Bibliothek SBB Historic, Windisch

Mit dem Rutebok for Norge

Michael Guggenheimer

Es gibt zwei Möglichkeiten: die schnelle mit Umsteigen und die langsamere, bei der man von Zürich bis Locarno im Zug sitzen bleiben kann. 17 Minuten länger mit Halt in Schwyz, Brunnen, Flüelen, Erstfeld, Göschenen, Airolo, Faido und weiteren Ortschaften dauert die Fahrt ohne Umsteigen. Ich sitze lieber länger im Zug, setze mich nicht gerne dem hektischen Umsteigen in Arth Goldau in einen vollen IC aus, schaue in Flüelen gerne den Dampfern auf dem See nach, betrachte vom haltenden Zug aus die geschlossenen Hotels von Faido. Nur etwas fehlt mir in diesem Zug: ein Speisewagen. Nicht einmal mit einem Minibuffet ist der gemütliche Zug ausgestattet. Gab es denn jemals zwischen Zürich und Locarno eine Zugsverbindung mit Speisewagen? Der Schaffner kann mir die Frage nicht beantworten. „Schauen Sie in alten Fahrplänen nach“, lautet seine Antwort. „In Windisch kann man das!“

Zehn Gehminuten braucht man vom Bahnhof Brugg bis zur SBB Bibliothek im benachbarten Windisch. Man geht an riesigen Kabelrollen vorbei und wundert sich über die Lage dieser Bibliothek in einem ehemaligen Fabrikgebäude, wo bis vor zwei Jahren die Uniformen des SBB Personals auf die Lokführer und Schaffner gewartet haben. Ein Lesesaal hinter einer Glaswand mit zwei Tischen, ein Clubtisch und vier Clubsessel, eine Wand mit Bahnzeitschriften, zwei Mitarbeiterinnen hinter Computerbildschirmen. Man ist verwundert, denn mehr ist zunächst nicht zu sehen. Alte Zettelkataloge stehen im Raum und ein Computer, mit dem 30 000 verzeichnete Dokumente, Bücher, DVD und Videos aus den Bibliotheksbeständen abgerufen werden können. Das Büchermagazin dürfen die Benützer der Bibliothek nicht betreten. Die beiden Damen hinter den Bildschirmen holen die Bücher. Bibliotheksmitarbeiterin Samantha Pellegrini begleitet uns in das Reich der Bücher. Hier gibt es alles zur Eisenbahn. Alles, was grosse Jungs über die Bahn schon immer wissen wollten, ist hier gelagert. Bücher über Lok- und Waggontypen, über private Eisenbahngesellschaften und über Eisenbahnen im Ausland, über das Tarifwesen, Literatur über Gleisbau und über das Signalwesen. Eisenbahngeschichte und Eisenbahngeschichten warten hier auf Bahnfans, auf Studierende, die über Zug und Tram forschen wollen.

