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Literaturfestival in Montréal und in Zürich

 

Buch als Schlüssel

Heinz Egger

Überraschung. In Montréal ist zur Zeit unseres Besuchs ein Literaturfestival: Festival International de la Littérature (FIL). Das verkünden mir Prospekte auf einem hölzernen Ständer am Rande  des Parc Émilie-Gamelin. Ich habe kaum eines der Hefte in der Hand, als ich angesprochen werde. Sie hat dunkle Haare, einen braunen Teint, ist schwarz angezogen. Sie redet Französisch in jener für uns Europäer ziemlich gewöhnungsbedürftigen Variante von Kanada. Ich brauchte einige Zeit, bis ich ihren Erklärungen folgen kann. Ich muss immer wieder nachfragen. Sie heisst Kena, lebt seit ihrer Kindheit in Montréal, hat aber chilenische Wurzeln.

Festival International de la Littérature, Montréal, Micro-Bibliothèque

Im Rahmen des Literaturfestivals gibt es in den Jardins Gamelin eine Micro-Bibliothek. Sie ist in einen grossen, weissen Schiffscontainer eingebaut. Dieser hat zwei grosse Öffnungen in der Längswand. Durch diese kann jedermann eintreten, sich umschauen, Bücher nehmen, blättern, lesen. An der Rückwand des – Containers sind Büchergestelle mit Büchern aus ganz verschiedenen Bereichen ausgestellt. Vom Sprachlernbuch – ich fand eines für Arabisch! – über Handarbeiten bis zur Belletristik findet sich alles. Draussen scheint die Sonne und es ist ungewöhnlich warm für Ende September. Das nutzen einige Leute. Sie sitzen in den bequemen Holzfauteuils und geniessen die Lektüre, die sie in der Bibliothek gefunden haben. Man dürfe das Buch auch mitnehmen, sagt Kena. Sie schlägt vor, es nach der Lektüre ganz einfach zur Freude eines weiteren Lesers oder einer weiteren Leserin irgendwo in der Stadt vor eine Haustüre zu legen.

Innen an einer Stirnseite ist grafisch schön gestaltet der Name der Bibliothek angeschrieben: La Bibliothèque du FIL. An der anderen Stirnwand „kleben“ magnetische Streifen mit Wörtern, weiss auf schwarzem Grund. Einige der Streifen hängen ungeordnet an der Wand, andere sind sorgfältig zu kleinen Texten gefügt. Eine junge Frau sitzt davor im Schneidersitz auf einer Bank und liest.

An einer Schnur hängen mit hölzernen Wäscheklammern befestigte A4-Blätter. Sie sind Einladungen, selber zu schreiben. So fordert ein rosarotes Blatt auf „Des mots pour exprimer votre amour inavoué …“ Unten rechts auf dem Blatt klebt ein kleiner Zettel „Je rougis lentement“.

Vor dem weissen Container steht ein langer Tisch. Darauf ist Packpapier aufgespannt und in der Mitte eine grosse Karte der Stadt Montréal aufgeklebt. Kena lädt mich ein, einen Stift zu nehmen und einen magischen Moment in der Stadt festzuhalten: Ort suchen, Kreis darum ziehen, eine Linie an den Kartenrand zeichnen und dort kurz den Moment beschreiben. Ich mache den Kreis um den Parc Émilie-Gamelin und schreibe am Ende des Strichs: Une idée pour buchort.ch.

Rings um einen Baum ist ein niedriger Tisch aufgebaut. Hier sind die Kleinen eingeladen, etwas zu formulieren. Warum nicht die Hand aufs Papier legen, die Finger spreizen, ihnen mit einem Filzstift nachfahren und dann fünf wichtige Dinge im Leben in die Finger schreiben? Mehrere Mütter mit ihren Kindern sind hier. Die kleinen arbeiten eifrig. Die Betreuerinnen helfen mit didaktischem Flair. Hier stehen auch ein paar Stühle. Von Zeit zu Zeit, und wenn genügend Zuhörerinnen und Zuhörer da sind, lesen die Betreuerinnen aus einem Buch vor. Dazu tragen sie ein Bügelmikrofon. Der Verstärker und Lautsprecher baumeln am Gurt.

Festival International de la Littérature, Montréal, Stand exeko.org

Nachdem mir Kena alles vorgestellt hat, ziehe ich mich in den zweiten, gelben Container zurück, um Notizen zu machen. Ich bin dort nicht lange alleine. Bianca setzt sich zu mir und fragt, was ich mache. Bereitwillig erkläre ich ihr mein Ziel, diesen Ort für buchort.ch festzuhalten. Bald sind wir tief in einem Gespräch. Wie Kena arbeitet Bianca als Mediatorin für die Organisation exeko.org. Diese Institution, die 2012 gegründet wurde, hat ein hehres Ziel: Sie kümmert sich um Leute, die aus der Gesellschaft gefallen sind oder drohen daraus zu fallen. Ihre Philosophie ist, über das Buch, Kreativität in Form von Schreiben und künstlerischem Tun und vor allem das Gespräch an solche Leute heranzukommen. Das Buch sei oft nur der Türöffner, sagt Kena, um überhaupt ins Gespräch zu kommen. Es sei wichtig, mit diesen Leuten zu reden, ihnen zu zeigen, dass sie beachtet werden, betont Bianca. Die Organisation hat heute 19 Mediatorinnen und Mediatoren dazu etwa 180 Freiwillige, die über 1000 Teilnehmende, junge und alte, empfangen. Exeko betreibt eine mobile Bibliothek, es sind 2900 Bücher im Umlauf. Im Jahr 2016 wurden mehr als 2000 Schreibsets, Künstlersets und Notizhefte verteilt und etwa 700 Brillen verschenkt.

