Unerwartetes entdecken
Michael Guggenheimer
Der Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Schweiz (AdS) verleiht jeweils zu Beginn der Solothurner Literaturtage zwei Auszeichnungen. Ein Verlag, der seine Autoren fördert, erhält als Preis die Pfauenfeder, die „Plume de Paon“, ein Verlag, der seine Autoren schlecht behandelt oder gar übervorteilt, erhält als Tadel die „Plume de Plomb“, eine Bleifeder. Im Jahr 2016 verdient Rafael Ball, Chef der ETH-Bibliothek in Zürich, eindeutig eine „Plume de Plomb“. Libelle-Verleger Ekkehard Faude formulierte es so: „Der Knall des Monats dürfte an den Leiter der ETH-Bibliothek gehen, der antwortete auf die Frage, ob das Internet Bibliotheken überflüssig mache: «Ja, mit der Volksbildung sind die öffentlichen Bibliotheken gekommen, mit dem Internet gehen sie wieder. Ist das ein Problem?»“
Mag sein, dass Bibliotheksdirektor Ball keine Bücher mehr braucht. Kann sein, dass technische und naturwissenschaftliche Debatten heute mehrheitlich im Netz digital und nicht mehr auf Papier zwischen zwei Buchdeckeln abgehandelt werden. Wie sehr Bibliotheken heute dennoch Umschlagorte des Wissens, Begegnungs- und Lernorte sind, wie wichtig sie sind, davon zeugt ein Besuch in der Mediathek Brig, so heisst in Brig die vom Kanton Wallis und von der Stadt getragene Bibliothek. Ein moderner Bau am Rande der Altstadt, zwei langgezogene Stockwerke, deren Fenster auf der einen Seite von der Decke bis zum Boden reichen, lichtvolle Räume mit Arbeitsplätzen, mit bequemen Clubsesseln und mit Sitzgruppen, in denen gelesen, gearbeitet und debattiert wird. Wer in der Bibliothek sitzt, sieht im Garten eine grosse bunte Metallplastik, die Studierende am Kollegium entworfen und ein Metallbauer gefertigt hat: Farbige Bücher im Grossformat.
Der Eingang der Bibliothek befindet sich im ersten Stockwerk des an einem leichten Hang gelegenen Gebäudes. Man betritt den Ort und geht an einer Wand entlang, an der Plakate hängen, Veranstaltungs- und Ausstellungshinweise der Mediathek und von solchen, die anderswo stattfinden. Man studiert die Anzeigen und staunt über die Vielfalt der Angebote der Mediathek: Filmvorführungen, Lesekreise, Diskussionsrunden, Vorträge und Werkstätten. Das langgezogene erste Stockwerk beherbergt die Bestände an belletristischer Literatur, nicht nur in deutscher Sprache, sowie die Zeitschriften und Zeitungen sowie neben einer reich ausgestatten Sammlung von Büchern zum Thema Film eine grosse Auswahl an DVD’s. In einem eigenen Gestell stehen zudem Filme zur Auswahl, die Walliser Themen gewidmet sind: Die in der Mediathek von Martigny aufbewahrten Filmsammlungen zum Kanton Wallis, es sind Werke von Amateuren und professionellen Filmemachern, Spielfilme und Dokumentarfilme, die in Kopie zur Verfügung stehen.