Samantha Pellegrini zeigt historische Karten

Irgendwann will ich hier der Frage nachgehen, ob es wirklich stimmt, dass man früher von Basel bis Moskau im Schlafwagen fahren konnte! Und der Geschichte der Hedschasbahn will ich folgen: Mit der Bahn von Istanbul über Beirut und Haifa bis nach Alexandrien und bis nach Mekka. Das soll es gegeben haben. Ob das neu erworbene Buch „Liban sur le Rail“ mir einen guten Einstieg bieten könnte? Beim Suchen im Bibliothekskatalog wird mir klar: Man muss nur nach Windisch in die SBB Bibliothek fahren, um die Geschichte der Speisewagen zu erforschen. Gab es denn jemals diesen Speisewagen von Zürich bis Locarno? Stimmt es, was Eisenbahnfreaks sagen, dass es früher einen tschechischen Speisewagen auf der Strecke Zürich – München –Prag gegeben hat, in dem die besten Palatschinken und Marillenknödel serviert wurden? Es soll vor drei Jahrzehnten noch Menschen gegeben haben, die von Zürich nur bis St.Margrethen mit diesem Speisewagen gefahren sind, um süsse Mehlspeisen zu essen! Und stimmt es, dass man noch vor wenigen Jahrzehnten von München über St.Gallen und Zürich ohne umzusteigen bis nach Lyon fahren konnte? Ich setze mich an den Bibliothekscomputer und mache mich auf die Suche nach alten Fahrplänen. Fehlanzeige. Noch ist vieles, das da in den Gestellen der Compactusanlage ruht, nicht erfasst worden, allein schon die SBB-Publikationen, die noch nicht im Online-Katalog vorkommen, umfassen 40 Laufmeter in den Büchergestellen. Die Bahn investiert eindeutig mehr in die Zukunft als in ihre Geschichte. Aber die Mitarbeiterinnen der Bibliothek wissen, wo sich die Fahrpläne befinden. Lückenlos sind sie da: Alle Fahrpläne der SBB. Der erste im handlichen Taschenformat hiess „Nr.1 Eisenbahn- und Dampfschiff-Telegraph der Schweiz. Nach offiziellen Quellen bearbeitet mit Kärtchen“. Preis 80 Cent oder 9 Kronen. Herausgegeben von Scheitlin & Zollikofer in St.Gallen im Juli 1859.

Norwegischer Fahrplan von 1964

Ob es wirklich so ist, dass man früher nicht schneller mit der Bahn von Chur aus in Poschiavo ankam? Ich will all dem nachgehen, die Fahrpläne sind alle da. Und da fällt mir ein: Poschiavo, das ist doch der Ort, in dem der deutsche Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer in schlaflosen Nächten seinen Roman Tynset geschrieben hat. Tynset ist ein Nest in Norwegen. Seit der Lektüre von Hildesheimers Roman weiss ich, dass Tynset ein Bahnhof der Rorösbanen ist, einer Nebenstrecke zwischen Hamar und Storlien, die annähernd parallel zur Hauptstrecke Oslo-Trondheim verläuft. Hildesheimer soll auf die Eisenbahnstation über einen in schlafloser Nacht konsultierten Fahrplan der norwegischen Bahn gekommen sein.

Eine der beiden Mitarbeiterinnen der Bibliothek holt mir den Fahrplan der norwegischen Staatsbahn, das „Rutebok for Norge“ aus dem Jahr 1964, dem Jahr vor Erscheinen von Hildesheimers Roman. Jetzt kann ich kontrollieren, ob Hildesheimer in seiner Beschreibung der Bahnstrecke im Roman auch wirklich nichts erfunden hat. Abfahrt in Oslo um 08.35 Uhr, Ankunft in Tynset um 15.42 Uhr. Der Endbahnhof Trondheim wird laut Fahrplan vom Jahr 1964 erst um 20.12 erreicht. Ob die Bahn heute, 42 Jahre später, schneller fährt? Gewiss eine wunderbare Strecke. Hildesheimer schrieb: „Zwischen den Zeilen breiten sich die grossen Entfernungen aus, weitet sich ein spröder, windiger Spielraum, den die Daten einer Ankunft oder einer Abfahrt nur ungefähr umreissen“. An der Bahnstrecke nach Tynset liegt auch die Ortschaft Hamar. „Hamar hat ein Eisenbahnmuseum, dort war ich aber nicht. Warum nicht, das ist mir entfallen, an sich interessiere ich mich für Eisenbahnen“, heisst es bei Hildesheimer.

Hildesheimer war nie in Tynset. Er hat aber den Fahrplan aufmerksam studiert. Es gibt so viele Romane, die in Eisenbahnzügen spielen. Man muss sich nur in einen Zug hinsetzen und den Mitreisenden zuhören oder sie genau anschauen und schon fällt einem eine Geschichte ein. Die Bahn ist voller Schicksale, voller Erzählungen. Auch diese Zeilen sind in der Bahn entstanden. Wo denn sonst? Sollte dieser Text weitergehen und in einer Kurzgeschichte oder gar in einen Roman münden, die SBB Bibliothek in Windisch würde mir die zu recherchierenden Unterlagen bieten können.

