Vor dem Umzug
Michael Guggenheimer
„Schade, dass er wegzieht“, sagt Bernard Cathomas, ehemaliger Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und späterer Direktor von Radio Televisiun Rumantscha. Gemeint ist Walter Lietha, der am Karlihof und gleich neben dem Staatsarchiv und der Kantonsbibliothek Graubünden in Chur ein Buchantiquariat führt. Im Zürcher Tagesanzeiger hatte es 2013 noch geheissen, Liethas Antiquariat stelle so etwas wie das geistige Zentrum Churs dar. Und wirklich: wer eine Weile im Buchantiquariat „Narrenschiff“ bleibt, erlebt, dass immer wieder Menschen den Laden betreten, um mit Lietha über Kultur, Politik, Bücher und Umwelt zu sprechen. Und doch: noch in diesem Jahr schliesst Lietha sein Bücherreich und eröffnet es nur wenige Kilometer von Chur entfernt im Dorf Trin wieder. Doch diesmal soll es mehr als eine Buchort werden, ein Kulturort mit Buchhandlung, Bühne und Gästezimmern plant Lietha im Gruppenhaus Ringel. Lietha war schon immer ein Querdenker, ein 68er. Ausserhalb des Kantons Graubünden kennen ihn viele als Sänger, den Ausdruck „Liedermacher“ hört er jedoch nicht gerne.
„Die Bergwaldpension Ringel AG, Besitzerin des Gasthauses Ringel in Trin wurde per Ende 2016 an einen neuen Besitzer verkauft. Fortan wird sie unter dem Namen Ringel-Refugium AG weiter existieren“ heisst es in einer Mitteilung Liethas, in der angedeutet wird, dass das Churer Antiquariat umziehen wird. „Die bisherigen Aktivitäten, die Beherbergung von Gruppen und Einzelpersonen, werden reduziert weitergeführt. Im Haus soll nun eine Begegnungsstätte mit Kulturgut für Besucher und Gäste eingerichtet werden, welche mit Beginn 2018 eröffnet werden soll“. Und weiter heisst es: „Das ‚Ringel Refugium’ bietet sich an für Vorträge und Tagungen, aber auch als Gästehaus für Musiker, Literaten und Künstler. Im Haus sollen umfangreiche Sammlungen von Büchern und Kunstgegenständen zur Benutzung und zum Erwerb angeboten werden. Auch Darbietungen oder Ausstellungen im kulturellem Umfeld können im eigenen Saal zur Aufführung gelangen“ .„Trin ist nicht weit weg von Chur, die Sammler werden den Weg an den neuen Ort finden. Mit dem Bus dauert es nicht einmal eine Viertelstunde. Liethas Kunden sind kulturaffine Menschen, die den Weg an den neuen Ort nicht scheuen werden“, sagt Bernard Cathomas.
So weit die Zukunft. Noch wird das Haus im Dorf umgebaut. Und noch ist Walter Lietha in seinem Antiquariat in Chur anzutreffen. Noch ein zweites Projekt beschäftigt ihn derzeit: Vom September bis zum Januar wird Architekt Peter Zumthor im Kunsthaus Bregenz mit Tausenden von Büchern aus Liethas Bücherlager zum zwanzigjährigen Jubiläum des Museums eine grosse Buchinstallation zeigen. Daran, dass die präsentierten Bücher eine weite thematische Spanne haben werden, zweifelt man nicht, wenn man Liethas Antiquariat besucht.
Wenn man ihn direkt nach der Geschichte seiner Bücherreichs fragt, reagiert er zwar zunächst unwirsch, auf ein Verhör lasse er sich nicht ein. Doch kaum zeigt man Interesse an eine signierte Ausgabe des Mozartbuchs von Wolfgang Hildesheimer, beginnt der Büchermann zu sprechen, erinnert sich an einzelne Besuche von Hildesheimer im Antiquariat und zieht einen Bogen von dem einen Emigranten aus Deutschland zu einem anderen Emigranten, zu Emil Ludwig Kirchner, dem Maler, der in Davos genau an dem Tag, da aus Bern der Bescheid gekommen war, er könne nicht in der Schweiz bleiben, Selbstmord begangen hatte. Lietha weiss sogar noch, wo Kirchner die Pistole her hatte.
Das Gespräch zwischen den voll beladenen Büchergestellen dehnt sich aus auf das neue Kunstmuseum in Chur, dessen Architektur und Präsentation der Kunstwerke Lietha nicht mag. Der Mann mit den mehr als schulterlangen Haaren und der Metallbrille, der über seinen Pulli noch eine Norwegerjacke trägt, ist ein wunderbarer Erzähler und Gastgeber. „Bücher waren für mich immer wichtig“, sagt er später. Er hätte schon als Junge das Tao Te King mit ins Spital genommen, als er wegen einer Leukämie behandelt wurde. Auf einem runden Tisch stehen Kaffeetassen, Lietha setzt sich hin und führt ein langes Gespräch mit einem Büchersammler, der aus Basel angereist ist und im Kellergeschoss ein Bild gefunden hat, das er kaufen will. Doch Lietha ist mehr als ein Schöngeist: Sein Antiquariat verfügt über einen gut betreuten Online-Katalog. Bücher von Hildesheimer gefällig? Hier gibt es mehr zu haben als in den meisten Zürcher Antiquariaten.
