Alles über La Val Müstair
Michael Guggenheimer
August 2015. Es ist sein allerletzter Arbeitstag. Morgen geht er in Rente. Der morgige Tag wird aber auch ein erster Arbeitstag sein. Hans-Peter Schreich, geboren im deutschen Oldenburg, aufgewachsen in Köln, Studium in Basel, lebt seit vierzig Jahren im Val Müstair. Man muss schon genau hinhören, um zu erkennen, dass er nicht aus der Schweiz stammt. Kurz vor seinem 65. Geburtstag ist er von seinem Amt als evangelischer Pfarrer der Talschaft zurückgetreten. Ein Tag später begann eine neue Zeit: Die Biblioteca Jaura in Valchava, die er seit 30 Jahren nebenamtlich und doch sehr intensiv betreut, wird von nun an seine ganze Aufmerksamkeit erhalten. Es ist eine Einmann-Bibliothek, gegründet von Tista Murk, dem Bündner Radiopionier und ehemaligen Direktor der Schweizerischen Volksbibliotheken. 5000 Bücher umfasst die Bibliothek, die im Saal des ehemaligen Gemeindehaus von Valchava untergebracht ist. Als sich die fünf Gemeinden des Tals zu einer einzigen Verwaltungseinheit schlossen, konnte die Bibliothek aus ihrem beengten Domizil im Ausstellungsraum des Museums Chasa Jaura ins Gemeindehaus umziehen. Pfarrer Schreich, ehrenamtlicher Bibliothekar, hat damals neue Bücherschränke in hellem Arvenholz und Schauvitrinen einrichten lassen, die Bibliothek war lange sein zweiter Wirkungsort, dem er jetzt noch mehr Zeit widmen wird. Gewissermassen als Beweis für die neue Zeit hat ihm die Gemeinde ein zusätzliches Büro im ehemaligen Gemeindehaus zur Verfügung gestellt, wo er seine Studien fortsetzt.
Der ehemalige Pfarrer spricht fliessend die Sprache des Tals. Man erzählt sich, dass er drei Wochen nach Antritt seiner Pfarrstelle bereits eine Predigt in Romanisch gehalten habe. Schreich ist im Tal verwurzelt, eine Rückkehr in den Norden Deutschlands hat er nie erwogen. Er ist froh darüber, einen Ruf an eine andere Kirchgemeinde doch nicht angenommen zu haben. Und er ist heute wohl einer der besten Kenner der Talschaft. Aufsätze zur Geschichte des Münstertals, zur Wirtschaft und zur Auswanderung aus dem Tal, zu dessen Entvölkerung und zur Literatur hat er verfasst. Er hat Bücher über die Region, in der die drei Sprachen Rätoromanisch, Deutsch und Italienisch zusammenkommen, geschrieben und lektoriert. Er hat Texte vom Rätoromanischen ins Deutsche und umgekehrt übersetzt. Das Geld, das er vom Verkauf selbstverfasster religionspädagogischer Schriften für Kinder und Jugendliche oder vom Absatz seiner Regionalbücher eingenommen hat, hat er immer wieder in die Bibliothek gesteckt, deren Bedeutung im Tal jedoch kaum wahrgenommen wird.
Die Biblioteca Jaura ist die Dokumentationsbibliothek über sämtliche Aspekte des Val Müstair und der rätoromanischen Sprache. Wer ein Buch über das Tal plant, schaut hier vorbei. Fotografien, Stammbäume, Gräberverzeichnisse gehören ebenso zum Sammelgut der Bibliothek, die Teil des örtlichen Museums ist, ohne aber Geldmittel vom ohnehin finanziell eng dotierten Museumsverein zu erhalten. Weder der Kanton Graubünden noch die Gemeinde tragen zum Budget der Bibliothek bei, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia hat der Bibliothek in all den Jahren ein einziges Mal Geld gegeben. Freunde des Museums und der Bibliothek haben auch schon zaghaft einen Weg aufgezeigt, wie beiden finanziell geholfen werden könnte: Längst vergessen sind nämlich Kunstschätze, die dem Museum gehören und seit Jahrzehnten nicht gezeigt werden. Die Homepage des Museums deutet es an: „Der Kunstsammler Erich Valär (1907-1980) verliebte sich bei einer Durchreise in die Val Müstair und schenkte 1977 seine über 150 Gemälde und Skulpturen – u. a. von Marc Chagall, Ernst Barlach, Otto Dix, Käthe Kollwitz – der Chasa Jaura. Die Werke werden für öffentliche und private Räumlichkeiten ausgeliehen und in loser Folge auch in der Chasa Jaura gezeigt.“. Die nicht versicherten Kunstobjekte liessen sich für Museum und Bibliothek einsetzen, heisst es bei Vereinsmitgliedern unter vorgehaltener Hand.
