Schatzkammern
Michael Guggenheimer
Touristen in Amsterdam kennen an der Rokin genannten Strasse die Reederei Kooj mit ihren niedrigen Grachtenbooten sowie an der Nieuwe Doelenstraat das Grandcafé de Jaren. Wenn sie entlang der richtigen (und schöneren) Seite des Kanals von der Rundfahrtreederei zum berühmten Café auf dem Oude Turfmarkt benannten Ufer gehen, kommen sie an einem grossen Gebäude vorbei, das zu einem der Höhepunkte der Amsterdamer Kulturinstitutionen gehört. „Bijzondere Collecties“ steht an der Hausfassade in grossen Lettern aus Metall geschrieben, zu deutsch: „Besondere Sammlungen“. Das Gebäude, Teil der Amsterdamer Universität, birgt mehrere Schatzkammern, deren Besuch sich für Bücherfreunde mehr als lohnt.
Die „Bijzondere Collecties“ bergen rund tausend Teilsammlungen seltener und kostbarer Bücher, Manuskripte, Stiche, Fotografien, Landkarten und Globen. Renommierte Sammlungen auf dem Gebiet der Buchgeschichte, der Kirchengeschichte, der jüdischen Kultur, der niederländischen Sozialgeschichte, der Kartographie, der Zoologie, der Literaturgeschichte, Typografie, Kartographie und grafischen Gestaltung verleihen der Institution einen besonderen Rang unter den europäischen Bibliotheken. Seit 2007 befinden sich die „Bijzondere Collecties“ in einem Gebäudeensemble mit schönen historischen Giebeln, hinter denen in einer zweiten Schicht geschmackvolle moderne Räume mit klimatisierten Magazinen, Werkstätten, Handbibliotheken und einem Ausstellungsbereich sowie einem Café befinden. Den Umbau, der historische und moderne Architektur gekonnt vereint, hat das Amsterdamer Architekturbüro Evelyne Merkx und Patrice Girod geplant, das bereits in Maastricht die Buchhandlung Dominicanen verantwortet hat. Wer keine Zeit findet, die schöne Ausstellung des Hauses oder einzelne Sammlungen zu besuchen, der begebe sich unbedingt zum Shop, wo in der Buchhandlung Nijhof & Lee – Bücher zu Typografie, Graphic Design und Buchgeschichte angeboten werden, die man sonst mühsam in diversen Spezialbuchläden zusammensuchen muss.
Eine der Schatzkammern des Hauses ist die Bibliotheca Rosenthaliana, sie umfasst eine einmalige Sammlung jüdischer Bücher. Der Grundstock der Rosenthaliana wurde durch den Hannoveraner Rabbiner Leeser Rosenthal (1794 -1868) gelegt, der nach seinem Tod 6.000 Bücher hinterlassen hat. Rosenthal hatte einzigartige und wichtige Hebraica en Judaica auf den Gebieten der Religion, Philosophie, Literatur, Liturgie, Mystik und der Geschichte des Judentums gesammelt. Und anders als andere Sammler gab er Zeit seines Lebens Interessierten Rabbinern und Forschern Einblick in seine Sammlung. Schon zu seinen Lebzeiten war seine Bibliothek die wichtigste ihrer Art in Deutschland. Im Jahr 1880 haben seine Nachfahren die Bibliothek der Stadt Amsterdam geschenkt.
Die Rosenthaliana entwickelte sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu einer Bibliothek des Judentums in all den Sprachen, in denen Juden geschrieben haben. Heute umfasst die Rosenthaliana 120 000 Bände, darunter wertvolle und seltene Drucke ab dem 15. Jahrhundert und Manuskripte ab dem 13. Jahrhundert. Teil der Sammlung ist ein Bestand mit dem Namen „Pekidim und Amarkalim“, zu Deutsch „die Beamten und Schatzbewahrer“. Diese bildeten eine internationale Organisation deren Ziel es war, die Unterstützung armer Juden in Palästina zu koordinieren. Die Organisation unterhielt enge Kontakte mit den Führern der jüdischen Gemeinschaften in den Städten Jerusalem, Hebron, Safed und Tiberias. Das Archiv „Pekidim und Amarkalim“, das Briefe aus Palästina umfasst, gilt als eine wichtige Quelle für die Erforschung der jüdischen Besiedlung Palästinas in der Neuzeit. Einzigartig aber auch jene Teilsammlung mit dem Namen Alfonso Cassuto. Diese Sammlung sefardischer Handschriften und Drucke des Portugiesischen Sammlers Alfonso Cassuto umfasst wichtige Dokumente zur spanischen Inquisition und der Verfolgung der Juden in Spanien.
