Eine Welt von gestern
Michael Guggenheimer
Ein Hauch von früher. Eine starke Prise der Unmoderne. Ein Ort der bürgerlichen Geborgenheit in einer rastlosen Welt. Das sind die ersten Assoziationen Tage nach dem Besuch der Räume der Allgemeinen Lesegesellschaft (ALG) am Münsterplatz in Basel. Während vor dem Haus an diesem Spätsommertag hunderte von Plastikstühlen in Reih und Glied stehen und beim Einbrechen der Dunkelheit auf einer riesigen Leinwand Filme gezeigt werden, widersetzen sich die Räume der Lesegesellschaft der schrillen Werbung der Telefongesellschaft mit dem seltsamen Namen Salt. Während draussen am Abend Drinks und Häppchen serviert werden und anschliessend vor dichten Menschenreihen ein Film geboten wird, sitzen im ersten Stockwerk des einstigen Domherrenhauses vier Menschen auf lederbezogen Stühlen an runden und rechteckigen Tischen aus massivem Holz und lesen vertieft die Morgenzeitung, eine Zeitschrift oder ein Buch und herrscht im Haus eine andächtige Stille während auf dem Münsterplatz ein Rauschen von Stimmen und eine Hintergrundmusik zu hören sind, die auf die bevorstehende Openair-Filmnacht einstimmen.
Gleich nebenan steht hoch über dem Rhein das ehrwürdige Basler Münster. Roter Stein und Gotik. Neugotik und eine rosarote Fassade prägen das Haus der Allgemeinen Lesegesellschaft. Wer die schwere Eingangstür öffnet, betritt eine Welt von gestern in der Welt von heute. Im Erdgeschoss befinden sich die Ausleihe und das Bücherlager. Dunkle Parkettböden, hohe Büchergestelle in Holz vom Boden bis zur Decke reichend, allesamt schwer beladen, ein Hauch von Antiquariat duftet einem entgegen, denn die meisten der hier versammelten 75 000 Bände, die sich in den Räumen der im Jahr 1787 gegründeten Lesegesellschaft befinden, sind alt. Dazu passt, dass hier ein elektronisches Bücherverzeichnis fehlt. Wer ein Buch sucht, tut es so, wie er es vor hundert Jahren und mehr gemacht hätte: Zettelkästen stehen im Katalograum, man fingert sich von einem Autor zum nächsten und von einem Sachgebiet zum folgenden durch. Man nimmt die wunderbar alt aussehenden Emailschilder zur Kenntnis, auf denen die einzelnen Abteilungen der Bibliothek vermerkt sind, zu denen auch die Abteilung G mit der Bezeichnung „Vaterländisches“ gehört. So hoch sind die Bücherregale, dass man mitunter eine Leiter zur Hilfe nimmt, um sich in der Höh’ ein Buch zu holen. Hat man seine Bücher gewählt, schreitet man zum breiten Tisch der Bibliothekarin und stellt die Bücher zwischen zwei Buchstützen hin, es sind zwei gelbmetallische Eulen, die Buchrücken bitte zur Bibliothekarin hingekehrt, welche die Signaturen in ihrem Laptop einträgt. Erst dann soll man bitte die gewählte Literatur in der Mappe verstauen.
Im ersten Stock befinden sich drei Leseräume. Oder präziser die beiden Lesesäle und das Konversationszimmer. Gediegene Räume, einer mit grünlichen Tapeten, der andere in neutralerem Weiss. Originale von den Malern Ernst Coghuf, Martin Alfred Obrist und Jakob Strasser hängen an den Wänden, sie zeigen Landschaften der Nordwestschweiz. Grosse runde Tische und kleinere rechteckige, Fauteuils und Stühle, gute Beleuchtung über jeden Tisch, eine Aura, die einem Lust macht, die Tabakpfeife hervorzuholen und gemütlich schmauchend mit der Lektüre eines 600 Seiten dicken Romans zu beginnen. Der Schreibende erinnert sich an seinen Grossvater, der ein Lesezimmer hatte, in dem nur gelesen (und geraucht) werden durfte. Grossmutter kam höchstens herein, um den Aschenbecher zu leeren und mit dem Staublappen den Tisch zu wischen. Klar, dass in den Lesesälen der AL das Rauchen untersagt ist. Die „Ordnung der Allgemeinen Lesegesellschaft“ schreibt aber auch vor: „Der grosse Lesesaal darf nur zum Lesen benutzt werden. Dagegen ist im kleinen Lesesaal und im Konversationszimmer auch das Arbeiten erlaubt“. Und damit auch alles seine Ordnung hat, heisst es unter Ziffer vier: “Die Benützerinnen und Benützer sind gebeten, jeweils nur eine Zeitung oder Zeitschrift an sich zu nehmen und nach der Lektüre wieder an den vorgesehenen Platz zu legen“.
