Mit Kaffee und Kuchen
Michael Guggenheimer
Dies ist die Geschichte einer Buchhandlung, die es eigentlich gar nicht mehr geben würde, hätte nicht eine buchbegeisterte Frau den Mut gehabt, als Quereinsteigerin die Chance zu ergreifen und das Risiko einzugehen, eine von der Schliessung bedrohte Buchhandlung zu übernehmen.
Doch der Reihe nach. Die Stadt Dietikon, zwischen Zürich und Baden gelegen, hat vor sieben Jahren beinahe ihre Buchhandlung „Scriptum“ verloren. Die langjährige Besitzerin wollte den Laden nach 25 Jahren altershalber aufgeben. Doch da war Corinne Frischknecht, die früher im Tourismusbereich gearbeitet aus Liebe zum Buch einen Quereinsteigerkurs beim Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverband (SBVV) absolviert hatte. Was mit einer 20-Prozent-Stelle in der Buchhandlung begann, führte zur Übernahme der Buchhandlung, die sie zunächst am angestammten Ort führte, um mit ihr im Januar 2018 auf die andere Strassenseite zu ziehen und mit einem vollends neuen Konzept zu führen. Die Neugierde und Vorfreude auf die neue Ladenlokalität sowie die Freundschaft mit Alessandra Barzotto führten zu einem neuen Konzept, das sogar den Stadtpräsidenten von Dietikon dazu verführte, den neuen Ort als eine „Oase im Ort“ zu bezeichnen.
Dazu muss man wissen, dass es im Limmattal, wo sich Dietikon befindet, nicht an grossen Einkaufszentren mit hunderten von Parkplätzen und „Erlebnis-Einkaufslandschaften“ mangelt. Klar, dass sich in diesen modernen Konsumlandschaften auch Filialen von Buchhandelsketten befinden. „Scriptum“ hingegen ist in einer alten Liegenschaft untergebracht, die durchaus in einem Buch von Selma Lagerlöf als Handlungsort eines Romans dienen könnte. Was die beiden Frauen mit dem Umzug in ein grösseres Lokal verwirklicht haben, nennen sie „Wohnbuchhandlung“. Das Konzept haben sie – und das bedeutet keineswegs eine Herbstufung ihrer Leistung – in der am Rhein gelegenen Ortschaft Gau-Algesheim zwischen Bingen und Ingelheim angeschaut und angepasst: „herr holgersson – lesen & leben“ heisst die dortige Buchhandlung, die ebenso von einer Gruppe von Frauen geleitet wird. „herr holgersson“ hat in den deutschen Medien eine grosse Beachtung gefunden und mittlerweile auch Anerkennungspreise als besondere Buchhandlung erhalten.
Dorthin sind Corinne Frischknecht und Alessandra Barzotto gefahren, dort haben sie sich umgeschaut und sich mit dem dortigen Team unterhalten, um dann in Dietikon ein eigenes Konzept umzusetzen. Worin sich Scriptum“ von anderen Buchhandlungen unterscheidet? Die Bücher stehen zwar im Zentrum des Interesses der beiden Frauen. Doch rund um die Bücher sind so viele Nonbooks arrangiert, dass man zeitweise vergessen könnte, dass man sich in einem Ort befindet, in dem man Bücher kaufen kann. 2500 Bücher und 1000 Nonbooks seien im Angebot, haben sie dem Branchenblatt „Schweizer Buchhandel“ erzählt.
Und worin sich der Ort von anderen Buchorten unterscheidet? Es sind die Räume, die den Unterschied ausmachen. Ähnlich wie die englischsprachige Zürcher Buchhandlung „Pile of Books“ handelt es sich hier um ein ehemaliges Geschäft mit Wohnung. Man spaziert von einem Raum zum anderen, verliert sogar ganz kurz die Übersicht, begibt sich vom grosszügigen Geschäftsraum mit Namen „Wohnzimmer“ in ein „Kinderzimmer“, von dort zum „Arbeitszimmer“ bis hin zum „Hausbibliothek“ genannten Zimmer. Freundlich bitten die Damen jene Kundinnen und Kunden, die hier zum ersten Mal sind, doch die ganze Wohnung zu erkunden. Jeder Raum strahlt eine andere Stimmung aus, in jedem wurden Buchangebot und Thema einander angepasst. Im „Kinderzimmer“ also viele Kinder- und Jugendbücher schön nach Altersgruppen geordnet, in der „Hausbibliothek“ die Belletristik, im Gang neben der Küche in der „Vorratskammer“ genannten Gangecke im Gestell mit den Kochbüchern sind auch noch Gewürzgläser, Nudeln im Glas, Pestos, Speiseöle und Essigsorten zu haben. Im „Wohnzimmer“ werden Leselämpchen, Bleistifte, Notiz- und Tagebücher, Geschenkpapiere, Brillenputztücher, Strassenkreiden, Backformen, Abtrockentücher, Kerzen, Tassen, Metalldöschen für die ersten Zähne, Servietten, Glyzerin Seifen, Bastkörbe und Esstisch-Sets angeboten. An zwei Tischen, die zu einem langen Tisch zusammengestellt wurden, kann man sich Fruchtsäfte, Kaffee und Tee sowie Muffins und Kuchen bringen lassen. „Bücher Kafi“ heisst der Bereich, wo bei unserem Besuch auch wirklich ein Herr sitzt, Kaffee trinkt und die Lokalzeitung liest.