Während der deutschen Besatzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg wurde die Bibliothek 1941 geschlossen und drei Jahre später ihrer Bestände beraubt. Mitarbeiter der Bibliothek konnten noch eine Anzahl kostbarer Bücher vor den Deutschen in der Bibliothek des Amsterdamer Zoologischen Gartens „Artis“ sowie in Schutzräumen in den Dünen an der Nordseeküste verstecken und sie so vor der Konfiszierung retten. Dennoch wurde ein grosser Bestand von den Besatzern 1944 nach Deutschland abtransportiert. Nach dem Krieg wurden die von den Nazis geraubten Bestände der Sammlung in Offenbach gefunden und nach Amsterdam zurückgebracht. Die Bibliotheca Rosenthaliana gilt heute als die bedeutendste Sammlung illustrierter jüdischer Handschriften, Inkunabeln und Drucke Europas. Wer sich mit der Geschichte des niederländischen und sephardischen Judentums und mit der Geschichte des europäischen Judentums überhaupt oder des jüdischen Buches wissenschaftlich befasst, kommt an der Rosenthaliana kaum vorbei. Rachel Boertjens, Leiterin der Rosenthaliana, zeigt angemeldeten Gruppen jeweils Schätze aus den Beständen. So eine Amterdamer Haggada aus dem Jahr 1738, die in einer Auflage von bloss 15 Exemplaren gedruckt wurde. Oder eine handgeschriebene Haggadah aus dem Jahr 1751 sowie eine hebräische Landkarte Palästinas aus dem Jahr 1695, auch sie in Amsterdam verfertigt sowie eine Estherrolle aus dem 18. Jahrhundert, die gerade das Interesse der polnischen Wissenschaftlerin Dagmara Budzioch findet, die seit acht Jahren an einer grossen wissenschaftlichen Publikation über historische und besonders wertvolle Estherrollen arbeitet.
Universiteit van Amsterdam
Bijzondere Collecties
Bibliotheca Rosenthaliana
Oude Turfmarkt 129
1012 GC Amsterdam
T. 0031 20 525 7300
http://bijzonderecollecties.uva.nl
Bibliophilie pur
Heinz Egger
Im modernen Eingang spiegeln sich die Häuser auf der anderen Seite des Wassers. Am Oude Turfmarkt findet man eine Perle für alle Buchliebhaber. Leeser Rosenthal hinterliess, als er 1868 starb, eine der bedeutendsten privaten Sammlungen von Judaica und Hebraica. 5200 Titel in über 6000 Bänden sind es, die 1880 durch die nach Amsterdam gezogene Familie der damaligen Stadtbibliothek übergeben wurden. Heute ist die Sammlung Teil der Universitätsbibliothek von Amsterdam. Damit ist sie öffentlich zugänglich, was ganz dem Geist des Sammlers entspricht. Er selber war ein Mäzen – das Vermögen stammte allerdings von seiner Frau. Er gab schon zu seiner Zeit Interessierten Zugang zu den Schriften, die er sorgfältig auswählte. Heute schauen sich vor allem Studierende aus den Niederlanden, Israel und den USA, Frankreich, Spanien und Italien die Schätze an.
Die Bibliotheca Rosenthaliana ist im Auftrag und mit Unterstützung der schenkenden Familie bis zum Ersten Weltkrieg weiter ergänzt worden. Auch heute wird die Bibliothek erweitert. Allerdings erlaubt das kleine Budget nicht, einfach einzukaufen, denn die Preise für die passenden Raritäten sind enorm hoch. So kommen heute vor allem Schenkungen dazu oder Ankäufe nach einem Fundraising.
Katalogisiert wurde die Bibliothek ein erstes Mal durch Meijer Roest. Er war gleichzeitig auch ihr erster Kurator, als die Familie die Bibliothek als Ganzes veräussern wollte. Roests Arbeit fusst auf den Aufzeichnungen von Leeser Rosenthal, der seine Erwerbungen sauber dokumentierte hat. Die beiden Bände von Roest wurden um 1960 gar nachgedruckt.
