Mit Coraggio. Mit Mut.
Michael Guggenheimer
Schriftsteller Urs Widmer pflegte zu sagen, zur Buchhandlung am Hottingerplatz gehe er vorzugsweise in den Pantoffeln. Er hatte es da gut, denn er musste nur zwei Strassen überqueren, um seine bestellten Bücher abzuholen. Würde Urs Widmer heute noch leben, er müsste einzig die schmale Englischviertelstrasse überqueren und wäre schon in einer der schönsten Buchhandlungen der Schweiz. Man muss übrigens nicht im Zürcher Stadtteil Hottingen wohnen, um ganz nah bei Cornelia Schweizers und Heidi Häuslers Bücherreich zu sein. Von Albisrieden oder vom Hardplatz aus führt je eine Strassenbahnlinie direkt vor die Eingangstür der Buchhandlung. Wer schon seit längerer Zeit nicht mehr da war, der muss aber darauf achten: Aus der Hausnummer 35 mach 44! Die Buchhandlung ist nämlich von der einen Strassenseite auf die andere umgezogen. Und gerade damit haben die beiden Buchhändlerinnen bewiesen, wie mutig und innovativ man heute im Buchhandel trotz allen Warnrufen und Klageliedern sein kann. Als Motto für den Umzug wählten die Buchhändlerinnen einen Satz der Zürcher Malerin Hanny Fries: „Man muss mit Coraggio anfangen. Mit Mut“.
Als klar wurde, dass die Buchhandlung am Hottingerplatz nach zwanzig Jahren den angestammten Ort an der Hottingerstrasse 35 wegen einer bevorstehenden Renovation des Hauses würde aufgeben müssen, da suchten die beiden Buchhändlerinnen nach einer Alternative. Klar war, dass die neue Buchhandlung wenn möglich im Quartier bleiben sollte. Und als sich dann die Möglichkeit eröffnete, schräg gegenüber in einem Neubau einen Neuanfang zu machen, da suchten die beiden Eigentümerinnen bei Freunden, Bekannten und Kunden nach Menschen, die sie finanziell beim Aufbau einer ganz neuen Buchhandlung unterstützen könnten. Das Echo war überwältigend. Dank des grosszügigen Sukkurses konnten die beiden Buchhändlerinnen am neuen Ort eine Buchhandlung eröffnen, die sich so anders präsentiert als die vorherige. Gewissermassen hat sich die Buchhandlung am Hottingerplatz neu erfunden. Was vorher mit Büchergestellen einer Vorgängerbuchhandlung etwas abgestanden und durchaus auch bieder wirkte, ist passé. Ein neues Logo, neue elegante Einkaufstüten, eine Auswahl neuer Lesezeichen wurden eingeführt. Und ein neues Mobiliar, das eigens für die Buchhandlung am Hottingerplatz entworfen wurde. Die grafischen Gestalter Regula Ehrliholzer und Marc Droz vom Atelier ‚dreh‘ haben den neuen und frischen Auftritt der Buchhandlung konzipiert, Roland Eberle von der Werkstatt re.form hat die Inneneinrichtung entworfen.
So präsentiert sich die neue Buchhandlung am neuen Ort in einer Eleganz, die andere Buchhändler, Inneneinrichter und Mitarbeiter einer Designzeitschrift dazu bewogen haben, an der Hottingerstrasse vorbeizuschauen, um für andere Orte Ideen zu gewinnen. Und sie sind alle voll des Lobs. Der Buchladen strahlt eine Grosszügigkeit und eine Helligkeit aus, die nicht der Anzahl der Quadratmeter zu verdanken ist, sondern einem ausgeklügelt eleganten Lichtkonzept an der Decke und der Anordnung des neuen Mobiliars. Einer niederländischen „Leestafel“ gleichen zwei Tische in der Raummitte, an denen man sich hinsetzen und Bücher anschauen und lesen darf. Und wirklich: Wer sich hier hinsetzt und stöbert, ist keinem Kaufzwang ausgesetzt. Cornelia Schweizer, als eine grosszügige Person weitherum bekannt, ist Garantin dieser freien Atmosphäre. Gerne wird zudem zur Lektüre kostenlos ein Kaffee oder ein Tee offeriert. Und wirklich sitzen manchmal Menschen an diesen beiden Tischen, die den Buchladen nur betreten haben, um ein Buch anzulesen, ohne dass sie gleich an einen Buchkauf denken.
