Bücher im Domleschg
Michael Guggenheimer
Auf der Fahrt ins Engadin oder ins Tessin machten meine Eltern früher immer einen Zwischenhalt: Kaffee und Kuchen oder ein Mittagessen. Der Halt in Thusis war ein Ritual. Den damals noch winzigen, bloss 18m2 messenden „Buach- und Plattaläda Kunfermann“ kannten meine Eltern nicht. Würden sie heute mit dem Auto an der Hauptstrasse, sie heisst Neudorfstrasse, parken, sie würden ganz bestimmt den mittlerweile 135 m2 grossen Laden von Lorenz Kunfermann und Agnes Tscharner aufsuchen. Und sie würden, davon bin ich überzeugt, jedes Mal den Laden mit mehreren Büchern verlassen. Serendipity bezeichnet in der Soziologensprache die zufällige Entdeckung von etwas, das man nicht gesucht hat. Genau das passiert einem in guten Buchläden. Und genau das ist auch mir wieder in Thusis passiert. Wer jedenfalls meint, es hier mit einem „Dorfladen“ zu tun zu haben, in dem bloss die Bücher der Bestsellerliste zu haben sind, der kennt die Kunfermanns nicht, die an einem Tag in der Woche von ihrer Tochter Flurina assistiert werden. „Thusis ist kultureller Mittelpunkt der Region. Das Kino Rätia bietet attraktive, meist anspruchsvolle Programme an. In regelmässigen Intervallen finden hier das Theaterfestival und die Weltfilmtage statt.“, heisst es auf der Homepage der Gemeinde. Was die Informationsstelle der 2800 Einwohner zählende Gemeinde eindeutig vergessen hat, ist die Erwähnung der Buchhandlung.
Doch der Reihe nach. Der erste Eindruck beim Betreten der Buchhandlung: Holz und der Duft von Holz, auch wenn es hier nicht nach Holz duftet. Als zweites fallen Bücher zur alpinen Welt auf. Keine Heimatromane: „Immer schön langsam: Eine Zeitreise durch die Schweiz auf den Spuren von Thomas Cook“, die „Enzyklopädie der alpinen Delikatessen“, „Auch hier ist Welt – Obervazer Auswanderer im 19. Und frühen 20. Jahrhundert“, „Zwischen Wildnis und Freizeitpark – Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen“ sowie „Die Giacomettis. Eine Künstlerfamilie“. Und gleich nebenan die Literatur aus der weiten Welt: Mehrere Exemplare von Amos Oz’ Buch „Judas“, Hanif Kureishis „Das letzte Wort“, Valeria Luisellis „Die Schwerelosen“ und Patrick Chamoiseaus „Die Spur der Anderen“. Klar, dass hier im Wandergebiet auch die Karten der Eidgenössischen Landestopografie geführt werden. Und dann Politik, Geschichte, Gesellschaft und Wirtschaft. Der „Buachlada“ braucht den Vergleich mit einer städtischen Buchhandlung nicht zu scheuen! Erst recht nicht, wenn Lorenz Kunfermann aus dem rückwärtigen Bürobereich kommt und wissen will, ob er bei der Suche nach einem Titel helfen kann.
Der Mann im blauen Pullover und mit der blauen Brille ist kein gelernter Buchhändler. Er hat seine Ausbildung bei einer Bank gemacht. Aber er ist ein passionierter Leser und ein politisch wacher Zeitgenosse. Und er kann beim Sprechen über Bücher ins Schwärmen kommen. José Saramagos Bücher hat er alle gelesen, Column Mc Canns Bücher kennt er und kann sie empfehlen. Nobelpreisträger J.M. Coetzee, dessen Bücher er schätzt, hat er an den Solothurner Literaturtagen erlebt und staunt noch heute über dessen Deutschkenntnisse. Den Roman „Bonita Avenue“ des Holländers Peter Buwalda hat er auf Lager. „Ein starkes Buch“, sagt er und schildert den Inhalt. Und er spricht offen aus, dass der Schweizer Buchpreis an Flavio Steimann für seinen Roman Bajass hätte gegeben werden sollen, Dass das Buch „Hören Sie gut zu und wiederholen Sie“ von Jon Gnarr in Thusis zu haben ist, hat mit Kunfermanns Freude am Erzählen und mit seinem Interesse für Politik zu tun: Gnarr, einst Sonderschüler, später Taxifahrer , dann Stand-up-Comedian und zum Schluss Oberbürgermeister der Hauptstadt Islands, ist in seinen Augen ein bemerkenswerter Mann.
