Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte (SBS), Zürich

Achtung Aufnahme!

Michael Guggenheimer

Sprecher für Hörbücher in der Kabine

Martin Hamburgers Beruf ist das Sprechen. Und man kann ihm lange zuhören. Denn Martin Hamburger bespricht Hör-CDs. 47.5 Stunden lang dauert Thomas Pakenhams „Der kauernde Löwe. Die Kolonialisierung  Afrikas“. 26.5 Stunden sollte investieren, wer ihm zuhören will, wie er Anne Cuneos „Der Lauf des Flusses“ liest. Über 200 Hör-CDs hat er schon besprochen. Martin Hamburger ist ausgebildeter Schauspieler und Autor. Nicht anders Jan Zierold, seit Anfang der Neunziger Jahre hat Zierold rund 75, zum Teil sehr umfangreiche Hörbücher eingelesen, die ein breites Spektrum der gesamten Erwachsenenliteratur abdecken. Mit seiner klaren Stimme gestaltet er Figuren und Geschichten abwechslungsreich und trifft für jedes Genre mit präziser Differenziertheit den richtigen Ton. Auch Charles Clerc, früher Tagesschau-Präsentator am Schweizer Fernsehen, kann man auf CD’s beim Vorlesen von Romanen zuhören. Die Hör-CD’s, welche die drei besprechen, nehmen sie an der Louis Braille Strasse in Zürich auf. Sie und weitere 85 professionelle Sprecher sitzen hier regelmässig in einer der acht Aufnahmekabinen und sprechen jeweils drei Stunden hintereinander prima vista Romane, Erzählungen und Sachbücher, die Blinde, Seh-, und Lesebehinderte ausleihen oder im Netz herunterladen – und seit kurzem sogar auch kaufen – können.

Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte (SBS) heisst die Institution, die im Zürcher Binzquartier in einem ehemaligen grossen Lagergebäude domiziliert ist und die eine grosse Bibliothek an Büchern in Brailleschrift, in Grossbuchstaben oder eben als Hör-CD’s führt. Eine Buchkommission entscheidet jeweils, welche Bücher in welchem Format berücksichtigt werden. Und je nach Thema oder Erzählperspektive wählt eine Dienststelle Dramaturgie die Sprecherin oder den Sprecher, entscheidet sich für eine tiefe Stimme oder eine hellere. Wie aktuell die Liste der ausgewählten Bücher ist, kann man beim Anschauen jenes Bücherregals sehen, in dem die gerade besprochenen Bücher auf ihre Sprecher warten: Max Frischs „Aus dem Berlin Journal“, Ralph Dutlis „Soutines letzte Fahrt“ oder Gerold Späths „Drei Vögel im Rosenbusch“ sind kurz nach ihrem Erscheinen bereits an der Louis Braillestrasse in der Produktion. Mitunter werden da auch sehr voluminöse Bücher besprochen, so etwa Ulysses von James Joyce in der Übersetzung von Hans Wollschläger, das Schauspieler Thomas Sarbacher in einer Vielzahl von Sitzungen bespricht. Dreissig Seiten in drei Stunden ist die mittlere Sprechleistung der Vorleser hinter Glas, im Schnitt dauert das Besprechen eines Romans fünf Tage. Anders als bei einer Lesung an einem Literaturfestival oder im Theater, hat der Sprecher bei der Aufnahme kein Publikum vor sich. Er schneidet den Text elektronisch selber, bemerkt Unebenheiten des Gelesenen beim Abspielen des Gesprochenen und korrigiert sie gleich. Die Zuhörer sind beim Aufnahmeprozess virtuell vorhanden. Eine Regisseurin wandert deshalb während den Aufnahmezeiten von Sprechkabine zu Sprechkabine, sitzt jeweils für eine Weile dem hinter dicken Glas vorlesenden Sprecher gegenüber und hört sich über eine direkte Lautsprecherverbindung den gerade vorgelesenen Text an, um Bemerkungen zur Vorleseweise machen zu können.