„Hier findet man alles zum Tal“ erzählt Schreich. „Als Studien an der ETH über die Landwirtschaft im Val Müstair gemacht wurden, wurde die Fotosammlung der Bibliothek konsultiert. Auf alten Bildern konnte man nämlich genau sehen, wie früher hier Landwirtschaft betrieben wurde.“ Mit Bibliotheken in Chur, Innsbruck, Bozen, Brixen und Sondrio besteht ein reger Kontakt, werden Bücher und Informationen ausgetauscht, weil sich der rätoromanische Sprachraum mit seinen verschiedenen Idiomen auch über die Grenzen der Schweiz hinaus nach Österreich und Italien erstreckt. Historiker, Geographen, Stammbaumforscher, Studierende, Maturanden und Medienschaffende gehören zu den Besuchern und Benutzern der Bibliothek. Und sie kommen von weither wie zum Beispiel eine Doktorandin aus Mailand, ein Familienforscher aus München mit Vorfahren aus dem Münstertal, ein Enzyklopädist und Sprachforscher aus Grenoble oder ein Historiker auf der Suche nach Informationen über Luthers Zeitgenossen und Gegenspieler Lemnius Rhaeticus aus den USA.
Vor hundert Jahren ist Tista Murk geboren worden, der den Grundstein der Bibliothek gelegt hat. „Eine Zeitlang war er Bibliothekar an der Kantonsbibliothek Graubünden in Chur. Er sammelte privat alles, was mit der Raetoromania und mit dem Münstertal zu tun hatte“, sagt Hans- Peter Schreich. Murk war Mitbegründer und erster Präsident des Rätoromanischen Schriftstellervereins, Redaktor der Münstertaler Zeitschrift „Il Giuven Jauer“, Verfasser von zahlreichen Theaterstücken, die er auch inszeniert hat. Damit die Theaterstücke allen Interessierten und den Laientruppen zur Verfügung stehen, gründete er 1950 den Theaterverlag La Scena. Die Reihe umfasst 85 Titel und wird heute von der Lia Rumantscha betreut. Tista Murk, nach dem die im Jahr 2015 eröffnete Bibliothek der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften in Winterthur bekannt ist, hat seine Bibliothek dem Museum in Valchava geschenkt. Jedes Jahr erstattet Bibliothekar Schreich der Hauptversammlung des Trägervereins des Museums in romanischer Sprache Bericht über die Aktivitäten der Bibliothek. Und jedes Jahr stellt er in seinem schriftlichen Rapport neue Bücher vor, die mit den Sammelgebieten der Bibliothek zusammenhängen. In diesem Jahr sind in den Ausstellungsvitrinen der Bibliothek Zeugnisse aus dem Leben von Tista Murk zu sehen. Auf die Frage, wie man nun denn den Namen des Tals korrekt sagen soll, gibt der Bibliothekar zur Auskunft: Das Val Müstair oder die Val Müstair. Val auf Rätoromanisch ist weiblich, das Tal in deutscher Sprache ist sächlich. Beide Varianten sind somit richtig.