Wie weit die Interessen Liethas reichen, wird beim Durchschreiten des Antiquariats sichtbar. Dabei ist ein Durchschreiten gar nicht möglich. Es ist vielmehr ein langsames sich Vorwärtsbewegen von einer Nische zur nächsten, denn Liethas Reich, welches das Erdgeschoss und einen Keller umfasst, ist in Nischen eingeteilt. Unglaublich viel Lyrik, Mythologie, Märchen und Sagen in der einen Nische, Philosophie, Buddhismus, Meditation, Bachblüten und Naturheilkunde in einer anderen. Andere Sammelbereiche heissen Engel, Indianer, Geheimbünde, Kelten, Drogen. Aber auch psychologische Werke, Kunstbände, Koch- und Architekturbücher. Eine Regalwand mit Taschenbüchern, eine weitere Nische mit Biografien, Theater- und Filmbüchern, Bibelausgaben und theologischer Literatur führt Lietha. Eine Wendeltreppe führt in den Kellerbereich, wo die Bücherthemen von Afrika bis nach Indien und Japan reichen, wo gerahmte Bilder auf ihren Verkauf warten. Eine ganze Wand Graubünden, viele rätoromanische Publikationen. „Wer Rhaetica sucht und sammelt, der kommt um Liethas Antiquariat nicht herum“, sagt Chasper Pult, einer der besten Kenner des Bündnerlandes. In seinem Calvenverlag bringt Lietha Publikationen zum Bündnerland, zum Teil auch Reprints von lang vergriffenen Werken. „Schade, dass er wegzieht“, sagt auch Pult. Im Antiquariat konnte man sogar Bücher für die Kantonsbibliothek abgeben, wenn diese geschlossen war.
Buchhandlung Karlihof, Antiquariat Narrenschiff
Karlihof 1
7000 Chur
T: 081 252 10 81
www.narrenschiff.ch
„… interessiert mich nicht!“
Heinz Egger
Ein runder Tisch mit vier Stühlen. Darauf das, was dem Buchhändler und Antiquar Walter Lietha dient: drei Ordner, ein paar Bücher, die Tageszeitung, ein Kugelschreiber, eine Mandarine, eine angebrochene Getränkeflasche, eine fast heruntergebrannte Kerze, eine Leselampe. Wohnzimmerstimmung trotz der hellen Spots. Die Decke ist mit braunen Stoffbahnen bedeckt, die in sanften Wellen von einer Seite des Raums zur anderen laufen.
Ja, ich fühle mich als Eindringling in diesem Wohnraum. Für ein Verhör sei er nicht zu haben, sagt er, als wir ihm ein paar Fragen stellen wollen. Wer die Ohren offen habe, der werde einiges vernehmen. Ihn interessieren nicht Quantität, sondern Qualität. Wie viele Orte in buchort.ch verzeichnet sind, interessiert ihn nicht. Das Internet ist ihm ein notwendiges Übel. Aber den etwas lauten Laserdrucker stellt er ab, als wir ins Gespräch kommen. Er ist ein markiger Mann mit klaren Positionen. Sein graues, langes, sehr gepflegtes Haar umwallt sein Gesicht.
Ich setze mich vielleicht etwas frech an den Wohnzimmertisch und beginne meine Eindrücke festzuhalten, hoffend, dass meine Ohren hören werden. Es gibt nur einen Raum oben, überschaubar, aber wegen den Gestellen und Ablagen nicht überall einsehbar. In einer winzigen, engen Büroecke steht Walter Lietha oder sitzt und arbeitet. Es scheint, als sei dies die Schaltzentrale in dem kleinen, ruhigen Reich.
Links von mir steht ein Schemel mit Kunstbüchern darauf. Ein schlankes, hohes Gemälde einer Tänzerin lehnt daran. Auf einer Holzleiste über den Gestellen stehen weitere Bilder aus seiner Sammlung.
Ein Kunde sucht ein ganz bestimmtes Büchlein über die Churer Fastnacht. Walter Lietha öffnet seine Datenbank mit den antiquarischen Büchern und sucht. In der Datenbank sind all seine Schätze verzeichnet – mehr als 100 000 sind es. Ihn habe es als Heranwachsenden gestört, vor den Häusern in der Stadt ganze Kisten voller Bücher zu sehen, die von der Kehrichtabfuhr mitgenommen werden sollten. So habe er begonnen zu sammeln. Nicht nur Bücher, auch Fotos, Postkarten, Bilder, Vinyl-Schallplatten. In seiner Sammlung findet Walter Lietha etwas Ähnliches für den Kunden. Er steigt in den Keller hinab und holt es. In der Zwischenzeit geht der Kunde durch den Laden und findet ein weiteres Buch, das ihn interessiert. Er schaut genau an, was aus dem Keller heraufgeholt wurde und entscheidet sich, das kleine Werk zu kaufen. Er legt beide Bücher auf die Theke, tippt darauf und sagt, er habe die Preise gesehen, da könne man doch sicher noch etwas machen. Das heisst wohl, dass der Kunde eine Reduktion erwartet. Schliesslich wird ein Preis genannt und bezahlt.
