Im Innern des Wals
Michael Guggenheimer
Es ist eine Art Versteckspiel. Ein Haus im Haus. Von aussen besehen ein Haus aus der Jahrhundertwende, nach 1900 als Gymnasium erbaut. Der frühere strassenseitige Haupteingang ist heute geschlossen. Man muss um das grosse Gebäude herumgehen, der Eingang wurde verlegt. Gerade ging man noch eine Treppe hinauf, jetzt muss man wieder mehrere Stufen hinabgehen. Man betritt eine Art Vorraum mit Auskunftsschalter und Garderobenschränken, es sind unendlich viele Kästchen, die sich zu beiden Seiten des Vorraums befinden und zudem noch in einem Seitengang. Die meisten mit Hängeschlössern verschlossen. Besucher nehmen Vorlieb mit jenen Kästchen, die man mit Hilfe einer Münze abschliessen kann. Man muss ein freies Fach regelrecht suchen, in diesem Gebäude scheinen sich sehr viele Menschen aufzuhalten.
Man durchquert eine automatisch sich öffnende Glastür und befindet sich in einem anderen Zeitalter, in einem Haus im Haus. Das 20. Jahrhundert liegt hinter einem, man schaut hoch hinauf ins 21 Jahrhundert. Man steht auf einem weissen Marmorboden, blickt hinauf und sieht helles Holz, Holz und nochmals Holz. Stockwerke mit einer Holzbrüstung, sechs an der Zahl. Und oben ein lichtdurchlässiges gläsernes Auge zum Himmel hinauf schauend. Von oben, vom Kuppeldach, kommt das Tageslicht. Aber Tageslicht genügt nicht in diesem architektonischen Tal. Man ist im Innern, im Bauch eines Architekturwals angekommen. Schaut hinauf und sieht niemanden. Es ist still in diesem ellipsenförmigen Innenhof. Man müsste den Versuch machen und mit einem Ortfremden dieses im Jahr 2004 eingeweihten Gebäudes besuchen, ihn genau in diesee Architekturellipse stehen lassen und ihn befragen, ob er wisse, um welche Art von Gebäude es sich hier handle. Es ist, der Befragte würde es bestimmt nicht herausfinden können, die Bibliothek der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.
Ein Architekturkenner würde wohl beim Anblick der Dachkonstruktion auf den Architekten Santiago Calatrava kommen. Ähnlichkeiten mit der Dachkonstruktion des Polizeikommandos in St.Gallen, des Flughafenbahnhofs von Lyon, des Bahnhofs Estação do Oriente in Lissabon, des Bahnhofs Stadelhofen in Zürich sowie mit der Saitenbrücke in Jerusalem, führen zu Calatrava, dem spanischen Architekten, der in der Schweiz studiert hat und hier wie in seiner ersten Heimat Architekturbüros hat. Menschen fahren in den zwei gläsernen Personenaufzügen zu beiden Seiten der Ellipse in Höhe, andere gehen von der sich öffnenden Glastüre zu den Liftanlagen, mehr Menschen sieht man zunächst nicht. Und still ist es hier, fast unheimlich still. Man betritt den Aufzug, lässt sich hinauffahren und blickt in die Weite dieser Architektur: Sechs Lesegalerien, unglaublich viele Lesende, als würden alle Studenten dieser Stadt Jura studieren. Nicht in allen Stockwerken sind Laptops erlaubt. In manchen Lesebereichen sind nur Studierende der Rechtswissenschaften als Lesende zugelassen. Ein eleganter Bau, in dem angehende Juristen ihre Prüfungen vorbereiten, Gerichtsurteile studieren, sich Notizen machen. Vor Prüfungsterminen ist die grosse Bibliothek gar an Sonntagen geöffnet. Es fällt gleich auf, dass sehr viele Leser hier T-Shirts tragen. Das Klima im Gebäude ist vergleichweise warm, wer mit Unterhemd, Hemd, Pullover oder Sacco hier arbeitet, kommt schnell ins Schwitzen.
Wie wurden diese schwebend wirkenden Lesegalerien konstruiert, fragt man sich, wie wurden sie verankert oder befestigt, wie wurde die Leichtigkeit dieser Stockwerke geschaffen? Nirgendwo sind Stahlträger zu sehen, sie müssen aber irgendwo untergebracht sein. Die Hoffassaden des ehemaligen Gymnasiums wirken plump und schwer im Vergleich zu den Galerien, die man im Innern des inneren Hofs, der Bibliotheksellipse sieht. Im aussengelagerten Altbau aus dem Jahr 1910 befinden sich Büros und Vorlesesäle sowie Seminarräume der Rechtswissenschaftichen Fakultät der Universität. Erst auf Fotografien, die vom Dachgeschoss des unweit liegenden Schwesternhochhauses aufgenommen wurden, sieht man die Dachkonstruktion über den Innenhof der alten Kantonsschule. Eine grüne Dachaufstockung. Wie eine Art Tierpanzer oder Rücken eines Gürteltieres sieht das Kuppeldach von aussen aus. Soviel Glas in der Kuppel bedarf einer Beschattungsanlage. Man hält sich im Gebäudeinnern auf und sieht bei zunehmender Sonnenbestrahlung, dass ein Lamellenfaltvorhang in Funktion tritt. Grosszügig die Beleuchtung bei zunehmender Abenddunkelheit, kein Bereich bleibt unbeleuchtet.