Wie up to date die SBS ist, wird klar, wenn man erfährt, dass die besprochenen Bücher auch online heruntergeladen werden können. Allerdings: Wer sich bei der SBS mit gesprochener Literatur eindecken möchte, muss sich ordnungsgemäss anmelden oder anmelden lassen, denn die SBS-Bestände sind Sehbehinderten, Lesebehinderten und Blinden vorbehalten. Seit Januar 2014 können Kundinnen und Kunden über die SBS zudem E-Books von „Bookshare“ bestellen. Dieses Angebot umfasst mehr als 100‘000 Bücher vorwiegend in englischer Sprache. „Bookshare“ ist die weltweit grösste Bibliothek mit elektronischen Büchern speziell für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen.

Die SBS ist aber weitaus mehr als nur eine Produktions- und Ausleihstelle von Hör-CD’s: Das Bibliothekssortiment besteht aus Hörbüchern, Punktschrift- und Grossdruckbüchern, E-Books, Hörfilmen sowie tastbaren Spielen. Das Angebot reicht vom Roman bis zum Kochbuch, vom tastbaren Bilderbuch bis zum Jugendkrimi, vom Kartenspiel bis zu Musiknoten, von der Zeitschrift bis zum Spielfilm. Über 40’000 Titel sind zurzeit im Ausleihkatalog verfügbar, davon können rund 12’000 Titel auch gekauft werden. Von der Louis Braillestrasse aus werden sie verschickt, hier werden Bücher sowie Zeitschriften wie die Betty Bossi-Kochzeitschrift oder Kreuzworträtsel in Brailleschrift aber auch in Grossdruck hergestellt. Und was besonders ist: Die Verschickung der Bücher, die um einiges schwerer sind als herkömmliche Publikationen, würde so hohe Postgebühren erfordern, dass sich die Empfänger die Rücksendung an die Bibliothek nicht leisten könnten, weshalb die Postverwaltungen vieler Länder darauf geeinigt haben, die Verschickung von Büchern in Brailleschrift gebührenfrei zu ermöglichen.

Martin Hamburgers neuer Roman „Die Fahrt aus der Haut“ ist übrigens mittlerweile auch als Hörbuch bei der SBS erscheinen. Gesprochen hat das Buch Schauspieler Peter Holliger. Und als die Bücher der SBS noch auf Tonbändern besprochen wurden, da war es Tagesschausprecher Charles Clerc, der mein Buch „Görlitz. Schicht um Schicht. Spuren einer Zukunft“ auf acht Tonkassetten besprochen hatte.

Schweizerische Bibliothek
für Blinde, Seh- und Lesebehinderte (SBS)
Grubenstrasse 12
8045 Zürich
T: 043 333 32 32
www.sbs.ch/

40 000 Titel

Heinz Egger

Wir gehen in eine Bibliothek, in die normalerweise niemand geht. Wenigstens nicht, um ein Buch, einen Film oder ein Spiel auszuleihen. Wenn jemand die Bibliothek besuchen will, so muss er sich anmelden.

Wir gehen in eine Bibliothek, in die normalerweise niemand geht. Dies liegt daran, dass die Leserschaft schweizweit, ja weltweit verstreut lebt. Es sind Blinde oder Leute mit Sehbehinderung. Seit einigen Jahren sind es auch Kinder und Erwachsene, die mit einer Lesebehinderung kämpfen.

Der Empfang liegt gleich nach der Eingangstür. Dort deponieren wir unsere Taschen, damit wir leicht unterwegs sind. Uns nimmt Herr René Moser auf den Rundgang mit.

Die erste Station ist die Druckerei. Wer erwartet, hier sei ein grosser Lärm, es rieche nach Farbe und Ungetüme von Druckmaschinen stünden im Raum, der irrt. Es ist ganz ruhig. Gut, die 80-jährige Heidelberger-Druckmaschine steht still. Aber, wie uns Herr Romolo Formicola demonstriert, ist sie mit ihrem gemächlichen Tempo eher ein Brummbär. Die Geräusche sind rhythmisch und rund. Diese Maschine liefert die besten Druckresultate – nein, nicht schwarz und weiss, denn sie presst Braille-Schrift in dickes Papier. Bei einem Druckvorgang prägt sie Vorder- und Rückseite. Als Prägeplatten dienen Kunststofffolien. Bis 500 Exemplare ist die Prägung einwandfrei, dann braucht es Kontrollen. Bei 1000 Exemplaren ist die Folie verbraucht.

