Rudolf Steiners Ort
Michael Guggenheimer
„Beer – Die Buchhandlung am schönsten Platz von Zürich“ heisst es auf der Homepage der Buchhandlung Beer. Autos dürfen den Platz nicht befahren. Die grosse Linde auf der Platzmitte mit ihrer Rundumbank lädt an schönen Tagen zum beschaulichen Sitzen ein. Die alten Häuser am Platz und die St. Peterskirche versetzen jeden Flaneur in eine ruhige Gestimmtheit. Hier könnte man sich hinsetzen und im Schatten des breiten Baums lange und gemütlich einen Roman lesen. Besorgen würde man sich das Buch in der Buchhandlung Beer im Haus Sankt Peterhofstatt 10. Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, hat die Buchhandlung Beer in seinem Coffee Table Book mit dem Titel „Die schönsten Buchhandlungen Europas“ als einzige Schweizer Buchhandlung berücksichtigt. Ob sie aber mit der Buchhandlung Dominicanen in Maastricht, der Buchhandlung am Savignyplatz in Berlin und der Buchhandlung Zum Wetzstein in Freiburg in Breisgau wirklich zu den schönsten zählt?
Schön ist sie. Ganz gewiss. Alte Holzbalken, Eichenstamm im Raum, Parkettboden, altes Mauerwerk, modernes Mobiliar. Eine Sitzgruppe lädt zum langen Verweilen ein. Und tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass Leser hier lange sitzen und lesen, als seien sie zu Gast bei Freunden oder gar bei sich Zuhause. Alles ist hier stimmungsvoll. Und alt-ehrwürdig. 1832 wurde die Buchhandlung gegründet und sie ist die älteste Buchhandlung Zürichs, die immer noch den Namen von einst trägt.
Lange prägte der aus St.Gallen stammende Buchhändler Volker-Dieter Wolf die Buchhandlung. Die Pfeife im Mund stand er hinter der Theke, war bei der Suche nach einem Buchtitel in den grünen Bänden des Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) schneller als manch ein junger Kollege am Computer. Belletristik lag ihm am Herzen, der selber mehrere Gedichtbände publiziert hat und noch heute Mitglied bei der Vereinigung der Schweizer Schriftsteller a.d.s. ist. Betrat man damals die Buchhandlung, dann nahm man den Duft von feinem Pfeifentabak wahr, den man zu Hause beim Öffnen des Buchs unter Umständen nochmals riechen konnte. Als er sich vom Berufsleben zurückzog, kaufte die in Zug wohnhafte Familie Pifaretti das Geschäft. Mit den neuen Besitzern erhielt die Buchhandlung Beer eine andere Note: „Es ist mein besonderes Anliegen, das gesamte Vortrags- und schriftliche Werk Rudolf Steiners sowie die reichhaltige und differenzierte anthroposophische Literatur in Zürich anzubieten.“, sagt Besitzerin und Mäzenin Ursula Pifaretti, die selber eine Waldorfschule besucht hat und das Werk Steiners gut kennt. Was mit der Übernahme des Bestandes der geschlossenen Buchhandlung Madliger Schwab eher vorsichtig begann, lässt sich heute sehen: Eine ganze Wand, wohl 8 Meter breit, mit anthroposophischer Literatur, Bücher des Rudolf Steiner Verlags in Dornach, des Verlags Freies Geistesleben, des Verlags des Ita Wegmann Instituts sowie des Verlags am Goetheanum sind das „Standbein der Buchhandlung, die Belletristik ist unser Spielbein“, sagt Buchhändler Jan Kolb, der selber einst wie so viele die Rudolf Steiner Schule in Wetzikon besucht hat, jedoch kein Anthroposoph ist.