Biblioteca Jaura
Chasa cumünala
7525 Valchava
T: 081 858 61 19
bibliotecajaura@bluewin.ch
Eu und jau
Heinz Egger
Um zehn habe ich mit Jon Depeder abgemacht. Er ist einer der wenigen Münstertaler Talbewohner, die noch das ganze Jahr in dem weiten, ausserordentlich schönen Hochtal jenseits des Ofenpasses wohnen. Seit 2084 die Talschaft ganz zum Schweizer Nationalpark geschlagen worden ist, sind die meisten weggezogen, da kein Einkommen mehr zu erzielen war.
Er ist geblieben, weil er als Park-Guide ein kleines Einkommen hat. Die langen Wintermonate geben ihm Gelegenheit, seinen Interessen nachzugehen. Im einstigen Gemeindehaus, der Chasa comünala, befindet sich eine Bibliothek. Dort verbringt er seine Tage und oft auch die Abende.
Er öffnet die Türe und wir steigen in den ersten Stock hinauf. Dort steckt er einen zweiten, altertümlichen Zylinderschlossschlüssel ins Schloss und sperrt die Türe auf. Herrlicher Duft nach Arvenholz empfängt uns. Durch die Fenster bricht das Sonnenlicht und taucht den Raum in eine angenehme Helligkeit. Ein grosser, massiver Tisch nimmt fast die ganze Querseite des Raums ein. Stabellen – Stühle mit vier schräg eingesetzten Beinen und schön geformter, gerader Rückenlehne, aus der jeweils ein Herz ausgesägt worden ist – stehen um den Tisch. Sie sind vom Alter dunkel geworden. Es sitzt sich sehr bequem darauf. An diesem Tisch haben ehedem die Gemeinderäte getagt.
Der Raum ist ganz mit Kästen aus Arvenholz ausgekleidet. Jeder Quadratzentimeter ist genutzt. Selbst über der Türe befinden sich zwei sehr niedrige davon. Und jedes Türchen und jede Türe trägt ein Schloss. Keines der Türchen ist angeschrieben.
Die Wand hinter dem Tisch ist zudem von einer langen Vitrine durchbrochen. Sie liegt auf Augenhöhe, wenn man am Tisch sitzt. Darin stehen Werke von und über Tista Murk.
„Wer war dieser Mann mit dem markigen Namen?“ Jon fährt mit seinen Fingern durch seinen wilden, langen Bart und antwortet: „Tischta heisst er zum Vornamen, ja Tischta, die Kurzform von Battista. Ah, der war ein spezieller Typ. Er wurde im Münstertal als 15. Kind geboren. Das war 1915. Er tanzte auf vielen Hochzeiten. Für mich ist er wichtig, weil er den Grundstein für diese Dokumentationsbibliothek gelegt hat. Er nannte sie Bibliotheca Jaura. Er war nach seinen Studien Bibliothekar an der Kantonsbibliothek Chur. Dort begann er auch Bücher zu sammeln. Speziell interessierte ihn das Münstertal, seine Geschichte, die Leute und die Sprache. Bei der Sprache ging er weit über seine Muttersprache, das Jaurische, hinaus. Er sprach auch fliessend Vallader, das Romanisch im Engadin, und Sursilvan, das Romanisch des Vorderrheintals. Er sammelte alles über das Romanische Graubündens, aber auch des angrenzenden Südtirols. Er übersetzte und schrieb Theaterstücke, führte da auch gleich Regie. Er dichtete gern. Seine erste Anthologie “Prüms prüis” erschien 1945. Es sind Liebesgedichte, die offen über die Liebe reden, was nicht allen gefallen hat. Es war eine Art Tabubruch in dem Gebirgstal. Bedeutend war er aber auch für das rätoromanisch Radio, weniger fürs Fernsehen.
