Grundversorgung
Michael Guggenheimer
Die Zeit ist im Zürcher Stadtteil Wollishofen stehen geblieben. Präziser noch: Die Zeit ist in der Bibliothek der Lesegesellschaft Wollishofen stehen geblieben. Gemeint ist nicht das Angebot an Büchern. Zeitgenossen und Bestseller sind in der Bibliothek reichlich vorhanden. Man denkt an die alten Tea Rooms. Eines nach dem anderen verschwinden sie leider, das Mobiliar, das lange gedient hat, wird ersetzt. Tea Rooms von früher bekommen neue Namen mit einem modernen Sound. Der Charme von früher weicht neuem Geschmack. Und wenn man Glück hat, kann man in manchen modernisierten Cafés wunderbar heisse Schokolade trinken. Eben, so wie früher im alten Tea Room.
Es ergeht manchen Bibliotheken nicht anders. Der Auftritt wird modernisiert, neue Büchergestelle müssen her, eine neue Präsentation der Bücher wird eingeführt, aus der Bibliothek wird eine Mediathek. Nicht so in Wollishofen, wo vor 220 Jahren eine Gruppe von Bürgern mit gut zürcherischen Familiennamen wie Schwarzenbach, Schreiber, Bleuler und Honegger eine „Bürgerliche Private-Gesellschaft zu Wollishofen“ gegründet haben, die Wissen und Geselligkeit verbreiten sollte. Etwa zwanzig Jahre später eröffnete die Gesellschaft eine Bibliothek, die heute noch existiert und im evangelischen Kirchgemeindehaus untergebracht ist. Die Geschichte von Verein und Bibliothek ist in den Räumen der Bibliothek nachzulesen.
Räume? Nein, keineswegs. Die ganze Bibliothek mit ihren 7000 Medien findet in einem einzigen Raum Platz. Ein breiter Arbeitstisch für die Bibliothekarin, zwei Tische, auf denen die Novitäten präsentiert werden. Ein Tisch für Besucherinnen und Besucher, die sich in ein Buch einlesen oder in der Bibliothek ein Thema bearbeiten wollen. Obschon. Die Bibliothek zu Wollishofen ist keine wissenschaftliche Bibliothek. Und es ist kaum anzunehmen, dass jemand auf die Idee kommen könnte, hier an einer Studie zu arbeiten. Es sei denn, man habe die Absicht, die Besucherinnen und Besucher der Bibliothek zu beobachten und zu beschreiben. Büchergestelle mit hohen Metallstangen den Wänden entlang und quer im Raum, Bücher in den hohen Schränken. So gross sind anderswo Klassenzimmer. Bücher von Ulla Hahn, Jonathan Safran Foer, Sibylle Berg, Klara Obermüller, Christoph Ransmayr, David Albahari liegen auf dem Tisch mit den Neuerscheinungen. Es ist eindeutig eine belletristische Bibliothek, auch wenn Sachbücher in den Gestellen stehen. Es ist die kleinste Bibliothek, die buchort.ch bis jetzt aufgesucht hat. Eine Bibliothek mit Charme, ein Ort, wo man sich kennt, sich begegnet.
Kinder- und Jugendbücher warten in eigenen Bereichen auf junge Leserinnen und Leser. Sie sind nach Altersgruppen eingeordnet. Und die Kinder kommen, auch wenn hier keine Playstations, kein Bildschirm mit Internetanschluss den Besuchern zur Verfügung stehen. Eine kleine Abteilung heisst „Klassiker“. Jane Austen, Charles Dickens, Carl Zuckmayer, Rilke und C.F. Meyer warten hier auf Leser. Gut dotiert ist der Bereich der Biografien, er reicht von Aynan Hirsi Ali bis zu Bruno Zauddin. Politiker von Alfred Escher über David Ben Gurion bis zu Tony Blair blicken einen von Buchumschlägen her an. Andere Bereiche der kleinen Bibliothek heissen Sterben / Tod, Medizin, Psychologie, Alter, Frauen, Reiseberichte. Eine Bibliothek, die der Grundversorgung der Einwohner mit gutem Lesestoff dient. So wie der kleine Tante Emma Laden an der Strassenecke von einst. Ebenso sympathisch mit persönlicher Bedienung. Alles kann sich hier nicht finden lassen. Wer intensiv liest, wer stets das Neue und Neuste lesen will, dem stehen in der Stadt grössere Bibliotheken mit grösserem Bucherangebot zur Verfügung.
Bibliothekarin Victoria Maxon ist erst seit einigen Monaten an der Arbeit, noch wird sie von Trudi Heim eingeführt und begleitet , die 14 Jahre lang die Bibliothek betreut hat. Maxon ist Amerikanerin, kommt beruflich aus der IT-Welt und verwaltet eine Bibliothek, die noch mit Karteikarten funktioniert. Lange wird hier das Zeitalter der Listen und Karteikarten wohl kaum mehr dauern. Und irgendwann wird wohl auch eine eigene Homepage im Netz auftauchen.