Walter Lietha hat sich mit 17 fürs Buch entschieden und ist mit Leib und Seele dabei geblieben. 1974 hat er seine eigene Buchhandlung eröffnet. Aber er wird den Ort bald verlassen. Trin heisst die nächste Station. Viele Bewohnerinnen und Bewohner dieser kleinen Gemeinde in der Nähe von Flims sind abgewandert. Es ist nichts mehr los im Dorf. Dort soll ein Refugium, ein Rückzugsort entstehen. Lesen braucht Zeit, die finde man in der Stadt nicht. Es soll ein Berghaus voller Bücher werden. Seine Schätze sollen den Besucherinnen und Besuchern zugänglich sein. Anstatt tot im Keller, sollen die Bücher zum Leben erweckt werden, schwärmt Walter Lietha. Ein Ort der Erholung soll es werden, mitten in den Naturschönheiten des Flimser Waldes, der Seen und der nahen Rheinschlucht. Auch eine Zusammenarbeit mit der Gemeinde ist geplant. Konzerte, Schriftsteller, die längere Zeit dort verbringen, um zu forschen und zu schreiben. Das Einlesen in die alten Schriften sei sehr zeitaufwändig. Der Umzug hat schon begonnen. Ein Jahr dürfte er dauern.
Gern zeigt er ein kunsthandwerkliches Buch, ein aussergewöhnliches Buch: Weisses Leder in weissem Schuber. Eigentlich, denke ich, müsste man Handschuhe anziehen, um das Werk nicht zu beschädigen. Es ist ein handillustrierter Band. Bilder im Stile des Mittelalters und die Texte stammen von der Künstlerin Anita Campell. Gedruckt wurde das Buch bei der Offizin Parnassia, Vättis, mit einer eigens für das Projekt hergestellten Schrift.
Am Boden Bananenschachteln mit Büchern. Sie sind wohl noch zu erfassen. Oder sind sie zum Umzug vorbereitet?
Walter Liethas Bücher gehen allerdings zuerst in einen anderen Raum: Der Architekt Peter Zumthor hat das Kunsthaus in Bregenz gebaut. Er will dort als Kunstevent eine Bibliothek einrichten. Selbstverständlich dürfen die Museumsbesucherinnen und -besucher die Bücher anfassen, auch erwerben. Wie letzteres geschehen soll bespricht er mit dem Sohn von Peter Zumthor. Als Peter Conradin Zumthor den Laden betritt, fliegt ein Strahlen über das Gesicht von Walter Lietha. ein weiteres Strahlen löst die Vinyl-Platte mit Aufnahmen des Schlagzeugers aus. Sie sei eben von der Presse gekommen, schwärmt Peter Conradin Zumthor. Im Laden kann die Platte nicht abgespielt werden. Da steht nur ein ältere Anlage für CDs, die auf einem Tisch und in einem Kasten auf der Anlage angeboten werden.
Weil sich die beiden an „meinen“ Tisch setzen, entspannt sich ein kleines Gespräch. Es handelt allerdings nicht von Büchern, sondern vom neuen Bau des Bündner Kunsthauses, den beide nicht so gelungen finden. Ein Bunker, schlechte Beleuchtung und unmögliche Personenführung …
Was neu ist und was alt ist, lässt sich im Laden nicht immer unterscheiden. Im Keller lagern aber einige der Antiquitäten. Über eine Wendeltreppe gelangt man ins Untergeschoss. Den Abgang überwacht eine chinesische Marionette, die an den Kabeln der Deckenbeleuchtung baumelt.
Neonlicht. Beim Ausstieg aus der Treppe Bilder. Gestelle mit antiquarischen Büchern, Rücken an Rücken. Dazwischen stecken die Träger der Kategorien aus Karton: Polarexpeditionen, Alpinismus, Volkskunde, Eisenbahn und Automobil, Fliegerei, Zoologie, Pferde und Reiten entdecke ich an einer Wand. Eine offen stehenden Vitrine ist berstend voll. Imre Madach, Die Tragödie des Menschen. Oliver Goldsmith, Der Vikar von Wakefield. Olaf Gulbbransson, Es war einmal.
Drei Verlage beherbergt die Buchhandlung überdies und Lieder schreibt und singt Walter Lietha auch noch.
Im Karlihof besteht noch für kurze Zeit ein aussergewöhnlicher Buchort, geleitet von einem aussergewöhnlichen Buchhändler: selbstsicher, kultiviert und mit überzeugender Lebensphilosophie.