Es versteht sich von selbst, dass die in den Lesesälen aufgelegten Zeitungen und Zeitschriften sowie die Bücher der Handbibliothek und die ausgestellten Neuanschaffungen nicht aus den Sälen entfernt werden dürfen. Ertönt im grossen Saal das Geklapper einer Computertastatur wird man höflich darauf aufmerksam gemacht, dass hier das Schreiben – und erst recht das Tippen – zu unterlassen sei. Nebenan im kleinen Konversationszimmer ist Platz für Geklapper und Geplauder. Dort sitzen gerade zwei Studentinnen und schreiben an ihren Seminar- oder Semesterarbeiten. Sie geniessen es, an einem so zentral gelegenen Ort arbeiten zu können. Zwei Lesende im grösseren Lesesaal berichten einem im Flüsterton, dass sie sich regelmässig einen Abstecher in die wunderbaren Räume der ALG gönnen, wo die Zeit in einer hektisch gewordenen Umwelt still zu stehen scheine. Sie nutzen gerne das breite Angebot an Tageszeitungen, zu denen sich über 120 Zeitschriften hinzugesellen.
So altmodisch das alles wirkt, so ist es handkehrum auch wunderbar. Die Räume der Allgemeinen Lesegesellschaft am Münsterplatz zu Basel sind eine Oase. Man fasst es nicht, aber die Lesesäle sind an 365 Tagen im Jahr geöffnet. Und damit hier auch jene Ruhe herrscht, die im Alltagsgewühl einer Stadt wohltuend ist, besagt eine Schrifttafel im Treppenhaus in fetten, grossen schwarzen Lettern: „Die Lessäle sind nur den Mitgliedern und Abonnenten der Allg. Lesegesellschaft zugänglich“. Einmalig auf dem Gebiet des gesamten Vaterlands dürfte die Garderobe vor den Lesesälen sein. Man kann dort eine Metallkette durch einen Ärmel des eigenen Mantels oder Sakkos legen und diese mit einem kleinen Hängeschloss sichern. Gehört man zu den rund 1000 Mitgliedern der Lesegesellschaft, dann weiss man, dass jedem Benutzer nur ein Platz zur Verfügung steht, der bei Verlassen der Lesesäle höchstens für eine halbe Stunde belegt werden darf. Je 700 Bücher hat die Lesegesellschaft in den Jahren 2013 und 2014 erworben. „Die Mitglieder der ALG“, so der Jahresbericht 2014, „sind wohnhaft in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und in Monaco“, im Gespräch mit der Bibliothekarin erfährt man, dass es auch Mitglieder mit Wohnsitz in Mexiko und in den Golfstaaten geben soll, wobei wir gerne glauben, dass die Mitglieder aus den letztgenannten Ländern eher selten Gebrauch machen von der wunderbaren Stille des Lesens am Münsterplatz. Ob sie Mitarbeiter der Basler Pharmaindustrie sind, die in Basel ein Pied-à-Terre haben und gerne exotisch klingende Adressen angeben?
Allgemeine Lesegesellschaft Basel
Münsterplatz 8
4001 Basel
T: 061 261 43 49
www.lesegesellschaft-basel.ch
Zwischen Eulen
Heinz Egger
Peter ist Neumitglied wie etwa 150 andere in diesem Jahr. Rund 1000 Mitglieder zählt die Allgemeine Lesegesellschaft in Basel. Warum hat er sich eingeschrieben? Er ist vor Kurzem in Pension gegangen. Nun will er regelmässig einen Teil seines Tages der Lektüre widmen. Die Lesegesellschaft hat in ihrer mehr als 220-jährigen Geschichte über 75’000 Bücher angeschafft. Und alle stehen noch zur Verfügung. Weggegeben wird nichts. Und in den Lesesälen liegen 49 Zeitungen und 132 Zeitschriften auf. Da bleibt doch kein Wunsch offen. Und die Lesesäle sind auch am Wochenende zugänglich, das freut Peter.
Er liebt die Räume. Sie liegen neben dem Münster im ehemaligen Domherrenhaus, das die Lesegesellschaft 1830 erworben und umgebaut hat. Neugotische Stilelemente prägen das Haus, dessen Bausubstanz aus dem 16. Jahrhundert stammt. Die Bibliothek ist ein Bijou. Wer in den vieleckigen Eingangsraum eintritt, sieht durch mehrere Türen die Bücher in ihren massiven Tannenholzgestellen.