Hinter den Arbeitsplätzen der Lesenden befinden sich Büchermagazine, auf jedem Stockwerk ein anderer Schwerpunkt, alle systematisch präzis aufgeteilt und aufgebaut. Die Bibliothekssammlung umfasst ungefähr 200’000 Bücher und 600 abonnierte Zeitschriften und Schriftenreihen. Zu den einzelnen Signaturen gehören die Fachrichtungen, mit denen sich Juristen befassen: Von den allgemeinen Nachschlagwerken im ersten Stockwerk über die Allgemeine und Vergleichende Rechtsgeschichte und das Römische Recht bis hin zum Kirchenrecht, zum Völker- und Europarecht im sechsten Stockwerk. Man geht an den Büchergestellen entlang und staunt als Laie über die vielen Rechtsgebiete: Finanzmarktrecht, Zivilverfahrensrecht, Baurecht, Unfallversicherungsrecht, Soldatengesetz, Kriegswaffenkontrollgesetz, Jugendschutzrecht, Wahlrecht, Schulrecht, Urheber- und Medienrecht, Film- Funk- und Theaterrecht, Verbraucherschutzrecht, Immaterial-Güterrecht, Arzneimittelrecht.
Beim Verlassen des Bibliotheksbaus mit seinen Leserängen geht man noch an zwei Stierherden vorbei, Zeichnungen des Meisterarchitekten Santiago Calatrava, Bleistift und Kohle auf Papier. Die langen Streifen heissen beide „Toros“ und sind den beiden Söhnen Calatravas Micael und Rafael gewidmet. Rafaels Stiere sind schwarz, Michaels Herde weist schwarze und rote Stiere auf. Und zu beiden Seiten des Eingangsbereichs steht noch je eine Skulptur aus schwarzem Granit. Der Architekt ist auch ein Künstler. Sein Bibliotheksgebäude ein Denkmal zeitgenössischer Kunst und Architektur.
Bibliothek der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich
Rämistrasse 74
8001 Zürich
T: 044 634 30 99
www.ius.uzh.ch/library.html
Kunst fürs Buch
Heinz Egger
Calatrava – ein Grossmeister der Architektur. Sein Name ist Magnet. Aus diesem Grund pilgern auch viele Leute zur Bibliothek des Rechtswissenschaftlichen Instituts (RWI) der Rechstwissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Allerdings sind sie da nicht wirklich erwünscht. Die Benutzung der Bibliothek und der Dienste ist nur Immatrikulierten und Angestellten des Instituts vorbehalten. So sagt es jedenfalls das Benutzerreglement.
Wenn man aber am Empfang fragt, ob man einen Blick auf die Innenarchitektur werfen dürfe, wird einem der Zugang als Einzelperson oder Kleingruppe bis 5 Personen nicht verwehrt. Grössere Gruppen sollten sich anmelden.
Deponieren Sie Jacken und Taschen, Schirme und andere Gegenstände in den Schliessfächern rechts vom Eingang. Halten Sie dazu ein Zwei-Franken-Stück bereit. Auf der gegenüberliegenden Seite sind auch Schliessfächer, aber sie müssen mit einem Vorhängeschloss verschlossen werden. Alle Schliessfächer sind übrigens jeden Abend zu leeren, sonst werden sie kostenpflichtig geöffnet.
Die Bibliothek ist eine reine Präsenzbibliothek. Wer sie nutzen will, muss sich also vor Ort einfinden und studieren. Es gibt Bücher, die begehrt sind. Daher warnt ein gelbes Schild mit schwarzer Schrift davor, „Nester“ anzulegen, also die Bücher absichtlich zu verstecken, damit andere Studierende nicht darauf zugreifen können. Konsequenzen werden angedroht.
Die Bibliothek hat über 200’000 Bücher in ihren Beständen. Da muss Ordnung herrschen. Die Nutzerinnen und Nutzer sind daher aufgefordert, die Bücher genau wieder dort einzureihen, wo sie gemäss ihrer Signatur hingehören. Eindringlich mahnt das oben erwähnte Schild, selbst Verantwortung zu übernehmen und für Ordnung zu sorgen. Denn Bibliotheksangestellte verbringen täglich mehrere Stunden mit dem Aufräumen und wieder korrekt Ordnen von Büchern.