Rudolf Steiners Bücher sind in grosser Fülle hier zu haben. Steiner, Philosoph und Esoteriker, Begründer der Anthroposophie, Vater der Waldorfpädagogik und Anreger der bio-dynamischen Landwirtschaft, hat unzählige Vorträge gehalten, die fleissige Diszipel mitgeschrieben haben. „Über die astrale Welt“, „Das Prinzip der spirituellen Ökonomie“, „Das Wesen der Farben“, „Das christliche Mysterium“ lauten Titel seiner zahlreichen Bücher. Anhänger seiner Lehre aus der ganzen Schweiz beziehen seine Schriften an der Sankt Peterhofstatt. Dennoch lässt sich das belletristische Angebot durchaus sehen. Hatten Lehrmittel und Schulbücher bis vor wenigen Jahren eine grosse Präsenz in der Buchhandlung, so ist ihre Anzahl mittlerweile drastisch zurückgegangen, sei es weil immer mehr Schulmaterial elektronisch bereitgestellt wird oder weil Schulen ihre Materialien in der Buchhandlung der Pädagogischen Hochschule beziehen.
Für Touristen, die beim Flanieren durch die Altstadt an die Sankt Peterhofstatt gelangen, bietet die Buchhandlung Beer nicht wenige Turicensia an, Bücher, deren Thema die Stadt Zürich ist. Hoch oben in einem Büchergestell und nur mit Hilfe eines Bocks zu erreichen, warten die 26 Krimis von Viktor Schobinger auf ihre Leser, Literatur im Zürcher Dialekt. „Em Sinuke sini Gschicht“ ist Schobingers originellstes Werk, eine Übersetzung aus der Hiroglyphenschrift Alt-Aegyptens. Einzig die Buchhandlung Beer verkauft Schobingers Bücher, sie ist gleichzeitig die Auslieferungsstelle des Schobinger Verlags. „Ist wieder in einer Quartierzeitung ein Porträt von Schobinger zu lesen oder wird sein Werk im Radio erwähnt, merken wir es an den Bestellungen, die da kommen“, sagt Buchhändler Wolfgang Müller, der früher im Raum Frankfurt als Drucker tätig war und ein guter Krimikenner ist.
An einer Säule im Geschäft sind Ankündigungen von Veranstaltungen zu sehen. Der Michael Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz lädt ein. Da ist eine Einladung zu einem Kurs Karmabetrachtungen zu sehen und eine weitere zu den Mysteriendramen Rudolf Steiners. Regelmässig finden in der Buchhandlung Abendveranstaltungen statt. Das Mobiliar auf Rollen lässt sich dann verschieben, 50 Zuhörenden kann der Raum Platz bieten. Peter Selg, ein deutscher Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Autor zahlreicher Publikationen besonders zur anthroposophischen Medizin sowie zur Geschichte der Anthroposophie, hält hier regelmässig Vorträge. Seine Themen lauten „Das menschliche Herz“, „Die Leiden der nathanischen Seele“. Andere Autoren sprechen über „Das Ätherische“ oder halten ein „Plädoyer für die Seele“. Bei manchen Veranstaltungen kann die Buchhandlung auch den Lavatersaal an der Sankt Peterhofstatt mieten. Auch Bücher und Autoren, die durchaus nichts mit der Lehre Steiners zu tun haben, finden Platz im Veranstaltungskalender der Buchhandlung. Urs Faes, Judith Givanelli-Blocher , Anita Albus oder Ulrich Knellwolf sind in letzter Zeit in der Buchhandlung aufgetreten.
Buchhandlung Beer
Sankt Peterhofstatt 10
8001 Zürich
T: 044 211 27 05
www.buch-beer.ch/
Eigenleben
Heinz Egger
Die Tür steht offen. Ein kalter Windhauch fegt die schwere Luft nach einer Veranstaltung mit 40 Leuten hinaus, während Wolfgang Müller die schwer beladenen Rollkorpusse und den ovalen Tisch auf winzigen Rädchen wieder an ihren Platz schiebt. Er legt die abgeräumten Bücher wieder aus, ordnet da noch etwas und dort. Dann zieht er sich die Jacke über, wirft nochmals einen Blick über den grossen Raum und macht das Licht aus. Schlagartig umhüllt der undurchdringliche Mantel der Nacht die Tiefen der Buchhandlung. Die beiden dicken, hölzernen Pfeiler, die die Deckenbalken stützen und der zarte Bogen aus Holz vom hinteren Pfeiler zum Balken und hinüber in die Wand hinein verschwinden im Dunkel. Die Tür fällt ins Schloss, der Riegel fährt in den Halteschlitz. Des Buchhändlers Schritte verhallen durch den leeren Platz.