Flurina Kunfermann, freiberufliche Multimedia Produzentin, die die Homepage der Buchhandlung betreibt, schildert: „Irgendwann 1981 suchten meine Eltern in Thusis ein Kochbuch mit einem bestimmten Rezept. Sie konnten das Buch nicht finden. In derselben Zeit wollten sie von John Lennon eine Schallplatte kaufen und wurden ebenfalls nicht fündig. Die beiden beschlossen kurzerhand, um weitere Reisen nach Chur zu vermeiden, eine Buchhandlung mit zusätzlichem Schallplattenverkauf zu eröffnen.“ Schallplatten verkaufen die beiden schon lange nicht mehr. Aber die vom Dorfschreiner hergestellten Holzgestelle für die CDs- und Schallplatten haben sie für Bücher angepasst. Nach mehreren Umzügen im Dorf konnte der Laden am jetzigen Ort eingerichtet werden. Mit Hilfe eines Vereins von 200 Mitgliedern haben die beiden die jetzige Lokalität in Stockwerkeigentum kaufen können. Die Zinsen aus dem Darlehen investieren sie in Lesungen. Und weil es noch nie leicht war, alleine vom Verkauf von Büchern zu leben, ist der ehemalige Bankangestellte Kunfermann noch als Buchhalter für andere Geschäfte tätig.
Buachlada Kunfermann
Neudorfstrasse 80
7430 Thusis
T: 081 651 34 20
www.buachlada-kunfermann.ch
„Die Regeln bestimme ich“
Heinz Egger
Der blaue Bugatti biegt um die Ecke. Laut brummend zischt er weiter in die Tiefe des Ladens und rammt dabei um ein Haar eine alte Dame, die ein Kochbuch in den Händen hält. Es wäre bereits die zweite Fallmasche, die während dieses Rennens entstanden wäre. Da tauchen zwei stramme Beine aus der Büroboxe auf und bremsen den Rennfahrer aus. Der wilde Fahrer schaut etwas verdutzt hoch. Herr Kunfermann weist den rüppelhaften Fahrer zurecht. Im Laden herumkurven ja, aber mit Rücksicht auf alle, die auch noch da sind. Zum Beispiel die Dampflokomotive oder die Schildkröte. Und natürlich die anderen Besucherinnen und Besucher der Buchhandlung. „Ach ja, ich habe den Eindruck, dass die Kinder sich immer öfter so benehmen, als gehöre ihnen die Welt allein. Das sehe ich gut darin, wie sie mit den kleinen Fahrzeugen umgehen und im Laden umherfahren. Und auch die Bücher schauen sie nicht bloss an, sondern sie brauchen sie.“ Er müsse immer wieder einschreiten. Die Mütter und Väter schauen zu, aber unternehmen nichts.“Aber die Verkehrsregeln, die bestimme ich“, sagt Herr Kunfermann. „Nein, Vater, so schlimm ist es nicht. An den wenigen Tagen, in denen ich hier arbeite, sehe ich auch anderes. Mütter, die behutsam mit ihren Kindern Bücher anschauen und darauf achten, dass nichts kaputt geht“, erwidert Flurina Kunfermann. Für die kleinen Leser steht extra ein kleines Pult da: links ein Schubladenstock mit drei Schubladen, rechts Platz für den Stuhl. Gegen den Kinderbücherverschleiss steht eine Kiste bereit. Darauf steht „Zur Ansicht“. Die Abteilung der Kinder- und Jugendbücher ist gross. Und sie läuft auch gut, darauf ist Herr Kunfermann stolz.