Auf den Bücherregalen, die alle im Raum quer und nicht den Wänden entlang aufgestellt sind, sind Würfel angebracht, auf denen jeweils Buchstaben stehen, die die Suche nach Autoren erleichtern sollen. Wer will, kann in einem der bereitstehenden elektronischen Kataloge Buchtitel oder Autorennamen eingeben, um dann zu einem der Büchergestelle zu gehen und das gewünschte Buch aussuchen. Wer aber nichts Bestimmtes sucht, wer sich von Büchertiteln, von Autorennamen, von Themen anregen lassen will, wer noch Unbekanntes aussuchen will, der streift zwischen den Büchergestellen und stösst auf etwas, das er vielleicht wissentlich gar nicht gesucht hat, so kann man Funde machen, Neues und Unerwartetes entdecken. Gerade das ist auch eine Funktion von Bibliotheken, die dem Leiter der ETH Bibliothek wohl nicht geläufig ist. Und das kann dem Bibliothekbesucher im Erdgeschoss der Briger Bibliothek nochmals passieren, wo die Sachbücher lagern. Hier reicht das Spektrum der Themen von der Philosophie über Religion, Sozialwissenschaften, Mathematik und Medizin bis hin zu den Künsten, zur Literaturwissenschaft, Geographie und Geschichte. Gymnasiasten sitzen an Arbeitstischen und schreiben an ihren Semesterarbeiten, Studenten und Pensionäre sind hier am lesen und oder machen Notizen auf Blättern. In einem Arbeitsraum neben dem Treppenhaus, werden Seminararbeiten verfasst und in einem eigens getrennten Bereich befindet sich die Abteilung mit den Kinder- und Jugendbüchern.
Das gedruckte Buch lebt in der Mediathek Brig gleichberechtigt mit den Informationen, die sich digital gewinnen lassen: Das Angebot an E-Books ist sehr breit, mehrere Computerstationen stehen zudem den Benutzern zur Verfügung und werden emsig benutzt. An einer schreibt gerade ein älterer Herr seine Mails, auch das ist hier gestattet. „Die Mediathek Wallis ist ein Ort, um zu studieren, um sich weiterzubilden, um zu schmökern und zu stöbern und um sich über das Wallis zu informieren“, heisst es in einer Selbstdarstellung. Sie ist aber auch ein Kulturzentrum, ein Ort der Begegnung mit Ausstellungen, Vorlesungen, Filmvorführungen und Weiterbildungskursen.
Es gibt eine Besonderheit im Bibliothekswesen des Kantons Wallis. Die Bibliothek in Brig ist nämlich Teil eines übergeordneten kantonalen Bibliotheksnetzes: „BiblioWallis“ heisst die Institution. „BiblioWallis“ vereint alle Walliser Bibliotheken zu einem Netz mit der Zielsetzung, Dokumente und Know-how auszutauschen und gemeinsam zu nutzen. Diese Zielsetzung wird erreicht durch die Vernetzung der Bibliothekskataloge sowie durch eine einheitliche Benutzerkarte. Brig, Sitten, Martigny, St. Maurice sind die Hauptstandorte von „BiblioWallis“, dem weitere Orts- und Speziabibliotheken angeschlossen sind. Findet man im elektronischen Katalog ein Buch, das in einer der anderen Bibliotheken des Kantons geführt wird, kann man sich das entsprechende Werk bestellen, um es am nächsten Tag in der eigenen Bibliothek vorzufinden: Ein Lieferservice an fünf Tagen der Woche sorgt für den schnellen Austausch von Büchern unter den Bibliotheken des Kantons. In der Mediathek Brig befindet sich noch eine Pädagogische Bibliothek. Eine Besonderheit der verschiedenen Standorte von „BiblioWallis“ sind die an den vier Standorten „deponierten“ Spezialbibliotheken. In Brig sind es die Walser Bibliothek sowie die Bibliothek der Edzard Schaper Stiftung. Der deutschbaltische Dichter Schaper hatte nach dem Zweiten Weltkrieg Wohnsitz im Kanton Wallis genommen. Seine Ehrenbürger-Urkunde von Münster im Goms und das Manuskript seines Romans „Die Braut Gottes“ werden in der Bibliothek in zwei Vitrinen gezeigt. Im dritten Stockwerk der Briger Mediathek, in den Räumen der Pädagogischen Bücherei, befindet sich die Bibliothek der Internationalen Vereinigung für Walsertum mit Büchern, Zeitschriften und Dokumenten zur Walserbewegung und zu den Walsern in Italien, Österreich, dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweiz.