Die Ladentür ist während unseres Besuchs zuerst angelehnt, etwas später weit geöffnet. Immer wieder schauen Kundinnen hinein, die nicht nur Bücher kaufen, sondern sich nach einem Geburtstagsgeschenk oder einem Mitbringsel umschauen. Schwellenangst muss hier niemand haben. In manchen Bereichen sind bei „Scriptum“ die Bücher sehr locker angeordnet. Die Auswahl der Bücher in der „Hausbibliothek“ geht eindeutig in Richtung Unterhaltungsromane, aber auch Robert Menasse, Sten Nadolny, Zsuzsa Bank, Jonas Lüscher haben hier Platz gefunden.
Die einzelnen Büchergestelle tragen immer wieder Bezeichnungen in Mundart wie „schwyzerisch“ für die hiesige Belletristik, „ermittle“ für den Bereich der Krimis, „verschlinge“ für Elena Ferrante, Hermann Koch, und Marc Levy oder „erläbe“, wo sich Reise- und Sachbücher finden. Im Belletristrikreich stehen zwei bequeme Polstersessel, für unseren Geschmack sehr rosa, wie manches an der Einrichtung etwas zu süsslich. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Hauptsache aber: Dietikon hat weiterhin eine Buchhandlung. Vom August an wird sogar eine Lehrstelle besetzt werden und die engagierten Buchhändlerinnen bleiben dran!
Buchhandlung Scriptum
Bremgartnerstrasse 23
8953 Dietikon
T: 044 740 16 28
www.buchhandlung-scriptum.ch
Verspieltes Ambiente
Heinz Egger
Scriptum ist Anfang Jahr umgezogen, quasi über die Strasse in eine Liegenschaft der Stadt. Dazu gibt es sogar ein Umzugstagebuch auf dem Web (http://www.buchhandlung-scriptum.ch/categories-54-0/umzugs-tagebuch). Die Idee, einen neuen Ort zu suchen, der mehr Platz bietet und ein neues Konzept unterstützt, ist 2015 entstanden. Eine Wohnbuchhandlung sollte es werden. Eine Art der Buchpräsentation, die es in der Schweiz bislang nicht gab. Wohnen und Buch? Ja, und mehr, denn zum Wohnen gehören auch Dinge der Einrichtung, der Verschönerung und Essbares. Ein ähnliches Konzept gibt es in Deutschland in der Buchhandlung „herr holgersson“. Die Buchhandlung liegt in Gau-Algesheim südwestlich von Mainz. Natürlich hat das Team von Scriptum mit Deutschland konferiert, man hat sich auch besucht und sich über die Idee ausgetauscht. Dort habe man recht offen zu Fragen des Konzepts geredet, sagt Inhaberin Corinne Frischknecht, ganz im Gegensatz zur Schweiz, wo eigentlich sich niemand in die Karten schauen lasse.
Die Wohnbuchhandlung hat fünf Verkaufsräume. Durch die in der Hausecke angebrachte Tür betritt man das Wohnzimmer, den grössten Raum. Alles ist weiss: die Wände, die Decken mit den Stuckkaturen, die Möbel. Einzig der Parkettboden ist dunkel. Drei grosse Fenster zur Rechten spenden Licht – und Wärme, wenn die Sonne scheint. Geradeaus steht die Theke, dahinter ist eine Durchreiche zur Küche. Zwei lange, schräg in den Raum gestellte Tische mit Stühlen laden ein, sich zuerst einmal zu setzen, anzukommen und beispielsweise einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu geniessen. Letzteres ist sehr empfohlen, die 13-jährige Tochter Mara von Corinne Frischknecht bäckt zweimal in der Woche fürs Bücherkafi. Falls sie verhindert ist, übernimmt die 17-jährige Schwester Rina das Backen. An der Wand über dem Möbel im Shabby-Look mit vielen Kleinigkeiten für die Verschönerung des Esstischs leuchtet der Wahlspruch des Hauses in goldener Schrift: Das Glück ist eine Tasse Kaffee und ein wirklich gutes Buch. Daneben ist ein Bücherturm gemalt. Obendrauf dampft eine heisse Tasse Kaffee. Wer lieber etwas Kaltes geniesst, findet eine Auswahl an Limonaden und Tees von Lemonaid/Charitea. Jede verkaufte Flasche liefert einen kleinen Beitrag an Entwicklungshilfeprojekte.