Oft aber sind gar nicht so viele Exemplare gewünscht. Wird ein neues Buch in Braille-Schrift erstellt, braucht es drei bis vier Exemplare. Diese werden auf drei Maschinen in einem kleinen Nebenraum geprägt. Sie arbeiten mit Endlospapier. Auch hier werden Vorder- und Rückseite in einem Arbeitsgang geprägt. Elektromagnetisch gesteuerte Stifte drücken die Erhöhungen ins Papier. Diese Maschinen rattern zünftig! Die moderne Technik ist zwar schneller, aber die Qualität der Heidelberger erreicht sie nicht.

Die heute weltweit verbreitete und standardisierte Braille-Schrift wurde um 1825 von Louis Braille entwickelt. Er bildete das Alphabet mit nur sechs Punkten, angeordnet in drei Zeilen mit zwei Punkten, ab. Das gibt 64 Kombinationen – genug auch für spezielle Zeichen in einer Sprache. Diese Schrift hat sich in allen Sprachen durchgesetzt, weil sie einfach zu lernen ist und auch selbst geschrieben werden kann.

Notizmaschine für Blinde

Selbst geschrieben werden kann? Ja, dank einer Notizmaschine. Sie sieht aus wie eine verkümmerte Schreibmaschine. Sie hat eine Walze, um das Papier zu führen, einen Druckkopf, der Zeichen für Zeichen nach rechts rückt und am Zeilenende gepackt und wieder an den Zeilenanfang geführt werden muss. Und dann sind da bloss sieben Tasten. In der Mitte jene für den Leerschlag, links und rechts davon von innen nach aussen nummeriert die Tasten für die Punkte. Um einen Buchstaben aufs Papier zu bringen, müssen die Tasten miteinander gedrückt werden.

Herr Moser demonstriert uns das. Er schreibt in Windeseile einen Satz, den ich im auftrage: ich reise im mai nach israel! – Ja, die Braille-Schrift kennt nur kleine Buchstaben. Und sie wird stets von links nach rechts geschrieben, selbst für Hebräisch (und andere Sprachen, die in Schwarzschrift von rechts nach links oder von oben nach unten gelesen werden). Zur Kontrolle hält sich Herr Moser das Blatt seitlich ans Bein und ertastet das Geschriebene. „Ja, es stimmt“, sagt er strahlend, als er mir das Blatt reicht. Er hat das Schreiben in Braille-Schrift von Grund auf gelernt, denn er sieht keine Farben und hat dadurch eine stark eingeschränkte Sehfähigkeit.

Er führt uns zielsicher weiter durchs Haus, das er kennt wie seine Hosentasche. Zunächst zu den Aufnahmekabinen für Hörbücher. Über 90 Sprecherinnen und Sprecher arbeiten für die SBS. Dann gehen wir in sein Büro, wo er uns die Präsentation zur SBS auf einem grossen Bildschirm zeigt.

Zum Schluss stehen wir in der Bibliothek: Archivrollregale stehen in langen Reihen. Sie enthalten die Schätze der SBS. Über 40 000 Titel enthält der Katalog: Punktschrift- und Grossdruckbücher, tastbare Spiele, Musiknoten, Zeitschriften und Hörbücher.

Wir haben eine Bibliothek besucht, die vielen Leuten dient. Sie ist unglaublich stark bestückt. Und der Bestand wächst stetig. Wem das nicht reicht, der hat als registriertes Mitglied der Bibliothek auf die Bestände der Bibliotheken in Wien oder Berlin zugriff. Der Transport per Post von Blindenbüchern ist seit 1903 kostenlos!

Heute beziehen viele Nutzerinnen und Nutzer ihre Medien auch digital, beispielsweise E-Books, Hörfilme und Zeitschriften. Die moderne Technik macht es möglich. Dank synthetischer Stimmen können nicht nur Smartphones, sondern auch E-Reader einen Text vorlesen. „Warum lesen? Es gibt heute für fast alles Schriftliche die Möglichkeit, den Text vorlesen zu lassen. Hören und dabei in die Ferne sehen, was gibt es Schöneres?“, sagt Herr Moser.

Wir haben so oft gestaunt bei unserem Besuch in dieser Bibliothek, in die Nutzerinnen und Nutzer eigentlich nicht hingehen.

 

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