Dokumentenquelle
Michael Guggenheimer
ETH. Eidgenössische Technische Hochschule. Mit den drei Buchstaben verbindet man Studiengänge von Architektur und Biologie über Elektronik und Ingenieurwissenschaften bis hin zu Physik und Umweltnaturwissenschaften. Und dann das: Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) an der ETH. Das Institut würde man an einer Universität suchen. Und dort bestimmt an einer Philosophischen Fakultät. Die ETH ist zwar primär ein Ort der Technik und der Naturwissenschaften. Sie verfügt aber auch noch über ein Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, in der Organisationssprache der Hochschule D-Gess abgekürzt. Und gerade hier ist das Archiv für Zeitgeschichte angedockt, ein Institut, das vom Wissen an einer technisch orientierten Lehranstalt stark profitiert, ein starkes Profil hat. Diese Feststellung muss begründet werden. Nichts leichter als das: Wie die Archivbestände im Netz in einer öffentlich zugänglichen Datenbank abrufbar sind, wie Historiker und andere Interessierte erfahren können, was genau in den Beständen des AfZ vorhanden ist, kann sich mit Stolz sehen lassen. Wenige Archivbstände in der Schweiz sind so übersichtlich von aussen übers Internet einsehbar wie dasjenige des AfZ.
Die Geschichte der Schweiz der Zeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts steht im Zentrum der Arbeit des AfZ. Firmen- und Institutionsarchive bilden das Sammelgut des Archivs ebenso wie zahlreiche private Nachlässe von Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft. Und auch wenn Bücher zur Zeitgeschichte in den Büchergestellen im Haus stehen: Im Zentrum der Sammeltätigkeit des Hauses stehen Originaldokumente. Firmen wie etwa Landis & Gyr aus Zug, Dachverbände wie der Schweizerische Handels- und Industrie-Verein, der Verband Swiss Textile oder der Arbeitgeberverband der Schweizer Maschinenindustrie haben hier ihre Archive gelagert. Bücher schafft das AfZ kaum an, bloss etwa Fr. 2000.- im Jahr stehen für Neuanschaffungen in diesem Bereich mit seinen 27 000 Büchern zur Verfügung. Weshalb denn auch mehr für Bücher ausgeben, heisst es beim AfZ, wo die Zentralbibliothek Zürich kaum 200 Schritte entfernt und die ETH-Hauptbibliothek ebenfalls in Gehdistanz liegt.
Drei Fachreferate führt das AfZ, die den Sammlungsschwerpunkten der Institution dienen. Da ist das Fachreferat Politische Zeitgeschichte zur schweizerischen Innen- und Aussenpolitik sowie zur Sicherheitspolitik. Dann das Fachreferat Wirtschaft und Zeitgeschichte, dessen Aufgabe es ist, Quellenbestände der Privatwirtschaft zugänglich zu machen. Und dann die Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte.
Die Archivbestände werden dem AfZ jeweils angeboten. Ankäufe werden nicht getätigt. Dafür werden aber die neuen Bestände jeweils gesichtet, katalogisiert und fachgerecht gelagert. Der hervorragende Ruf des Archivs führt immer wieder zu Angeboten von Institutionen. Und nicht minder beachtenswert ist die Tatsache, dass Wissenschaftler aus anderen Ländern sich immer wieder beim AfZ melden, um hier Dokumente einzusehen oder nach ihnen zu verlangen, die dann elektronisch zugestellt werden. Besonderes Interesse finden die Bestände im Ausland auch deshalb, weil im AfZ Material über die NS-Zeit, über Rechtsextremismus und Revisionismus gelagert ist. Aber auch das Archiv der Schweizer Flüchtlingshilfe, Bestände zu den Ungarnflüchtlingen des Jahres 1956, so politisch unterschiedliche private Nachlässe wie derjenige des Frontistenfreundes Hektor Ammann, von Rudolf Henne, von 1934 bis 1938 Parteiführer der nazifreundlichen Nationalen Front, oder des Spanienkämpfers Hans Hutter werden hier betreut. Biografien und Presseausschnitte zu 13 500 Personen des öffentlichen Lebens der Schweiz werden im Archiv nachgeführt. So gross sind die Bestände mittlerweile, dass sie an vier Orten gelagert werden. Ein Kurier bringt je nach Bedarf die ausser Haus gelagerten Bestände zum Archivgebäude.