Er kennt sich jedoch bei vielen anderen Büchern ebenso gut aus. Er ist der Einkäufer des Buachlada. Kochbücher, beispielsweise, die einst den Start der Buchhandlung auslösten. Ja, weil man ein Rezept suchte und in Thusis nicht fündig wurde, haben er und seine Frau beschlossen, einen Buchladen zu eröffnen. Seine Ideen für den Einkauf bezieht er aus Katalogen, hört den Verlagsvertretern gut zu und liest selbst viel. Ja, der Verlag sei für den Verkaufserfolg schon noch entscheidend, meint er. Auf dem Rundgang durch seine Buchhandlung empfiehlt er gleich mehrere Bücher: Auf Kai Wayands „Applaus für Bronikowski“ klebt gar ein Zettel: Wunderbares Buch!! Witzig, komisch, traurig, alles, was das Herz begehrt. Dann der Roman „Bajass“ von Flavio Steimann. Es ist Geschichte über die Ausbeutung von Kindern und über die Nöte der Emigration. Oder „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“ von Ernest van der Kwast, der in einem schmalen Band eine unwiderstehliche Geschichte einer unerfüllten Liebe und die Entdeckung des Bikinis erzählt. Und er wüsste noch viele mehr zu empfehlen! Im Gespräch mit dem Kunden versuche er herauszufinden, was passen könnte. Es ergebe ja keinen Sinn, einem Wenigleser Jean Zieglers „Ändere die Welt“ oder einen dicken Wälzer vorzuschlagen. Besonders wichtig ist Beratung bei Geschenken. Alter, Lesegwohnheiten, Interessen oder schon gelesene Bücher können einen Hinweis darauf geben, was dem Empfänger gefallen könnte. Und für diese Entdeckungsreisen nimmt man sich im Buachlada gern Zeit.
Die Buchhandlung ist wohlgeordnet. Die Bücher ruhen in schweren Gestellen aus dickem Tannenholz, deren Seitenbretter oben abgerundet sind. Das oberste Tablar ist meist leer. Jedes Buch soll mit ausgestrecktem Arm erreichbar sein. Die Gestelle begleiteten die Buchhandlung seit ihren Anfängen und wurden mit wachsender Ladenfläche immer wieder ergänzt. Zwischen den Büchern stecken sehr schön, von Hand geschriebene Teiler. Die Tablare sind ebenfalls in sauberer Handschrift angeschrieben. „Das war eine Übung“, bemerkt dazu Flurina Kunfermann. Das passt alles wunderschön zu den handwerklichen Gestellen. Blumen schmücken den Raum. Ja, für den Schmuck sei Ihre Mutter zuständig. Frau Tscharner ist für die Schönheit, Ordentlichkeit und Wohnlichkeit des Ladens und den Verkauf verantwortlich.
Obwohl immer wieder Leute in den Laden kommen und oft auch mit einem Buch wieder gehen, könnte das Geschäft eine kleine Familie nicht mehr ernähren. Dies obwohl die nächste Konkurrenz in Chur oder Bellinzona steht. Die schärfste Konkurrenz ist aber wohl das Internet. Herr Kunfermann führt denn nicht nur die Buchhaltung für sein Unternehmen, sondern auch für einige kleine und mittlere Betriebe der Gegend. Und wenn sie dereinst in Pension gehen? „Dann wird wohl der Buachlada für immer schliessen“, sagt er etwas traurig. Und dieser Buchort wird Thusis dereinst fehlen. Denn die Buchhandlung ist auch ein Kulturort, der regelmässig Lesungen anbietet. Und das mit namhaften Autoren, wie Peter Bichsel, Melinda Nadj Abonji, Liedermacher Linard Bardill oder Politiker und Reiseerzähler Andrea Hämmerle oder dem Mundartautor Pedro Lenz.
P.S. Wenn Sie keinen Platz für Bücher mehr daheim haben, dann nutzen Sie das Angebot des Buachlada: Der Einkauf für 15 Franken berechtigt, ein altes Buch abzugeben.
Danke für diesen Beitrag; jetzt hab ich es mal wieder in Worte gefasst, weshalb ich so gerne da hin gehe….