Mit diesen Regeln versehen, können Sie eintreten. Es wird Ihnen bestimmt ein Ah oder Oh entwischen, wenn Sie die Bibliothek betreten. Eine grosse Halle mit weissem Boden empfängt sie. Über Ihnen türmen sich sechs Etagen mit Büchern und Arbeitsplätzen. Durch die elliptische Öffnung sehen Sie bis zum Glasdach, das typisch Calatrava von einer geschwungenen Metallkonstruktion ähnlich einer Wirbelsäule mit Rippen getragen wird. Von aussen würde niemand so eine prachtvolle Halle erwarten. Die elliptische Konstruktion ist in der Diagonalen im Hof des ehemaligen Kantonsschulgebäudes eingebaut. Diese Weite und Grosszügigkeit fesselt. Wenn Sie sich in eine Ecke der Halle stellen, dann sehen Sie das alte Gemäuer mit den dunkelgrau eingefassten Fensteröffnungen. Ein rechter Winkel des alten Hauses und die geschwungene Linie der Ellipse bilden einen Kanal nach oben. Stahlträger halten den Bibliotheksbau quasi in der Schwebe. Faszinierend.
Beim Rundgang durch die Halle ergeben sich weitere, beeindruckende Blicke. Einmal sieht die Konstruktion aus wie ein Brustkorb mit den Rippen, dann wie ein Stadion mit Rängen, eine Arena oder ein Konzerthaus. Edel ist alles. Holz so weit das Auge reicht. Licht erfüllt jede Nische – nicht grell, sondern gedämpft, weil es indirekt abgestrahlt wird.
Auf einer Halbetage gegenüber dem Eingang finden sich die juristischen Zeitschriften. Es sind etwa 600. Keine darf den Raum verlassen, so steht es auf den hölzernen Gestellen. Die Zeitschriften liegen nicht aussen auf dem Gestell auf. Da ist bloss ein Titelblatt unter Glas zu sehen. Sie liegen hinter einer Klappe. Die Gestelle sind eine wunderbare Schreinerarbeit.
Vor den Zeitschriftengestellen gibt es Raum für ein paar rote Fauteuils und Clubtischchen. Auf einem der Tischchen liegt ein Schnellhefter. Er enthält einige Hinweise zum Aufbau der Bibliothek und zum Suchen in der Bibliothek. Die meisten Studierenden werden wohl via Internet über den NEBIS-Katalog suchen. Die Signaturen der Bücher geben Auskunft über das Fachgebiet und über das Stockwerk, auf dem das Buch steht. Die Anleitung lädt die Studierenden ein, wenn das Fachgebiet klar ist oder bereits ein Band gefunden worden ist, die Bücher links und rechts, oben und unten der Fundstelle anzusehen. So stosse man leicht auf weitere Literatur zum gesuchten Thema.
An der Brüstung sind Arbeitsplätze eingerichtet. In der ganzen Bibliothek sind es etwa 500. Kabelschwänze fürs LAN hängen zum Teil noch auf den Tisch, aber die wichtigste Verbindung zum Universitätsnetz und zum Internet ist natürlich WLAN. Jeder Arbeitsplatz hat ein eigenes Licht, das an einem Vorsprung der Brüstung so angebracht ist, dass es nicht blenden kann. Und natürlich gibt es Steckdosen. Die Arbeitsplätze im ganzen Haus sind sehr gut belegt. Kaum einer ist frei. Und doch herrscht eine enorm konzentrierte Stille. Die Studierenden üben sich in Disziplin. Alle bemühen sich, möglichst andere nicht zu stören. Sie beachten die Aufforderung, die Türen leise zu schliessen.
Man kann die sechs Etagen im Treppenhaus erklimmen. Leichter geht das aber mit einem der gläsernen Lifte an den schmalen Enden der Ellipse. Ein unglaublich schönes und abwechslungsreiches Panorama aus Blicken auf die Strukturen der Bibliothek zieht an einem vorbei.
Der fünfte und sechste Stock sind für die Studierenden am Rechtswissenschaftlichen Institut reserviert. Das heisst wohl, dass auch andere Studierende hier einen stillen Arbeitsplatz suchen. Reservieren kann man keinen der Plätze. Einzig im sechsten Stock gibt es einige, die Doktorierenden vorbehalten sind.
Ebenfalls im sechsten Stock, allerdings im alten Gebäude steht die BASIS-Bibliothek. Sie ist eine Studienbibliothek und umfasst ausschliesslich Studien- und Prüfungsliteratur der verschiedenen Fachbereiche. Da stehen Nachschlagewerke, Römisches Recht und Rechtsgeschichte, Privatrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Arbeits- und Sozialrecht, und, und. Diese Bibliothek befindet sich im PC-Arbeitsraum. Jeder Platz ist besetzt. Die Luft ist stickig und warm …
Bevor Sie dieses architektonische Kunstwerk für das Buch verlassen, beachten Sie die beiden langen Bilder in der Halle unten. Stellen die Stiere in verschiedensten Haltungen den Kampf dar, den das Leben jedem abverlangt? Calatrava hat diese Bilder seinen Söhnen gewidmet.
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