SBB Historic
Fachbibliothek zur Eisenbahn
Lagerstrasse
5210 Windisch
T. 056 566 52 22
www.sbbhistoric.ch

 

Gebunkert

Heinz Egger

Historic. Da kommen mir Bilder von Dampflokomotiven, dem Roten Pfeil, dem Krokodil, der Ae4/7 und der Ae6/6 in den Sinn. Laut Website sbb/historic hat die Stiftung Historisches Erbe der SBB als Ziel, von der Vergangenheit in die Gegenwart durch über 160 Jahre Schweizer Bahngeschichte zu führen. Dazu gehört auch eine Bibliothek.

Ankunft im Bahnhof Brugg. „Nimm den Ausgang nach Windisch. Gleich vor dem Campus der Fachhochschule Windisch findest du den ersten braunen Wegweiser „Historic“. Von da an kannst du den Weg nicht mehr verfehlen.“ Das sagte mir mein Bahnfreund Fredi am Telefon. Nun, wir nehmen den Weg unter die Füsse und folgen seinen Anweisungen. Es ist eine recht lange Strecke, denke ich, während wir an den vielen grossen und noch grösseren Spulen für Kabel aller Art der Kabelwerke Brugg vorbeigehen. Dann eine Verbotstafel mit einem weissen Schild am Weg, der auf einen Platz an den Gleisen hinabführt: Betreten für Unbefugte verboten. Aber just da durch weist uns der Wegweiser. Vor dem Haus leuchten gelbe Felder: Besucherparkplätze. Also sind wir auch Befugte. Das Haus mit der Bibliothek liegt im äussersten Zipfel des Bahngeländes.

Lagerstrasse, Windisch. Nach der Eingangstüre verweist ein Schild darauf, dass sich der „Lesesaal im ersten Stock“ befinde. Da müsste dann auch die Bibliothek sein. Wir steigen hinauf. Eine Sitzgruppe, ein Gang nach rechts, ein Garderobenständer vor einer Wand mit Aushängen. Wir hängen unsere Jacken auf und treten in den hellen Raum zur Linken. Wir schauen uns um. Links liegt hinter einer Glaswand der Lesesaal mit zwei Tischen. An einer Wand ein Plakat, das auf Holländisch für die Schweizer Bahnen wirbt. Rechts steht als Raumteiler ein Zettelkasten. Fast bis zu Decke reicht er. Dahinter an zwei Wänden Dutzende Bahnzeitschriften. Vor uns der Empfang.

Und wo ist die Bibliothek? – SBB historic führt nur eine Magazinbibliothek. Die Schätze können am Recherche-PC gesucht werden. Gehoben werden sie aber von einer der beiden Damen, die im Raum hinter ihren PCs arbeiten. Die Bibliothek kann also nicht besucht werden. Es gibt Führungen auf Anmeldung. Wir machen wohl ein etwas verdutztes Gesicht, denn auf der Website war von einer öffentlichen Fachbibliothek die Rede … Das Lesezeichen von buchort.ch erweicht eine der Damen. Sie geht zu einer der Bibliothekarinnen, Frau Pellegrini.

Wartsaal. Wir warten und schauen derweil die Auslage an Zeitschriften an. Hauszeitschriften, technische Zeitschriften, Modellbauerzeitschriften, Marketingzeitschriften der Bahn. Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch. Alle laufenden Abonnements sind hier ausgestellt. Ältere Ausgaben lagern hinter einer Klappe.

Blick in die Halle mit der Bilbliothek und dem Archiv

Archiv. Wir haben Glück! Frau Pellegrini kommt, reicht uns ihre Visitenkarte und öffnet für uns die Tür, auf der „Nur für Personal“ steht. Dahinter öffnet sich ein sehr langer Raum. Alles ist weiss gestrichen. Pilzsäulen tragen die Decke. Kein Tageslicht. Erinnerungen an unterirdische Anlagen, die ich im Militär kennen lernte, kommen hoch.

