Kunst kennenlernen
Michael Guggenheimer
„Einen einzigen Nachteil hat der Ort. Das sind die Öffnungszeiten. Von Montag bis Freitag nur ist die Bibliothek offen. Und dann bloss von 13 bis 18 Uhr. Aber man kann sich daran gewöhnen“, meint er. Und er habe das Beste daraus gemacht.
Er ist seit zwei Jahren in Rente. Und er hat sich vorgenommen, all die wichtigen Sachen, die er während den Berufsjahren im Büro verpasst hat, nachzuholen. Er liest jetzt Bücher, deren Titel er bis anhin nur kannte. Madame Bovary. Schuld und Sühne. Oliver Twist, Buddenbrooks. Er holt die Klassiker nach. Auch die Malerei. Und alle die Ausstellungen, die er schon immer sehen wollte, aber nicht besuchen konnte. Seine Tage folgen einem Ritual. Früh begibt er sich in die Pestalozzibibliothek, um dort Zeitungen zu lesen. Von dort geht er weiter zur Bibliothek der Museumsgesellschaft, um sich im Lesesaal seinen Klassikern zuzuwenden. Nachmittags, wenn die ersten Studenten die Bibliothek der Museumsgesellschaft aufsuchen, zieht er weiter. Montags bis freitags. Dann ist er in der Bibliothek des Kunsthauses anzutreffen. „Ich hole mein Leben nach“, hat er mir kürzlich gesagt.
Er könnte systematisch vorgehen, könnte bei der Schweizer Malerei beginnen. Oder im Mittelalter. Er könnte sich durch die Präsenzbibliothek durcharbeiten. Seine Vorgehensweise ist eine andere. Hat er morgens bei der Zeitungslektüre eine interessante Ausstellungsbesprechung gesehen, dann sucht er in der Bibliothek des Kunsthauses nach den entsprechenden Katalogen und Monographien. Gerade jetzt ist es William Turner, der ihn fasziniert. Er hat die grosse Londoner Ausstellung in der Tate Britain nicht gesehen. Wozu auch? Er hat den dicken Katalog in der Bibliothek studiert. Und er kann viel über Turner erzählen. Im Sommer hat er sich die Pariser Ausstellung von Ilja Kabakov im Grand Palais an einem langen Nachmittag an einem der hellblauen Arbeitstische in der Museumsbibliothek vor Augen geführt. Er hat sich nicht einmal die Ausstellung von Cindy Sherman im Kunsthaus Zürich angeschaut: Weil in der Museumsbibliothek jeweils zu jeder Ausstellung eine breite Auswahl von Büchern präsentiert werden, die mit der Ausstellung zu tun haben, hat er sich die kunstvoll gestellten Selfies der amerikanischen Fotografin im Sitzen angeschaut, wurde dabei von niemandem gestört, hat viel lesen können, ohne durch Bemerkungen von anderen irritiert zu werden. Er schätzt die Bibliothek des Kunsthauses gerade auch wegen ihrer Ruhe.
Anders als bei der Museumsgesellschaft stehen hier acht Computerarbeitsplätze zur Verfügung. Die kleine Tafel mit dem Wort „Silentium“ auf einem der alten Katalogkästen wird hier ernst genommen. Keiner spricht hier, hier herrscht eine Stille, die es ihm ermöglicht, sich bei der Lektüre zu konzentrieren. Noch nie hat er erlebt, dass alle 32 Arbeitsplätze besetzt gewesen wären. „Alles ist hier geschmacksvoll eingerichtet“, sagt er. Die hellblauen Tischplatten verleihen dem Raum eine Leichtigkeit, elegant findet er die schwarzen Stühle. Den dichten Verkehr auf der Rämistrasse nimmt er nicht wahr, so gut sind die Fenster hier. Seitdem er sich in der Präsenzbibliothek genauer umgeschaut hat, weiss er, weshalb Kunsthistoriker bei ihren Führungen durchs Museum so viel über die Zusammenhänge zwischen Malerei und Literatur, Malerei und Musik oder Malerei und Theologie wissen. Er hat sich nämlich die dicken Bände über Personen aus der Literatur in der Malerei oder über die christliche Symbolik in Malerei und Plastik genau angeschaut. Er kennt das AKL, das „Allgemeine Künstlerlexikon zu den Bildenden Künstlern aller Zeiten und Völker“, auch wenn er bei weitem nicht alle 83 Bände gehalten hat. Die sieben voluminöse Bände aufweisende Reihe „Ästhetische Grundbegriffe“ hat er schnell zur Seite gelegt, weil ihm die Texte zu theoretisch waren.
Was er besonders liebt sind die vielen Zeitschriften, die hier aufliegen. „320 abonnierte Zeitschriften hat die Kunsthausbibliothek“, hat er mir kürzlich stolz erzählt. So stolz, als sei er persönlich Abonnent dieser Zeitschriften. Und was ihm auch gut entgegenkommt: Die Computerarbeitsplätze weisen alle einen Internetanschluss auf. Um sich nicht mehr internethörig zu fühlen, hat er sich vor einem Jahr dazu entschlossen, die eigene Mailkorrespondenz nur noch von der Kunsthausbibliothek aus zu führen. Seine Wochenenden seien mail- und facebookfrei, sagt er und wirkt zufrieden. Vor kurzem hat er sich vorgenommen, die zeitgenössische Kunst der Schweiz noch besser kennenzulernen. Nach St.Gallen ins Kunstmuseum, um Roman Signers Werk besser kennenzulernen? Wozu? „Alles ist in der Bibliothek des Kunsthauses vorhanden“. Pipilotti Rist, Anton Bruhin, Christian Marclay? „Wenn die Bibliothek des Kunsthauses auch am Samstag und Sonntag offen wäre, könnte ich schon weiter sein“, sagt e mir. In der Literatur jedenfalls komme er dank der Bibliothek der Museumsgesellschaft schneller voran.