An zwei Nachmittagen pro Woche ist die Bibliothek geöffnet. Während den Schulferien bleibt sie geschlossen. Mütter mit ihren Kindern gehören zu den treuen Besuchern der Bibliothek. Aber auch Pensionierte holen sich hier ihren Lesestoff. Seit 1960 ist die Bibliothek eine Freihandbibliothek: Man kann alle Bücher sehen und selber aus den Gestellen nehmen. Eine Gruppe von freiwilligen Helferinnen unterstützt Bibliothekarin Maxon bei der Arbeit. Marita Seuberdt fasst neu eingekaufte Bücher ein, Trudi Heim reinigt zurückgebrachte Bücher mit einem Folienreiniger. Auf einer Wandtafel hinter Bibliothekarin Maxon steht die Frage „Wo haben Sie das letzte Mal ein Buch gelesen?“. Die Bibliothekarin fordert ihre Kunden dazu auf, einen Strich bei jener Antwort zu machen, die zu einem passt. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs ist klar: Die meisten Besucherinnen und Besucher der Bibliothek haben zum letzten Mal ein Buch im Bett gelesen. Gute Nacht.
220 Mitglieder zählt der Trägerverein. Im Jahr 2016 wurde die Bibliothek von rund 2100 Leserinnen und Lesern besucht. Es wurden 5200 Medien ausgeliehen und rund 200 Medien neu angeschafft. Beiträge von Stadt und Kanton haben bis jetzt den Betrieb de Bibliothek ermöglicht. Als im Rahmen von Sparmassnahmen ruchbar wurde, dass die Stadt ihren Beitrag kürzen oder gar einstellen will, regten sich im Quartier und im städtischen Parlament Widerstand. Eine Privatperson spendete der Bibliothek anonym jene Fr. 10 000’, die die Stadt zu kürzen beabsichtigt. Man kennt sich hier und die Bibliothekarin und ihre Helferinnen sowie die Damen vom Vorstand wissen, welche Bücher die Leserinnen und Leser in Wollishofen interessieren. Regelmässig besuchen sie die Buchhandlung im Volkshaus, schauen sich dort nach neuen Titeln um und kaufen für die Bibliothek ein. Und sie bedauern, dass die einzige Quartierbuchhandlung, ihr Name war „Tuch und Buch“ eingegangen ist. Aber immerhin, die Bibliothek gibt es noch. Eine sympathische kleine Literaturzapfsäule im Quartier.
Bibliothek der Lesegesellschaft Wollishofen
Kilchbergstrasse 21
8038 Zürich
T: 043 399 92 01
In Gefahr
Heinz Egger
10 000 Franken, 7000 Medien, 5200 Ausleihen, 2100 Nutzerinnen und Nutzer, 220 Jahre, 220 Mitglieder, 1 Raum. Ein paar eindrückliche Zahlen sind das. Sie gehören zur Bibliothek der Lesegesellschaft Wollishofen. Diese Lesegesellschaft wird dieses Jahr 220 Jahre alt. Sie wurde am 13. Mai 1798 gegründet. Sie ist also älter als jene der Museumsgesellschaft im Literaturhaus Zürich, die erst 1834 gegründet wurde. Die Bibliothek besteht allerdings erst seit 1818 und eine Leihbibliothek ist sie erst seit 1881. Damals standen in den Regalen 651 Bücher und Zeitschriften. Natürlich gehörte zu letzteren auch die NZZ dazu, die Illustrierte Zeitung, Die Schweiz, Helvetia, Die Gartenlaube. Erst ab 1913 konnten auch Frauen Mitglied der Gesellschaft werden. Im Jahr 2016 zählte die Lesegesellschaft 220 Mitglieder. Ab 1960 wurde die Bibliothek eine öffentliche Freihandbibliothek, die Unterstützung durch Stadt und Kanton erhielt. Der heutige Bestand ist auf etwa 5000 Medien angewachsen. Es gibt Bücher, Zeitschriften, Musik-CDs und Hörbücher. 2016 wurden 5200 Medien ausgeliehen – eine grosse Frequenz, wenn man bedenkt, dass die Bibliothek bloss an zwei Nachmittagen, nämlich am Dienstag und Donnerstag von 15 bis 18:30 Uhr geöffnet ist!
Es herrscht denn auch reger Betrieb während unseres Besuchs. Es sind ältere Leute aus dem nahen Altersheim und Frauen mit Kindern. Leider fehlten die jungen Erwachsenen fast ganz. Sobald sie in der Oberstufe seien, würden sie rar, sagt, Trudi Heim, die bis vor zwei Jahren als Bibliothekarin gewirkt hat. Offenbar haben die jungen Leute ein anderes Medienverhalten. Obwohl ein schöner Bestand an Büchern für junge Erwachsene vorhanden ist, bleiben die meisten Jungen der Bibliothek fern. Das ist schade und erstaunlich, nachdem sowohl Kindergärten als auch Schulen immer wieder in der Bibliothek zu Veranstaltungen kommen.