Viele Werke in den Gestellen F stammen aus den Gründungsjahren. Da stehen, gleich durch den Eingang sichtbar, viele ältere Bände – es ist wie ein Bild. Darunter finden sich die gesamten Werke von Voltaire. An den Stirnseiten der Regale kündet ein weisses Emailschild ihren Inhalt an. Die Reihe mit Voltaires Werken trägt ein grosses F und darunter „Wissenchaftliches, Gesammelte Werke, Essays“. Voltaire gegenüber entdeckt Peter August Wilhelm von Schlegels vermischte und kritische Schriften, gedruckt in Leipzig 1847. Er liebt diese alten Bücher. Gern nimmt er sie in die Hand und betrachtet ihre Machart. Da findet er buchbinderische Qualitätsarbeit. Die Rücken sind oft durch den häufigen Gebrauch etwas abgeschabt, die goldenen Lettern etwas verblichen. Zu gern wüsste er, durch wessen Hände diese Bücher gegangen sind, was für Geschichten daran hängen.
Die Gestelle sind aus starkem Tannenholz. Sie ragen sehr hoch auf. Löcher neben den Emailschildern an den Stirnseiten zeigen an, dass schon früher eine Orientierungshilfe angebracht worden war. Den Wänden entlang reichen die Gestelle fast bis zur hohen Decke hinauf. Die Bücher sind mit einer metallenen Leiter an einer Führungsstange erreichbar.
Gern setzt sich Peter mit einem Buch auf einen der Stühle, die bei den hohen Fenstern stehen. Die Sitzfläche ist geflochten, die Rückenlehne aus dickem Holz. Sie ist durchbrochen. Das Muster gleicht gotischen Fenstern. Bequem sind sie nicht, diese Stühle, aber der Blick in die Bücher, ins Mosaik der Buchrücken entschädigt für das Drücken von Lehne und Sitzfläche.
Interessant findet Peter die Fensterläden. Sie sind innen angebracht und kleiden geöffnet die Fensterlaibungen mit ihrem warmen Holzbraun aus. Werden sie geschlossen, presst ein schweres Eisenstück, das mit einer dicken Flügelschraube am Fensterrahmen festgeschraubt wird, die Holztafeln gegen das Fenster.
Natürlich gibt es auch moderne Bücher. Schliesslich schafft die Bibliothek jährlich gut 700 Werke an. Auch Hörbücher und DVDs bietet die Bibliothek an. Die Mitglieder haben massgeblichen Einfluss auf die Anschaffungen. Es liegt im Eingangsbereich ein Wunschbuch auf. Frau Wittwer, die Bibliothekarin, hat Peter auf die erste Seite dieses Buches hingewiesen. Als erster Eintrag vom 30. April 1959 findet sich als Wunsch: Iris von Roten, Frauen im Laufgitter. Das erstaunt, war die Bibliothek zu jener Zeit mehrheitlich von Männern geprägt.
Die Gestelle mit dem Buchstaben G sind mit „Vaterländisches“ beschriftet. Da ist alles versammelt, was über die Schweiz geschrieben wurde. Weil die Bücher fortlaufende Nummern tragen, stehen sie quasi ihrem Alter entsprechend in den Gestellen. Auf gut Glück durch die Gestelle wandernd, lässt sich manche Überraschung entdecken. Wer gezielt nach einem Buch sucht, der öffnet die entsprechende Schublade des Zettelkatalogs. Die Werke alle elektronisch zu erfassen, ist nicht vorgesehen. Einzig die Anschaffungen seit 1999 sind als PDF-Dateien auf der Website ((http://www.lesegesellschaft-basel.ch/index.php/angebot-fuer-mitglieder.html)) verfügbar. So lässt sich bequem von zu Hause aus im Bestand stöbern. Die Neuerscheinungen des vergangenen Jahres sind auch in einer Broschüre erhältlich.
Wenn Peter seine Lektüre gefunden hat, so geht er zur Empfangstheke, wo Frau Wittwer arbeitet. Er stellt seine Bücher zwischen die beiden Bücherstützen aus Messing, so dass die Bibliothekarin bequem die Nummern der ausgeliehenen Büchern abschreiben und in eine Liste in ihrem Computer eintragen kann. Die beiden Eulen der Buchstützen halten die Schätze geduldig, bis die Arbeit erledigt ist.