Bibliothek Kunsthaus Zürich
Rämistrasse 45
8001 Zürich
T: 044 253 85 31
www.kunsthaus.ch/de/bibliothek
Kleine Recherche
Heinz Egger
Im Malkurs haben wir an Selbstporträts gearbeitet. Dabei erwähnte ich auch jenes wunderbare Doppelporträt von Andreas Walser. Ein Foto hinten im Ausstellungskatalog, den ich 2006 im Kirchner Museum Davos erstanden habe, zeigt, wie er es erstellt hat: Er hält einen grossen Spiegel auf der Achsel, so dass sein Gesicht auch von der Seite sichtbar ist.
Andreas Walser ist ein Künstler, der 1908 in Chur geboren wurde und 1930 in Paris starb. Ob ich in der Kunsthausbibliothek mehr über diesen jungen Mann erfahren werde, als schon im Katalog steht?
Ich betrete die Bibliothek, werde am Informationstisch freundlich begrüsst und verstaue meinen Rucksack und den Mantel in einem Garderobenkästchen, wie ein auf die Wand gemalter Text verlangt.
Eine Glastür trennt den Vorraum mit Recherche-PC, Kopierautomat und dem erwähnten Informationstisch vom Lesesaal. Drinnen mahnen an mehreren Orten metallene Tafeln zu „Silentium”. Und das herrscht auch im hellen Raum.
Nur Männer sind da. Der eine liest Zeitung, ein anderer hat mehrere Bücher um sich liegen und liest über die Seiten gebeugt. Der jüngste im Raum sitzt am PC, trägt eine Schirmmütze und lächelt dauernd selig. Was er wohl im Internet betrachtet?
Ich setze mich hin und tippe als Suchwort Andreas Walser ein. Vier Bücher sind in den Beständen. Zwei sind die Kataloge der Ausstellungen in Davos und Chur 2006. Die anderen beiden kenne ich nicht, deshalb greife ich zu den Bestellzetteln und schreibe die Bestellnummern und meinen Namen darauf.
An der Informationstheke unterbreche ich das Gespräch zwischen dem Bibliothekar und der Bibliothekarin. Es werde einen Moment dauern, bis die Bücher da seien, wird mir beschieden. So kehre ich in den Lesesaal zurück und betrachte, was an den drei Wänden im Raum ausgestellt ist. Es sind Nachschlagewerke verschiedenster Art und eine ganze Wand mit Zeitschriften.
Der dreissigbändige Brockhaus steht da. Ausgabe 2006. Ich ergreife den Band, in dem ich Walser suchen werde. Der Goldschnitt ist staubig. Sehr häufig wird das Buch nicht genutzt. Ich finde darin verschiedene Walser: Johanna, Schriftstellerin, geboren 1957, Karl, Maler, 1877 bis 1943, Martin Johannes, Schriftsteller, geboren 1927 und natürlich Robert, Schriftsteller 1878 bis 1956. Keinen Andreas.
Dann schaue ich in den Zettelkatalog, der mehrere Meter lang ist, frei im Raum steht und die Werke vor 1975 unter verschiedenen Kriterien sortiert enthält. Er besitzt auf beiden Seiten Schubladen. Auch hier nichts über den gesuchten Andreas.
Bei den Nachschlagewerken hinter dem Katalog steht eine Reihe des „Art Sales Index”, der jüngste allerdings aus dem Jahr 2010. Darin findet sich, angeboten von einer Berner Galerie, von Andreas Walser ein Stillleben in Öl von 33 mal 41 Zentimeter, gemalt 1928, für 20’000 Franken.
Als ich zu meinem Platz zurückkehre, kommt der Bibliothekar mit den bestellten Büchern. Wie schön! Auf dem roten Leineneinband des einen prangt eingeprägt das eingangs erwähnte Doppelporträt. Das Buch enthält die umfangreiche Korrespondenz von Andreas Walser, aber beispielsweise auch von Cocteau mit Walsers Freunden. Schon nach wenigen Texten wird spürbar, wie sehr Walser zerrissen war, an seiner Homosexualität und seinem künstlerisch überschäumenden und verzehrenden Geist litt. Titel des von Marco Obrist in der Nicolai’schen Verlagsbuchhandlung Berlin 2001 herausgegeben Buches: Meine Bilder bleiben, die werden später von mir sprechen.
Die Nacht ist heller als der Tag – so lautet der Titel des zweiten Buches, herausgegeben von Heinz Bütler und Wolfgang Frei, erschienen im Benteli Verlag, 2007. Er zeigt in Kürze, weshalb sich das Leben von Andreas Walser so schnell verzehrte. Er brannte lichterloh und schuf im Rausch ein vielschichtiges Werk. Ein schöner Teil davon ist im Buch abgebildet.
Und die Antwort auf meine oben gestellte Frage? Sicher bieten diese beiden Bücher einen weiteren und vertieften Blick auf das kurze Künstlerleben! Und es lohnt sich bestimmt, hier auch über andere, weniger bekannte Künstler zu forschen.
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