Auch im gelben Container, der auf seinem Dach in Grün den Schriftzug „La maison jaune“ trägt, steht ein langer Tisch, davor und dahinter eine Bank. Auch dieser Tisch ist mit Packpapier belegt. Auf dem Tisch stehen Becher mit Schreibzeug, farbiges Papier und Scheren liegen bereit. Jeder darf etwas zum Thema „Identität“ aufschreiben und auf eine Stelle des menschlichen Umrisses kleben. An der einen Stirnwand hängt ein Kasten in Form eines Hauses. Wer mag, darf auf einem selbst gestalteten Papier zum Thema „Instants poétiques des cons de rue …“ seinen eigenen poetischen Moment festhalten. Ob es auch deutsche Einträge gibt? Bianca bejaht meine Frage und hat schnell zwei gefunden, die ebenfalls von Schweizern stammen. Auf einem steht „Kafigruch“, auf dem anderen „Wiissi Eichhörnli“. Der Kasten ist fast schon voll. Die Texte sind teils französisch, teils englisch. Ich steure mein 555. Haiku bei:

welkende blätter
winken dem sommer ade:
goldgelb, feuerrot

Kena verwickelt derweil jede vorbeigehende Person in ein Gespräch. Sie zeigt einem dunkelhäutigen Mann die Bibliothek. Er stöbert etwas, findet aber nichts Passendes. Vor dem Container steht ein Korb mit rotwangigen Äpfeln. Hier langt er gern zu und beisst mit Genuss in die Frucht.

 

Veranstaltungshinweis:

Hilfe, wohin mit den gelesenen Büchern?

Z Ü R I C H  L I E S T –
D A S  B U C H F E S T I V A L

11 Meter Bücherwand. Die Leiter reicht nicht bis oben.„Wer soll all das lesen?“ singt Brigitte Schär rockig angesichts all der Neuerscheinungen
auf dem Buchmarkt. „Wohin mit all den Büchern, die wir schon gelesen haben?“, fragen
Heinz Egger und Michael Guggenheimer von www.buchort.ch
Wohin gelesene Bücher wandern, was mit ausgelesenen Büchern passiert, wie Leserinnen und Leser mit ihren Büchern umgehen, wohin der Weg der Romanfiguren führt, zeigen die beiden Buchortisten in Bildern und Texten, die von passenden Popsongs begleitet werden.

Sa, 28. Oktober, 17 Uhr, Café Olga im Brockenhaus Zürich, Neugasse 11
Eintritt Fr. 10.–
Beschränkte Platzzahl.
Anmeldung erwünscht: 044 242 12 93 oder contact@buchort.ch.

Buchort.ch empfiehlt auch noch:

Sibylle Elam: „Es soll dort sehr gut sein. Eine Familiengeschichte von Flucht, Vernichtung und Ankunft“, erschienen im Rotpunktverlag.
Donnerstag, 26. Oktober, 19.30 bis 21 Uhr im Atelier Righini-Fries, Klosbachstrasse 150. Sibylle Elam liest und spricht mit Michael Guggenheimer über ihr Buch. Nach dem Tod ihrer Eltern findet Gewerkschaftssekretärin und frühere WoZ-Redaktorin Sibylle Elam mehrere Bündel Familienbriefe, und viele Namen von Familienmitgliedern tauchen auf, die nie erwähnt worden waren. Im Lauf ihrer Recherche erfährt sie, dass die Geschichte eine ganz andere war, dass viele, von denen nie gesprochen wurde, umgebracht worden waren, während andere erreichbar gewesen wären.

Gila Lustiger, „Die Schuld der anderen“ als Roman und Hörspiel. 30 Jahre nach der Ermordung einer jungen Prostituierten, die aus der französischen Provinz zum Geschichtsstudium nach Paris gekommen war, rollt der Journalist Marc Rappaport den Fall erneut auf. Seine Recherchen bei den Reichen und Mächtigen und ihren «kleinen Arrangements mit der Moral» führen ihn auf die Fährte eines Polit-Skandals von schockierendem Ausmass, der ihm bedrohlich nahe kommt. «Es sind die genau recherchierten atmosphärischen Details und vor allem die zahlreichen Verknüpfungen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die den Roman zum französischen Sittengemälde machen», schrieb ein begeisterter Jürgen Ritte nach dem Erscheinen von Gila Lustigers Roman «Die Schuld der anderen» (2015). Nach der Hörspiel-Adaption von Barbara Liebster folgt ein Nachtessen à la française und eine Lesung mit Gila Lustiger. In einem abschliessenden Gespräch sollen Fragen zu Form und Inhalt zu einer Vertiefung des gesellschaftlich brisanten Stoffes führen.
Moderation: Karen Roth-Krauthammer. Samstag, 28. Oktober 2017, 18:00-21:15 Uhr im Salon an der Weststrasse 20, 8003 Zürich