Diese Bibliothek gründete Tista Murk 1984. Später kamen bedeutende Bestände der Schriftstellerin Chatrina Filli und dem Zürcher Romanisten Professor Heinrich Schmid dazu. Dieser entwickelte als Schriftsprache für den ganzen Kanton das Rumantsch Grischun.“
Wie viele Bände umfasst die Bibliothek? – Es sind über 5000. Im Weiteren gibt es 150 Tonträger, etwa 1500 Dias und 40 Videos. Diesen grossen Bestand verdanken wir einem umsichtig als Bibiliothekar wirkenden Pfarrers. Hans-Peter Schreich hat die Bibliothek ausgebaut und ihr auch das jetzige Heim vermittelt. Er hat den Katalog vervollständigt und ihn digitalisiert. Zugänglich ist all das wertvolle Material allerdings nur hier. Es war nie Geld da, wenigstens die wichtigen Teile davon zu digitalisieren und so einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Was gibt es denn für Perlen in der Sammlung? – Viele. Hier habe ich ein kleines Büchlein von 1788. Eine Anleitung zum Lernen des Buchstabierens und Lesens. Gemacht für das Tal und die Gemeinde Müstair. Oder hier ein handgeschriebenes Wörterbuch Romanisch – Lateinisch – Deutsch von 1759. Der schon genannte Hans-Peter Schreich hat selber auch Bücher herausgegeben. Zwei Bände mit Sagen und Legenden aus dem Münstertal. Diese Bücher sind interessant, weil sie zweisprachig sind: Deutsch und Rumantsch Grischun. Hier ist eine Sammlung von Geschichten und Gedichten von William Wolfensberger. Das Buch entstand ebenfalls unter der Führung von Pfarrer Schreich. Wiederum zweisprachig. Wolfensberger war am Anfang des 20. Jahrhunderts Pfarrer hier. Er schrieb Geschichten mit christlichem Hintergrund. Ergreifende Geschichten. Er war aber weniger der Prediger in seinen Texten als beispielsweise der viel berühmtere Albert Bitzius, oder Jeremias Gotthelf mit seinem Dichternamen. Er kritisierte mit den Geschichten die Zustände. Er schrieb Begebenheiten mit geänderten Namen. Die Kritisierten haben sich aber schon erkannt. Weil er aber zur Sanierung der Gemeindefinanzen eine Steuer vorschlug, die die Reichen mehr belastete als die Armen, brandete ihm heftige Abwehr entgegen. Das führte dazu, dass er das Tal verlassen musste. Er starb 1918 mit 30 Jahren an der Spanischen Grippe.
Wie unterscheidet sich das Romanisch des Münstertals von den anderen Idiomen? – Ich bin nicht Philologe. Das kann ich nicht beantworten. Im Münstertal spricht man Jauer. Das ist eigentlich ein Schimpfwort. Die Engadiner sagen für ich eu. Die Münstertaler jau. So bezeichnet Jauer all jene, die nicht recht Ich sagen können.
Bibliographie:
Hans-Peter Schreich-Stuppan, Die historischen Grabsteine des Friedhofs von Sta. Maria V. M., Separatdruck aus Annalas 118/2005
Hans-Peter Schreich-Stuppan, Geheimnisvolles Münstertal in Sagen und Legenden / La Val Müstair misteriusa in sias dittas e legendas, Bibliotheca Jaura, Valchava 2004
Hans-Peter Schreich-Stuppan, Weitere Sagen und Legenden aus dem Münstertal / Ultriuras ditgas e legendas da la Val Müstair, Bibliotheca Jaura, Valchava 2013
Hans-Peter Schreich-Stuppan (Hrsg.), William Wolfensberger, Geschichten und Gedichte aus dem Münstertal / Istorgias e Poesias da la Val Müstair, Bibliotheca Jaura, Valchava 2005
Ein paar kurze Dankesworte für Ihre Gedanken über mein Heimattal, geboren am 2.1.1947 in Müstair. Spreche und schreibe noch immer Romanisch – abgesehen von meinen anderen Sprachen: Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch – in diesen 5 Sprachen denke ich auch, aber ich kommuniziere auch auf Katalanisch, Chinesisch, Italienisch und Schwedisch. Müstair hat für mich grundsätzlich das Wichtigste in meinem Leben bewirkt (Sprachen und Musik), werde immer dankbar dafür bleiben. Mein Vater war Luzerner, aber meine Mutter Müstairerin.
Sehr interessante Berichte! Bravo!
Schöne Grüsse aus Orbe/VD – Hans Schwegler
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