„BiblioWallis“ Mediathek Brig
Schlossstrasse 30
3900 Brig
T: 027 607 15 00
www.bibliowallis.ch
APFI
Heinz Egger
Zuerst treffen sich die beiden Buchortisten hinter dem Gebäude. Dort ragt ein Haufen Bücher über einem Betonsockel mit eingelassenen Sitzgelegenheiten auf. Sie stellen sich vor die Bücher und schiessen Selfies. Nein, nicht mit einem Stick, sondern mit einer Kamera, die auf einem kleinen Lampenpfahl ruht. 10 Sekunden Zeit liegen zwischen dem Auslösen und der Aufnahme. Das heisst eilig auf den Bücherberg steigen! Zwei gesetzte Herren, die so eine Menge Spass erleben.
Genau so viel Spass macht aber die Bibliothek. Sie residiert in einem modernen Gebäude. Die grosse Fensterfront zum Bücherberg hin und die Öffnungen im Dach fluten die Räume mit Licht.
Es ist eine Bibliothek, die mit der Zeit geht, die erkannt hat, dass sie heute mehr sein muss, als bloss ein Hort für gedruckte Bücher. So steht am Empfang schon eine Tafel, dass hier Tausende von Büchern in elektronischer Form ausgehliehen werden können, inklusive Lesegerät. Die Ausleihdauer beträgt 28 Tage.
Im Eingangsbereich liegen viele Zeitungen und Zeitschriften auf. In den Gestellen werden das Lokalblatt und grosse Schweizer Zeitungen, aber auch Die Zeit und Le Monde präsentiert. In der Zeitschriftenauslage gibt es alles, was das Herz begehrt: vom Computer- bis zum Kunstheft, von der Wirtschafts- bis zur Modezeitschrift und vom Gartenbau- bis zum Architekturheft. Und gepolsterte Bänke in Schlangenform mit kleinen roten Tischchen davor laden ein, in der Tages-, Wochen- oder Monatspresse zu blättern oder sie da zu lesen.
Auf den Gestellreihen stehen weit sichtbar Würfel mit einen Buchstaben darauf. 3 Gestelle gehören den Sprachen. Im Angebot sind Dictionnaires, Bücher zum Lernen der Sprache und immer auch Filme und CDs. Auch hier geht die Bibliothek mit der Zeit. In den Sprachen wird fündig, wer seine Kenntnisse in Französisch, Spanisch, Italienisch oder Englisch erweitern möchte. Vor den „Buchstabengestellen“ stehen Drehgestelle mit ausgesuchten Inhalten: Grossdruck, Liebe, zwei Drehgestelle Thriller/Krimi, Fantasy und Historisches.
Den Fenstern entlang mit Ausblick auf die Buchskulptur stehen zuerst mehrere hüfthohe Kästen, in denen die Comics und Graphic Novels stecken. Laminierte Blätter künden den Inhalt an, beispielsweise Akira, Thorgal oder Monsieur Jean. Dann folgen Arbeitsplätze mit Multimedia-Stationen. Jede ist mit einem Kopfhörer ausgestattet. Alle Stationen sind besetzt. Ein Mann sucht im Internet, ein weiterer zappt durch einen Film, ein dritter liest einen Text am Bildschirm und eine junge Frau hat Studienmaterialien vor sich.
Der Wand entlang nach den Zeitschriften stehen die Gestelle mit Musik und Film. Beide Tragen eine 7 weiss auf rot obendrauf. Die Filmsammlung ist gross. Darin sind auch 50 ausgesuchte Filme übers Wallis aus der umfangreichen Mediathek Wallis – Martigny. Darunter sind Dokumentar- und Spielfilme.
Auf der Treppe hinunter ins Untergeschoss leuchtet an der Fensterfront eine grosse Glasmalerei von Alfred Grünwald. Er lebte von 1926 bis 1966. Die Malerei stammt aus der Kapelle des alten Spitals Brig. Vor der Glasmalerei steht ein grozzügiger Vierertisch, der Fensterfront entlang stehen weitere Arbeitsplätze an Zweiertischen bereit. Die Gestelle im Untergeschoss tragen bloss Nummern. Die Bücher sind nach dem Dezimalsystem eingeordnet: von Null für Allgemeines bis 9 für Geographie, Biographien und Geschichte. Zu finden sind die Bücher leichter über den Katalog. Eine Station zum Betrachten von Microfilmen und ein Drucker stehen neben zwei grösseren Arbeitsplätzen für die Bibliotheksangestellten.