Seit 2003 arbeitet Rachel Bortjens in der Bibliotheca Rosenthaliana. Sie begann nach dem Studium der Judaistik als Mitarbeiterin bei der Katalogisierung. Diese dauert bis heute an!
Rachel Boertjens ist heute Kuratorin der Bibliotheca Rosenthaliana. Sie zeigt auf ihrer Führung für buchort und eine Doktorandin aus Polen einige Schätze. Auf einem Wagen sind die dicken Bücher aufgeschichtet. Eines nach dem anderen hebt sie auf die Sandkissen auf dem grossen Tisch im Lesesaal der Rosenthaliana, schlägt es auf und beginnt zu erklären. Dabei hat sie ein Konzept. Sie zeigt uns die Entwicklung von der Handschrift zum gedruckten Buch und wie sich die Drucker gegenseitig ihre schönen Sujets abkupferten. Es ist eine unglaublich spannende Zeitreise!
Wegen eines der Prunkstücke der Sammlung ist die polnische Doktorandin Dagmara Budzioch angereist: eine Estherrolle. Auf solchen Rollen ist die Geschichte von Esther aufgeschrieben. Esther hat die Juden im persischen Reich vor ihrer Vernichtung gerettet. Sie überführt Hanan, den Rädelsführer. Die Geschichte, die aus zehn Kapiteln besteht (siehe www.bibleserver.com/text/EU/Esther1) wird jeweils am Purim-Fest gelesen. Der Text ist wie bei religiösen Schriften der Juden von Hand auf Pergament geschrieben. Die Teile sind aneinandergenäht und auf einen Stab gerollt. Anders als bei der Tora, ist es bei Estherrollen gewöhnlich nur einer. Dafür steckt die Rolle oft in einer kunstvoll gestalteten Hülse aus Edelholz, Elfenbein, Silber oder seltener Gold.
Im 16. Jahrhundert fanden verzierte und illustrierte Estherrollen weite Verbreitung. Das Exemplar der Rosenthaliana stammt aus dem 18. Jahrhundert. Ob es in Deutschland oder Venedig entstanden ist, ist unsicher. Die Verzierung dieser Rolle ist gedruckt. Es handelt sich um eine sogenannte Ha-melech-Rolle, bei der jede Textspalte mit dem Wort ha-melech, der König, beginnt. Obwohl das Wort Gott in der gesamten Esthergeschichte nicht expressis verbis vorkommt, spielt ha-melech auf den «König der Könige» an.
Aneinandergereiht ergeben die Pergamentstücke einen über drei Meter langen Streifen. Die Estherrolle der Bibliotheca Rosenthaliana ist allerdings flach, weil sie längere Zeit hinter Glas gezeigt worden ist. So legen denn Rachel Boertjens und die Doktorandin die Pergamentblätter vorsichtig wieder übereinander und und verstauten sie mit Seidenpapier zwischen den Lagen in einer stabilen Aufbewahrungsschachtel.
Zum Schluss treffen wir uns in einem Sitzungszimmer. Als schlichter Schmuck steht dort ein sehr alter Kasten, Athiaskastje genannt, auf einem Tischchen. Athias war eine berühmte Druckerfamilie im 17. und 18. Jahrhundert in Amsterdam. Für uns öffnet Rachel Boertjens die schweren Flügeltüren: Auf 35 Schubladen verteilt findet sich darin das, was Gutenberg erfunden hat. Es sind die notwendigen Geräte, um die beweglichen Lettern herzustellen. Aus Stahl hergestellte Patrizen mit dem hebräischen Alphabet und Matrizen – Messingstäbe, in die die Patrizen eingeschlagen wurden – auch ein Giessgerät ist da. Die Schriftsätze kamen in den 1970er Jahre von einer Druckerei in die Sammlung. Leider sind die Bestände nicht historisch aufgearbeitet. Es wäre eine Arbeit für einen Studenten, meint Rachel Boertjens.
Quellen:
Einige im Text angegebene Informationen zu Estherrollen stammen aus dem Katalog zur Ausstellung „Schöne Seiten. Jüdische Schriftkultur aus der Braginsky Collection“ im Landesmuseum, 1. Auflage, Verlag Scheidegger & Spiess AG, 8001 Zürich, isbn 978-3-85881-332-9
Mehr über die Familie Athias auf Englisch bietet www.jewishencyclopedia.com