Ein Standbein des AFZ seit Anbeginn ist die Geschichte der Juden in der Schweiz. Kein anderer Ort in der Schweiz kann da mithalten. Die Schwerpunkte des Fachreferats für jüdische Zeitgeschichte am AfZ sind u.a. die Geschichte der Juden in der Schweiz, Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Schweiz und die Schweizerische Flüchtlingspolitik. Zum 150. Jubiläum der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) konnte 2012 nach eineinhalbjähriger Projektzeit die Erschliessung von deren Historischem Archiv abgeschlossen werden. Aber auch das Archiv des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebunds (SIG) ist hier gelagert. Das AfZ-Bildarchiv Schweizer Juden (BASJ) ist ein Projekt zur Sicherung von Fotos und Filmen zum jüdischen Leben in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Die ausgewählten Fotos und Filme werden durch Digitalisierung im Archiv für Zeitgeschichte gesichert und der Forschung zugänglich gemacht. Mehrere Buchpublikationen zur Geschichte der Juden in der Schweiz sind mittlerweile im Archiv für Zeitgeschichte verfasst worden. Wie ergänzend fügen sich da weitere Archivbestände an. So der Nachlass von Jean François Bergier, der die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg präsidierte, oder der ehemaligen Bundessrichterin Margrith Bigler-Eggenberger, des Fluchthelfers Carl Lutz. Nachlässe wichtiger Persönlichkeiten des jüdisch-schweizerischen Lebens befinden sich im Haus, die Histotiker bei ihren Forschungsarbeiten Grundlagenmaterial bieten können.
Forschungsarbeiten an den Archivbeständen können nur so gut sein und in die Tiefe gehen, wenn die Bestände möglichst lückenlos sind. Dazu heisst es beim AfZ in Zusammenhang mit dem ICZ-Archiv: „Leider ist in den meisten Bereichen aber auch eine Überlieferungslücke festzustellen. Sie umfasst die Zeit des Zweiten Weltkriegs sowie meist auch die 1950er und 1960er Jahre. Erst ab den 1970er Jahren scheint ein professionell organisiertes Sekretariat die Akten konsequent abgelegt zu haben.“
Nicht anders erging es dem Schreibenden beim Durchblättern der Archivbestände von Omanut, dem Verein zur Förderung jüdischen Kunst in der Schweiz. Grosse Lücken zeigten sich da für die Zeit der 40er und 50er Jahre. Seit jeher erfreulich modern aber erwies sich bei der Sichtung des Materials die Zusammensetzung des Vorstands dieser Vereinigung, die heute 500 Mitglieder zählt: bereits in ihrer Frühzeit, wirkten auch nicht-jüdische Personen im Vorstand von Omanut mit.
Archiv für Zeitgeschichte / AfZ
Hirschengraben 62
8092 Zürich
T: 044 632 40 03
www.afz.ethz.ch/
Gedächtnis unserer Zeit
Heinz Egger
Was machen, wenn man sich für Zeitgeschichte interessiert? Die Archive des Staates sind mit einer mindestens 50-jährigen Sperrfrist belegt. Da hilft nur, ein eigenes Archiv anzulegen. – So etwa lautet ganz kurz gesagt der Grund, dass es heute das Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) gibt. Sein Gründer Klaus Urner studierte in den 60er-Jahren Geschichte. Sein Thema war die Schweiz im zweiten Weltkrieg. Er sammelte zusammen mit Hans Rudolf Humm, was Zeitzeugen als Quellen selber besassen, vor allem auch ihre Erinnerungen, die auf Tonband aufgezeichnet worden sind. Zudem wurden Broschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte gesammelt.
Fünfzig Jahre alt ist das AfZ Ende 2016 geworden. Und es hat an Umfang und Bedeutung stark zugenommen. Heute ist das Archiv Teil des Departements für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften der ETH Zürich. Damit erhält das Archiv für seine Arbeit auch Geld vom Staat. Weitere Mittel kommen von vier Stiftungen. Die Schwerpunkte der Sammlung liegen bei Politik, Wirtschaft und Geschichte der Juden in der Schweiz. Die Bestände wachsen stetig durch Nachlässe Privater, aber auch von Institutionen. Als Kompetenzzentrum für Projekte der „Oral History“, also mündliche Aufzeichnungen von Zeitzeugen, und dem herausragenden Bestand ist das AfZ ein erstrangiges Zentrum für Zeitgeschichte geworden.