Archivrollgestelle. Unglaublich, gleich im ersten Gestell stehen Kursbücher. Alle sind vorhanden seit der ersten Ausgabe 1859. Das war noch ein dünnes Heft in schlichtem Blau. Die neueren Kursbücher sind hingegen schwere Bände. Heute ist es einer für die Bahnen, Seilbahnen und Schiffe, sowie zwei für die Postautos. Farbig sind die Einbände, von einem Künstler gestaltet. Das Kursbuch gibt es heute noch. Aber die meisten geben wohl der elektronischen Version den Vorzug. Und wer von den jungen Smartphone-Nutzern könnte mit einem Kursbuch eine Reise zusammenstellen? Wieder Erinnerungen, wie wir als Jugendliche selbst das dünne Papier umgeschlagen haben, als wir unsere Reisen mit dem Interrail planten. Ausländische Fahrpläne stehen in den nächsten Gestellen. Aus allen Herren Ländern sind sie!

Schwerpunkte. Die Bibliothek hat Spezialgebiete. Beispielsweise ist die Sammlung der Geschäftsberichte von Seilbahnen, Privatbahnen und Vorläufern der SBB von besonderer Bedeutung. Oder die Sammlung aller Billette – als Muster, nicht entwertet. Das ruft wieder Erinnerungen wach: Die kleinen Kartonkärtchen, die Maschine, die das Kaufdatum eingeprägt hat, das Tableau, in dem alle verfügbaren Fahrkarten eingereiht waren … In Kartons und Kunststoffbehältern warten Billettsammlungen von Privatpersonen darauf, zusammen mit den Musterbilletten katalogisiert zu werden. Die Geländekartensammlung, die Sammlung aller SBB-Kalender seit 1926 warten ebenso auf die Katalogisierung.

Objektarchiv. Nach den rollbaren Archivgestellen stehen einige mit hellem Tuch verhüllte Geräte. Es sind Musikspielautomaten aus grösseren Bahnhöfen. Vorläufer der Juke-Box. Sie haben einen schönen Holzkasten und darin ein Musikspieldosenwerk mit mehreren Melodien dazu oft bewegliche Figuren vor Spiegeln. Sie stehen aus klimatischen Gründen in diesem Raum. Eigentlich gehörten sie zur Objekt-Sammlung, die sich ebenfalls im Haus befindet.

Altes Plakat: Wohlbehagen im Speisewagen

Plakatarchiv. Weiter hinten folgen die mannshohen Gestelle mit der Plakatsammlung. Die Plakate lagern in Kartonröhren. Auf den weissen Deckeln steht, was die Röhre enthält. Ganz zuhinterst im Raum werden Kunstwerke aufbewahrt, beispielsweise Entwürfe der Künstler zu den Plakaten oder den Umschlägen für die Kursbücher.

Katalog. Die Bibliotheksbestände werden im Bibliotheksverbund IDS Bern Basel erfasst. Wir suchen nach einigen Stichworten wie „Gotthardbahn“ oder „Schweizer Dampflokomotiven“ und finden zahlreiche Bücher, die bei SBB Historic aufbewahrt werden. Man kann die Bücher bestellen. Sie werden einem zugeschickt. Die Suche nach „Kursbuch Schweden 1973“ bleibt ohne Resultat. Auf unsere Nachfrage hin erfahren wir, dass die Kursbücher noch nicht im Katalog enthalten seien.

Kreis. Als ich das Gebäude verlasse, frage ich mich, was das wohl für ein Gefühl auslöste: Frau Pellegrini startete ihre Laufbahn bei den SBB mit der Lehre als Bahnbetriebsdisponentin in Bodio. Für ihre erste Uniform kam sie ins Uniformlager, das sich eben in den Räumen befand, in denen nun die Bibliothek lagert. Und jetzt ist sie täglich dort …