Die Kinder- und Jugendliteratur hat im zweiten Stock einen eigenen, grosszügigen Raum. Die Gestelle sind oben mit den bekannten Würfeln beschriftet. Sie tragen senkrecht rot auf weiss das Hauptthema und horizontal weiss auf rot die Unterthemen. Unter Facts etwa ist Aussenseiter, Essstörungen, Familie, Gewalt und Missbrauch, Glauben, Krankheit, Kriminalität, Sucht zu lesen.
Das Kleinod der Bibliothek aber befindet sich im dritten Stock hinter den Angeboten der Pädagogischen Dokumentation. Die Walser Bibliothek des Walser Instituts Brig. Dieser Bibliotheksteil ist neu an diesem Ort. Erst mit dem Umzug vom Keller in den dritten Stock seien die Bücher und Zeitschriften leicht zugänglich geworden, sagt eine Frau, die am langen Tisch zwischen den drei u-förmig angeordneten Gestellreihen sitzt. Sie arbeitet an einem Buch, das sie mit anderen herausgeben wird. Die Walser haben ein weites Gebiet besetzt. Wer dieses erleben möchte, tut es am besten auf dem grossen Walserweg zwischen Mittelberg in Österreich und Zermatt im Wallis. Und dennoch wird der Wanderer nicht alle Walser Siedlungen gesehen haben. Da fehlen jene im Aostatal oder jene, die möglicherweise in einem kleinen Seitental des Simmentals existiert haben. Die Frau forscht über diese Walser im Simmental. Sie geht Flurnamen durch und sucht Verwandtschaften zwischen Nennungen bei Walsern und jenen in ihrem Tal.
Die Bücher und Zeitschriften sind im Katalog verschlagwortet. Auch der Zugriff auf das Walser Archiv in der Kantonsbibliothek Sitten ist via Katalog möglich. Viele Bücher tragen Nummern des Dezimalsystems. Alle tragen oben am Rücken schwarz auf weiss das Wort Walser und viele unten schwarz auf hellblau die vier Anfangsbuchstaben des Autorennamens. Unter A, gleich am Anfang steht allerdings ein Büchlein, bei dem das nicht zutrifft. APFI heisst die Fusssignatur, der Autor aber Weibel. Der Titel lautet „A Pfiffa im Muul …“
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In eigener Sache:
Im Anschluss an die Publikation des obigen Eintrags meldeten sich die Verantwortlichen der Walser-Bibliothek Erna Anthea Waibel, Diplom-Bibliothekarin, und Dr.phil. I Max Waibel. Sie stellten Folgendes klar:
Sehr geehrter Herr Egger
Ihr Text über die Mediathek Wallis Brig habe ich mit grossem Interesse gelesen und über Ihre Ergebnisse wie über Ihren Eindruck über die Mediathek bin ich erfreut!
Was die Walser Bibliothek angeht, gilt es einiges zu präzisieren:
Bei der Signatur von «A Pfiffa im Muul …» handelt es sich um eine Anthologie, d.h. die Texte (Quellen) wurden von Max Waibel gesammelt und herausgegeben, folglich kommt dieses Buch unter den Titel zu stehen. (Signatur= zusammengefasst von den ersten 4 Buchstaben des Titels.)
Übrigens: In der Walser Bibliothek befinden sich rund 70 Titel über die Walser in Aosta!
Neulich wurden die Bestände verschoben, deshalb ist die Ordnung + Beschriftung noch nicht durchwegs aktualisiert.
Als Grundlagenwerk über die Walser weise ich Sie gerne auf das Buch von Max Waibel hin:
«Unterwegs zu den Walsern in der Schweiz, in Italien, Frankreich, Liechtenstein, Vorarlberg und dem Tirol». Frauenfeld, 2003.
Mit besten Grüssen
Erna Anthea und Max Waibel