Der Boden ist weiss, die Decke Nachtblau. Ohnehin ist hier ein ausgeklügeltes Farbenkonzept zur Anwendung gelangt: Moosflechtengelb, Rostrot, Tagblau sind die Farben der Buchhandlung. Hinzu kommt noch eine hauseigene neue Schrift, exklusiv für den Auftritt der Buchhandlung entworfen, mit dem durchaus literarisch gewollten Namen Bernardo Soares, der auf den Lieblingsautor von Cornelia Schweizer deutet. Besonders sind auch die von Roland Eberle entworfenen gemütlichen Sofasitzecken, von denen aus man in alle Richtungen blicken kann. Man hat dann die Büchergestelle aus hellem Buchenholz im Blick, die sich in der Anordnung so abwechseln, dass manche Tablare die Covers zeigen, andere die Bücherrücken. Einer Kommandobrücke gleich wirkt der Steharbeitsplatz im Bücherbestellbereich ganz hinten im Raum. Ein schwerer samtenschöner cognacfarbener Vorhang trennt den Bücherraum vom Administrationsteil. Dass Ästhetik auch im rückwärtigen Bürobereich gilt, zeigt die Wand der Korrespondenzordner.
Vor lauter Begeisterung für die Ästhetik des neuen Ladens hat der Schreibende vergessen, die fundamentalen Qualitäten der Buchhandlung am Hottingerplatz zu erwähnen. Buchhändlerin Cornelia Schweizer kennt die Branche wie wenige andere: Sie hat in St.Gallen gearbeitet und im englischen Canterbury. Sie hat eine englischsprachige und eine literarisch orientierte Buchhandlung in Zürich geleitet. Ihr ist das Literaturfestival „Zürich liest“ zu verdanken, das über die von ihr konzipierte „Lange Nacht der kurzen Geschichten“ sein Gesicht gefunden hat. Die Musikbegeisterte war Mitglied im Stiftungsrat der Pro Helvetia und Präsidentin des Zürcher Buchhändler- und Verlegerverbands. Heidi Häusler ist ebenso wie Cornelia Schweizer eine passionierte Leserin. Sie sagt von sich: „Ich bin Buchhändlerin aus Leidenschaft und es ist mir wichtig, den persönlichen Kontakt zur Kundschaft zu pflegen, den Kundinnen und Kunden genau das Buch zu verkaufen, das sie lesen möchten.“ Romane, Erzählungen, Krimis, Weltliteratur, Lyrik, Biografien, aktuelle Sachbücher, Publikationen zur Schweiz, zur Geschichte und Politik sowie Kinder- und Jugendbücher sind hier ebenso zu haben wie Ratgeberbücher. Und ganz besonders leuchten hier die Bücher zur Typografie und Gestaltung des Mainzer Verlags Hermann Schmidt. Noch eine Besonderheit? Ganz gewiss gibt es sie: Weil die Buchhandlung am Hottingerplatz einzig über ein vergleichsweise ein kleines Schaufenster verfügt, musste ein besonderes Konzept zur Gestaltung des Schaufensters her, in dem jeweils für die Dauer einer Woche ein einziges Buch präsentiert wird. Begonnen hat die Serie der Präsentation mit Büchern der so besonderen Reihe „Naturkunden“, welche die preisgekrönte Büchermacherin Judith Schalansky erfunden hat und betreut. Ob es wohl ein frühes Zeichen der Zeit gewesen sein mag, dass Schalanskys aller erste Lesung und Buchpräsentation in der Schweiz in der „alten“ Buchhandlung am Hottingerplatz zu einer Zeit stattgefunden hat, da kaum jemand die begabte Gestalterin und Autorin gekannt hat? Cornelia Schweizer muss eine besondere Gabe haben, Talente frühzeitig zu erkennen.
Buchhandlung am Hottingerplatz
Hottingerstrasse 44
8032 Zürich
T: 044 251 15 84
www.buchah.ch
Verweilen und schauen
Heinz Egger
Von Weitem zu sehen ist ein nachtblaues Reklameschild, darin ein schlankes goldgelbes B. Da liegt die neue Buchhandlung an der Hottingerstrasse 44. Eine Aktiengesellschaft steht dahinter. Geführt wird sie von Cornelia Schweizer und Heidi Häusler.
„Was vom Leser übrig bleibt“. Auf einem enorm dicken und schweren Buch steht dieser Titel in inverser Schrift auf dunklem Grund. Sonst sind auf dem Buchdeckel nur Linien zu sehen, fünfspaltig. Es sieht wie eine verkleinerte Zeitungsseite aus. Was bedeutet aber dieser Titel? Für wen bleibt etwas übrig? Für den Autor? Für den Verlag? Für die Buchhändlerin? Das ist eine recht philosophische Frage. Vielleicht auch für das Buch? Oder für einen weiteren Leser des Buches? Das ist der Schlüssel.