Heute ist das AfZ im renovierten, historischen Gebäude am Hirschengraben 62 einquartiert. Wer ins Haus eintritt, steht in einem hellen Empfangsraum. Der Wand entlang wird man in verschiedenen Sprachen willkommen geheissen. Rechts stehen Garderobenschränke für die Nutzerinnen und Nutzer des Archivs, geradeaus die Reception, links der kleine Lesesaal. Das Archiv lehnt seine Bestände nicht aus. Alles muss bestellt und zum Studium in den Leseaal getragen werden. Vier bis fünf Personen besuchen das Archiv täglich, um an ihren Projekten zu arbeiten.
Richtig spannend wird ein Besuch in den „heiligen“ Hallen, wo all die Schätze lagern. Buchort gibt Michael Schaer, der Leiter des Benutzungsdienstes, einen Einblick in die Bestände.
Die Augen bleiben weit offen, wenn man in die Archivgestelle hineinschaut. Da sind reihenweise Bücher aus der rechtextremen Szene, Dutzende Bände von Autoren, die den geschichtlichen Fakten zum Zweiten Weltkrieg ihre revisionistische Sichtweise entgegenhalten. Da sind persönliche Nachlässe beispielsweise von Hans Hutter, dem ehemaligen Spanienkämpfer oder von ehemaligen Frontisten, da lagern die Ausgaben der „Front“, oder des „Grenzboten“, beides Zeitungen der Frontisten. Der „Nebelspalter liegt in all seinen Ausgaben vor. Es ist ein Glück, dass der ganze Nachlass des Karikaturisten und Zeichners Karl Böckli, der über Jahre seine politischen Karikaturen im Nebelspalter hatte, ebenfalls im Archiv vorliegen. Auch der Nachlass des Karikaturisten Hans U. Steger ist im Archiv verwahrt.
Das AfZ führt eine ausgedehnte biographische Sammlung. Täglich sieht eine Person die Zeitungen durch, um Berichte über die etwa 13‘000 Personen in der Sammlung zu suchen und Fundstücke in den Schubladen mit den zahllosen Mäppchen abzulegen. Von einigen Personen gibt es bloss ein dünnes Dossier, die Sammlung über andere füllt hingegen Schubladen.
Bis 2008 wurden auch politische Themen observiert und aus den Printmedien herausgeschnitten. Heute sind diese Artikel einfacher über die Schweizerische Mediendatenbank abzurufen.
Für die Anlieferung neuer Materialien ist eine kleine Werkstatt eingerichtet. Dort wird alles gesichtet, sortiert und auf Schimmel überprüft. Gar oft lagerte das Gut an staubigen, oft schlecht belüfteten Orten, deshalb hat die Werkstatt eine Haube mit Abzug, unter der Staub weggeblasen werden kann.
Nicht alle Archivalien können am Hirschengraben 62 aufbewahrt werden. Im Moment gibt es noch vier Depots, zu denen einmal pro Tag ein Auto hinfährt um die bestellten Dokumente zu holen oder zurückzubringen. An der Leonhardstrasse entstanden neue, eigene Räume, die den Inhalt der Aussenstellen aufnehmen soll. Es sind etwa 4000 Laufmeter, die dafür nötig sind. Dies entspricht laut Michael Schaer einem mittleren Archiv. Alles, was digitalisiert worden ist, wandert selbstredend ins Aussendepot.
Das AfZ engagiert sich sehr stark in der Diskussion um die Digitalisierung und der Aufbewahrung von Digitalisaten. Künftig werden wohl vermehrt CDs, DVDs, Festplatten und USB-Speicher zu den eingereichten Beständen gehören. Etwa 15% des Archivguts sind bereits digitalisiert. Das sind über vier Millionen Seiten. Die Digitalisierung wurde wesentlich mit finanzieller Unterstützung durch das Holocaust-Museum in Washington vorangetrieben. Ziel des Museums war, eine digitale Kopie der bedeutenden Zürcher Bestände zur jüdischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg zu haben. Der grösste Teil der digitalisierten Dokumente ist öffentlich zugänglich, was aus rechtlichen Gründen nicht online sein kann, ist im Lesesaal verfügbar. Für einige Dokumente ist für die Einsicht eine Bewilligung von den Familien der Vor- oder Nachlasser nötig.
Heute, so sagt Michael Schaer, sei die Digitalisierung ein sehr wichtiges Thema, denn was nicht im Netz sichtbar sei, existiere gar nicht. Dies dürfte vor allem für Studentinnen und Studenten im Grundstudium gelten. Diese Besuchergruppe schrumpft denn auch stark. Hingegen nimmt jene Zahl der Personen, die eine Dissertation oder Habilitation verfassen, stetig zu.