Nur die Lampen in den Schaufenster brennen noch, Lichtstrahlen fahren wie Messer über die Fensterlaibungen und legen die Innereien der Hauswand frei. Klaffende Wunden aus roh behauenem Sandstein, Ziegelsteinen verschiedener Grösse, Mörteladern und Geschwüre. Die Baugeschichte auf einen Blick.
Leises Schieben, Rascheln und Kratzen erfüllt den Raum, dann Flüstern. Die grosse Versammlung der Anthroposophen hat begonnen. Zuhinterst im Raum belegen sie eine ganze Wand, beispielsweise 200 Bände Rudolf Steiner. Es sind vorwiegend seine Reden, die mitstenografiert, transkribiert und dann zu Büchern verarbeitet wurden. So gibt es denn auch genügend Stoff für Diskussionen. Auch dies füllt Bände.
Die Belletristik bildet einen eigenen Zirkel. Die Themen sind hier nicht weniger vielfältig, die Diskussionen nicht weniger heftig. Die Titel verraten es: Peter Scholl-Latour, Der Fluch der bösen Tat; Alex Capus, Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer; Nagib Machfus, Ehrenwerter Herr; Arnon Grünberg, Der jüdische Messias; Michel Houllebecq, Unterwerfung. Edward Binkers Lockruf der Nacht hat nur auf diese Stunde gewartet.
Auf dem ovalen Tisch steht eine Vase mit Tulpen. Der zarte Rosa-Schimmer der Blüten bringt Eva-Maria Basts Tulpentanz in helle Aufregung, was Marion Gräfin Dönhoffs Zeichen ihrer Zeit nicht verstehen kann. Michèle Minellis Wassergrab hat dazu ihre eigene Meinung.
Ausgeschlossen fühlen sich die Krimis von Victor Schobinger, erschienen in seinem eigenen Verlag. Sie stehen gelb beieinander, wissend, dass sie besonders sind, weil sie nur in dieser Buchhandlung vertrieben werden. Dialekt, geschrieben mit Akzenten, damit der Lesende eher weiss, was für eine Klangfarbe die Laute haben, beispielsweise Doppel-E mit Accent grave.
Davor, gleich bei der Türe stehen Bücher zu Zürich, Neujahrsblätter, eine Ausgabe der Feurewerker-Gesellschaft Zürich mit Texten und Bildern zur Entwicklung von Panzerhaubitzen. Dieser rote Broschur ist ebenfalls nur bei Beer zu haben. Stummes Zuschauen und Staunen, aber keine Teilnahme.
Etwas abseits nach den beiden Theken mit Kasse und Bildschirmarbeitsplatz stehen Werke zur Hand des Lehrers. Das war einst eine grosse Abteilung bei Beer, eine Inspirationsquelle für den Unterricht. Die Lehrer tauchen aber nicht mehr häufig auf, sie sind abgewandert – ins Internet. Geschichte, Chemie, Mathematik. Sie räuspern sich trocken und sind froh um ihre Ruhe.
Als sich über der Linde auf der St. Peter-Hofstatt mit Rosenfingern der Morgen ankündigt, wird es ruhig. Hier noch ein leises Schaben, dort ein letztes Seufzen. Vielleicht ist es von Dunja Batarilos, Die Brückenbauerin, vielleicht auch von Mirko Beetschens Schattenbruder. Dann ist es still. Die Schaufenster spiegeln den schönsten Platz der Stadt.