Jeder kennt die Bücher aus der Bibliothek, in denen mehr oder weniger sorgfältig Markierungen vorkommen. Eselohren, als Hilfe für den Wiedereinstieg. Mit dem Fingernagel eingekerbte Marken an der Seite des Textes, weil der Leser vielleicht etwas nachschlagen will. Bleistiftlinien unter Wörtern, Fragezeichen am Rand. Bemerkungen. Solche Hinterlassenschaften sind häufig. Hin und wieder aber trifft man auf ein Buchzeichen. Das kann eines einer Buchhandlung sein, ein Theater-, Bahn- oder Kinobillett, ein Kassabon, ein Zeitungsausriss oder was immer gerade zur Hand gewesen ist.
Genau dies behandelt das dicke Buch, das im Hermann Schmidt Verlag in Mainz erschienen ist. Es enthält 587 Trouvaillen aus antiquarischen Büchern. Immer steht auch der Titel des Buches, in dem das Fundstück gelegen hat, dabei. Das schafft ohne zusätzliche Worte einen Raum für Geschichten, Beziehungsgeschichten zwischen Leser und Buch.
Das Buch im Schaufenster ist Teil eines Konzepts: Neben ausgestellten Büchern gibt es immer auch ein dazu passendes Objekt, präsentiert auf einem Podest. Passend zu „Was vom Leser übrig bleibt“ ist es ein Fundstück aus einem Buch: Ein bräunliches Papier der Grösse einer Schreibkarte, Handschrift mit Bleistift, Formeln und französische Bemerkungen dazu.
Die nach aussen schwingende Tür steht offen und lädt ein, den Laden zu betreten. L-förmig ist er, hoch. Der Boden leuchtet hell, die Decke verschwindet im Nachtblau. Das macht den Raum nicht kleiner, sondern weiter. Und die dunkle Farbe verschluckt all die Röhren und Kabel der Haustechnik.
Wie Cornelia Schweizer erklärt, laufen Prototypen als Büchergestelle den Wänden entlang. Nein, die haben nichts Provisorisches an sich. Die Seitenwände sind aus Buchenholz. Die Tablare aus Aluminium. Sie bilden Boxen, so dass Buchrücken an Buchrücken sichtbar eingereiht werden kann oder ein einzelnes Buch auf einem Ständer darin präsentiert werden kann. Oder sie haben eine schräge Rückwand und nehmen mehrere Bücher so auf, dass der Buchdeckel zu sehen ist. Alles wirkt äusserst leicht.
Drei lange Holztische stehen im Raum. Einer ist mit Büchern belegt. Die beiden anderen sind frei. Stühle – sehr bequeme! – laden ein, etwas länger in einem Buch zu blättern. In einem vertieften Fach am Ende der Tischplatte liegen Bücher. Es ist unmöglich, da nicht hinzuschauen, zuzugreifen und wenigstens die Klappentexte zu lesen.
Wer nicht am Tisch, sondern wie daheim im bequemen Fauteuil lesen will, der findet auch das: zwei Doppelsessel, verbunden durch einen Bücherkorpus stehen da. Es soll gar eine Kundin gegeben haben, die jeden Donnerstag um 5 Uhr am Nachmittag gekommen sei, um in „101 Nacht“ zu lesen. Die kleine Schwester von „1001 Nacht“ enthält ebenfalls Geschichten aus Arabien. Sie wurden von Claudia Ott nach einem 800 Jahre alten Manuskript übersetzt.
Natürlich gibt es Belletristik, Krimis, Jugendbücher und Bilderbücher, auch ein ganzes Gestell von Gedichten. Zwei Spezialitäten fallen aber auf. Gleich beim Eingang ein ganzes Gestell mit aktuellen Sachbüchern. Was dort aufliegt, stimmt nachdenklich. Es geht um Wandel – nicht nur beim Klima, sondern auch in der Wirtschaft. „Aufbruch aus Europa“ von Urs Schoettli – Die Schweiz soll sich mit den asiatischen Kulturen auseinandersetzen, um zu verstehen, wie sie dort ihre wirtschaftliche Kraft einbringen kann. Es heisst Abschied nehmen vom europäischen Stolz! „TTIP – die Freihandelslüge“ von Thilo Bode. – Wie das transatlantische Bündnis zwischen EU und USA den Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks zu Verlierern macht. Gewinner sind die grossen Konzerne. Auch die Schweiz wird davon betroffen sein.
Nicht weit davon entfernt ein ganzes Gestell, das der Philosophie gewidmet ist. Philosophie ist ein Steckenpferd von Cornelia Schweizer. Wolfgang Schievelbuschs „Das verzehrende Leben der Dinge“ überrascht schon auf der Rückseite des Buchumschlags: Wir werden die Sofas, auf denen wir sitzen, und die Sofas werden wir.
Byung-Chul Han erinnert in seinem philosophischen Essay „Duft der Zeit“ daran, dass Verweilen und Kontemplation im modernen Leben fehlen.
Aber genau dazu, zum Verweilen und Betrachten lädt die lichte Buchhandlung Besucherinnen und Besucher ein!
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