Trudi Heim ist wieder in der Bibliothek, weil sie die neue Bibliothekarin, Victoria Maxon, einführt. Der Nachfolger von Trudi Heim ist im vergangenen Oktober unerwartet nach kurzer Amtsdauer verstorben. Victoria Maxon ist Amerikanerin. Sie hat Literatur studiert, arbeitete für IT-Unternehmen und kam der Liebe wegen vor neun Jahren nach Zürich. Ihr Deutsch ist perfekt und charmant schwingt Ihre Muttersprache mit. Seit Anfang Jahr ist sie die Bibliothekarin der Lesegesellschaft. Sie bringt einige Ideen mit, wie sie die Nutzung der Bibliothek halten und steigern möchte.
Ein Projekt ist der Katalog. Dieser ist immer noch ganz „altmodisch“ von Hand auf Karteikarten geführt. Karteikästchen mit den tausenden Karten stehen auf einem kleinen Tisch. Das Suchen darin ist nicht so einfach. Daher möchte Victoria Maxon diesen auf den Computer bringen, damit der Bestand systematisch durchsucht werden kann. Auch möchte sie weiterhin Veranstaltungen organisieren. Als Stichworte nennt sie „Storytelling“ und „Dialogisches Lesen“. Sie lacht und scheint voller Unternehmungslust. Im Herbst wird sie an der Zentralbibliothek einen Kurs in der Führung von Gemeindebibliotheken antreten.
Die Bibliothek belegt einen einzigen Raum. An den Wänden und im Raum stehen Gestelle. Obwohl zwei Seiten schön grosse Fenster haben, wirkt der Raum wegen dem dunklen Holz an den Wänden etwas düster. In der Mitte des Raums gibt es Platz für einen etwas grösseren Tisch. Darauf liegen die Neueingänge auf. Es ist eine schöne Zahl Bücher. Pro Jahr werden etwa 200 neue Medien angeschafft.
Da die Bibliothek keine Lagermöglichkeit hat, müssen regelmässig Bücher aussortiert werden. Trudi Heim sagt, man schaue zuerst den Zustand des Buches an. Schäden und Flecken machen ein Buch unattraktiv. Man weiss um den Wert des Buches. Für das Aussortieren geht man den Bestand Gestell für Gestell durch. Oft nutzt man diese Kontrolle dazu, gerade einen „Frühlingsputz“ zu machen, die Gestelle und die Bücher abzustauben. Jedes gebundene Buch wird sorgfältig mit Folie geschützt. Jedes zurückgegebene Buch mit Folieneinband wird sorgfältig aussen gereinigt, bevor es zurück ins Gestell gebracht wird.
Immer wieder würden der Bibliothek Bestände aus Privatbesitz angeboten. Sie könnten diese Angebote aber nicht annehmen, denn sie wollten neue Bücher, aktuelle Bücher in ihrer Bibliothek anbieten, sagt Trudi Heim.
Und was geschieht mit den Büchern? Einen Teil der Antwort findet jeder, der den Vorraum der Bibliothek mit Garderobe betritt. Ein grosses Gestell mit Büchern steht dort. Man darf sie gratis mitnehmen. Wegwerfen möchte man die Bücher nicht. Dazu seien sie zu schade, sagt Trudi Heim. Jedes Jahr habe die Bibliothek auch einen Stand am „Wollimärt“. Sie machen dort Werbung in eigener Sache und bieten den Leuten ebenfalls gratis Bücher an.
Nach einem Streifzug durch die Gestelle, die alle deutlich beschriftet sind, hat man vielleicht ein paar Bücher, in denen man vor der Ausleihe noch etwas schmökern möchte. Das kann man gut an einem kleinen quadratischen Tisch mit vier Stühlen. Wer danach fragt, kann dort auch in der Geschichte der Lesegesellschaft stöbern. Es gibt einen ganzen Ordner voller Zeitungsausschnitte und Fotos.
Da sind auch die Artikel, die in den Zeitungen am Ende des Jahres 2017 erschienen sind. Denn es hängen dunkle Wolken über der Bibliothek. Die Stadt kündigte an, dass sie nach 2018 die Unterstützung von 10 000 Franken einstellen werde. Das ist just der Betrag, mit dem die Bibliothek die Medien anschafft, die Bibliothekarin entschädigt und die Raummiete bezahlt. Es gilt also neue Geldquellen zu erschliessen. Für das Jahr 2019 kommt ein anonymer Spender für die Summe auf. Danach ist alles noch offen.