Links vor dem Tisch ist mit Sofa, Sessel, Kaminfeuer, Leselampe und Clubtischchen eine Wohnzimmer-Ecke eingerichtet. Natürlich sind da auch Bücher: „200 Frauen, was uns bewegt – Frauen, die den Blick auf unsere Welt verändern“, herausgegeben von Geoff Blackwell und Ruth Hobday, erschienen bei Suhrkamp 2017. Auf einem Beistelltisch steht ein Glas mit Stäbchen drin, ein Duftspender. In schönen Kartonschachteln stehen weitere solche Spender am Boden und auf dem Tischchen. Natürlich stehen sie zum Verkauf.
Etwas weiter vorn neben der Wohnecke lädt ein geöffneter Sekretär zum Stöbern ein. Eine Lesebrille liegt auf der Klappe, Bücher liegen auf, eine Leselampe steckt in einem Taschenbuch. Es sieht ganz so aus, als hätte jemand hier eben noch gelesen.
Über dem Türrahmen zu den weiteren Räumen steht „Wohnigsrundgang“. Alle Namen der Räume und die Anschriften an den Büchergestellen sind in Mundart geschrieben. Grosse schwarze Schrift auf weissem Papier in einem einfachen, weissen, hölzernen Rahmen. Wer durch den Türrahmen schreitet, kommt in einen kleinen „Verteilerraum“. Geradeaus ist die Gästetoilette, daneben der kleine, gekachelte Raum zum Händewaschen. Und davor, ein Angebot an Handcrèmes. „Warum nicht gleich die Hände pflegen nach dem Waschen?“, fragt Corinne Frischknecht mit einem Lächeln. Falls jemand vor besetzter Toilette warten muss, kann er sich mit dem grossen Gestell an der rechten Seite auseinandersetzen: Öle, Gewürze, Balsamico-Essig, Gläser mit Pesto. Natürlich stehen in diesem Gestell auch Kochbücher.
Durch die offene Türe nach links gelangt man in einen Gang. Darin stehen rechts zwei metallene Gestelle, die jenen Leuten zur Verfügung stehen, die ihre selbst gefertigten Sachen hier anbieten wollen. Im Moment sind auf dem einen Gestell Schmuck und geflochtene Schalen aus Afrika ausgestellt. Das andere Gestell belegen Seifen und Accessoires fürs Bad.
Von diesem Gang aus gelangt man ins Kinderzimmer, wo einem die Feuerwehr „entgegenbraust“. Es ist das schöne, kindergerechte „Ausstellungsmobil“ des Ravensburger Verlags. Im Zimmer steht auch ein Kinderbett, zwei Kindersessel mit Armlehnen. Und ein Rennauto lädt ein, sich darauf zu setzen und in dem grosszügigen Raum vor den vielen Büchern eine Runde zu drehen.
Im Gang ist eine Türe verschlossen, dort liegt das Büro von Corinne Frischknecht. Auf die andere Seite gelangt man ins öffentliche Büro. Dort steht ein Bürotisch, auf dem ein Computer eingerichtet ist. Hier können bei einer Beratung Bücher gesucht und auch bestellt werden. Es ist der Arbeitsplatz der anderen Angestellten: Alessandra Barzotto, die für die ganze Innengestaltung verantwortlich ist, Brigitte Hospenthal und Katja Jeggli. Im Büro prangt an der Wand eine aufgemalte Weltarte, gestaltet aus den Ländernamen. Wer vom Arbeitsplatz aufblickt, sieht diese Karte. Sicher werden da Reisewünsche geweckt. Entsprechende Literatur findet sich in den Gestellen des Raums. Auch Bücher für verschiedene Hobbys sind da. Auf dem Gestell „erläbe“ steht ein künstlerisch gestaltetes Flugzeug. Alles hier ruft: „Nichts wie weg!“
Neben dem Büro liegt die Hausbibliothek mit den Themen „verschlinge“, „ermittle“, „schyzerisch“. Zwei bequeme Sessel laden ein, in Funden in der Hausbibliothek zu stöbern. Wer dabei die Zeit gern vergisst, sollte den Wecker auf dem Beistelltisch stellen.
Als ich die Buchhandlung verlasse steigen mir Bilder auf, Bilder einer italienischen Konfiserie. Bei Scriptum lässt sich wunderbar „wohnen“ mitten in einem verspielt-süssen Ambiente.