Gloukhova, die in Paris einen Master in „création littéraire” erworben hat, in Frankreich lebt und auf Französisch schreibt. Oder von Angélique Villeneuve, die Kochbücher, Kinderbücher und sieben Romane veröffentlicht hat. Unter ihnen auch einen, zu dem sie der Tod ihres Sohnes 2014 inspiriert hat.

Und immer wieder halten Büroklammern einen kleinen Zettel mit dem Logo der Buchhandlung am Buchdeckel fest. Es sind die Buchempfehlungen der Buchhändlerinnen und Buchhändler. Auffallend ist, dass jene mit einem Text rechtsbündig gesetzt sind. Sie tragen einen fetten Titel mit Ausrufezeichen, kursiv gesetzt. Ebenfalls kursiv folgt darunter der Buchtitel und die Autorin oder der Autor. Im anschliessenden Fliesstext folgt die „Begründung” zum Titel. Natürlich sind die Karten von Hand signiert.

Hinter dem raumteilenden Gestell sind die Sachbücher: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Spiritualität, Gesundheit, Natur, Kochen – mit zwei Gestellen in dieser Reihe ein deutliches Schwergewicht –, Freizeit, Architektur und Dekoration. Den Abschluss auf dem Rundgang den Wänden nach bilden drei Gestelle mit Büchern zum Tourismus, darin einige spannende Angebote über das Elsass. Wenn bei der Literatur die brochierten Bücher dominieren, so sind bei den Sachbüchern die gebundenen in der Überzahl.

Auf der Kassatheke liegen neben vielen anderen auch eine Auswahl an Büchern der in diesem Jahr verstorbenen Philip Roth und Claude Lanzmann.

Das Sofa vor dem Eingang, geschützter Ort hinter den Kartenständern

Die Vielfalt des Angebots hat mich müde gemacht. Ich ziehe mich auf das Sofa zurück, das vor den beiden Eingängen in einer Ecke steht und durch Kartendrehständer wunderbar versteckt wird. Es ist eine Oase im Gewusel in der Passage. Ich schaue den Leuten zu, die in der Buchhandlung ein- und ausgehen. Und ich frage mich, was noch für Schätze auf den vielen Buchinseln liegen, die ich nicht genauer angesehen habe.