Michael Guggenheimer befragt von Heinz Egger
Wir haben zusammen 200 Buchorte besucht. Wie hat sich deine Beziehung zu Buchhandlungen, Bibliotheken, Archiven und anderen Buchorten verändert, seit wir so viele davon intensiv angeschaut haben?
Ich bin in Sachen Buchhandlungen anspruchsvoller geworden. Der Ort muss nicht einmal besonders schick oder designt sein. Wichtig ist die Auswahl der Bücher. Ich möchte Titel entdecken können, die ich zuvor nicht gesehen habe. Ich möchte einer Buchhändlerin oder einem Buchhändler begegnen, die mich auf Bücher aufmerksam machen, die nicht in der Bestsellerliste vorkommen. Da fällt mir die Buchhandlung „Land in Sicht” in Frankfurt ein. Wenn es um Bibliotheken geht, dann lass’ ich mich schnell von der Architektur verführen: Stadtbibliothek am Mailänderplatz in Stuttgart, OBA Amsterdam, Allgemeine Lesegesellschaft Basel.
Seit mehr als vier Jahren berichten wir über Buchorte. Warum reisen wir immer noch gern zu neuen Orten?
Auf unseren Reisen zu Buchorten haben wir nicht nur schöne und spannende Buchhandlungen und Bibliotheken entdeckt. Es sind auch Ortschaften, deren Charme ich entdeckt habe: Liestal, Diessenhofen, Sarnen, Maastricht, Haarlem, Buchhandlungen sind Fenster zur Welt. Da liegen und stehen die Bücher, Buchtitel, Namen von Autoren, Covergestaltungen verführen, zum Öffnen eines Buchs, zur Lektüre der ersten Seite, Kopfreisen beginnen hier, manchmal lässt man sich verführen, kauft ein Buch oder mehrere Bücher, die man später dann doch nicht lesen wird, weil man wieder andere Titel entdeckt hat. Macht nichts, man hat ja im Schrank auch Kleider, die man nicht getragen hat und dennoch nicht weggibt.
Wir haben viele spezielle Buchorte gesehen. Welchen möchtest du nochmals besuchen und warum?
Darf es bloss ein einziger Ort sein? Es gibt nicht wenige, die ich wieder aufgesucht habe oder nochmals aufsuchen möchte! Die Bibliothek Fondation Jan Michalski in Montricher unbedingt, die Buchhandlung „De Tribune” in Maastricht, die Kantonsbibliothek in Liestal, das Literaturmuseum der Moderne in Marbach.
Wir haben alle Landesteile der Schweiz bereist. Welche Unterschiede siehst du zwischen Buchorten in der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin?
Ich meine, in den Buchhandlungen der französischsprachigen Schweiz mehr Titel mit politischem Inhalt und zur politischen Aktualität zu sehen als in der Deutschschweiz. In der Deutschschweiz meine ich deutlich mehr Übersetzungen aus anderen Sprachen zu begegnen als in der Romandie und im Tessin.
Wir haben fast dreissig Buchhandlungen in verschiedenen Ländern besucht. Welche Unterschiede siehst du zur Schweiz?
Der Konzentrationsprozess im Buchmarkt ist in manchen Ländern noch fortgeschrittener als in der Schweiz. Scheltema in Holland, Tsomet Sfarim und Steimatzky in Israel, Thalia-Mayersche in Deutschland. Aber es gibt sie immer noch, auch im Ausland, die inhabergeführten Buchläden, die wir so mögen, weil sie durch persönliche Beratung und Sachkompetenz geprägt werden.
Wenn ich an Holland denke, dann fällt mir noch ein Unterschied ein: BOL heisst der Bücherriese, der eine Art lokaler Amazon ist. So weit sind wir in der Schweiz noch nicht. Anders als in der Schweiz ist in manchen Ländern der Verkauf doch aggressiver mit all diesen Rabattaktionen: Du kaufst ein Buch zum vollen Preis und bekommst das zweite zum halben oder sogar noch billiger. Damit werden in der Regel jene Berge unverkaufter Bücher abgetragen. Anders? In der Schweiz ist das Angebot von Büchern
aus nicht einheimischer Produktion weitaus grösser als in Deutschland, Holland, Frankreich. Mir fällt da der verstorbene Schriftsteller und Vielleser Wilhelm Genazino aus Frankfurt ein. Frankfurt ist ja nicht arm an Buchläden. Aber Genanzino meinte wiederholt, er stosse in Zürich auf mehr Bücher aus England, Frankreich und den USA als in seiner Stadt.
Wir haben noch längst nicht alle Buchorte beschrieben. Wenn du frei wählen könntest, über welchen Buchort auf der Welt möchtest du für buchort.ch berichten?
Unbedingt besuchen und beschreiben die Librairie „Le bleuet” in Banon in Südfrankreich. So etwas habe ich nirgendwo sonst gesehen. Ein kleiner Ort, ein Dorf, eine unabhängige Buchhandlung, von der es heisst, sie biete eine Million Bücher an, eine Ortschaft, in die man hinfährt, um vor dem Besuch der Buchhandlung am Dorfplatz unter freiem Himmel gut zu essen, am Nebentisch mit anderen Buchbegeisterten ins Gespräch zu kommen und dann für Stunden in der Buchhandlung zu verschwinden. Am liebsten würde man in Banon übernachten, um am nächsten Morgen wieder «Le bleuet» aufzusuchen. Ein wunderschöner Buchladen auf mehreren Etagen. Mit einem unglaublich grossen Angebot. Es gibt hier mehr Bücher als in einer Stadtbücherei. Was ich mir auch vorstellen könnte: Eine Woche nach Banon, um dort Leseferien zu verbringen. Der Ort ist so wunderbar unaufgeregt.
Heinz Egger befragt von Michael Guggenheimer
Gibt es eine oder zwei Bibliotheken, in der oder in denen du dich gerne eine Woche lang aufhalten möchtest?
Oh ja, da gibt es gar mehrere. Zuerst kommt mir immer die OBA, die Openbare Bibliotheeek Amsterdam in den Sinn. Sie ist meines Erachtens ein Ort, den wirklich alle nutzen. Er ist hell, er ist grosszügig und bietet natürlich alles, was das Bücherherz begehrt. Eine zweite Bibliothek, in der ich gerne längere Zeit verbringen würde, ist die Kunstbibliothek im Sitterwerk bei St. Gallen. Dort gäbe es gar ein Zimmer zum Übernachten!
Ich weiss, es ist schwierig. dennoch: welche Buchhandlung findest du, hat den ungewöhnlichsten weg beschritten? Du darfst auch eine zweite nennen!
Eigentlich, so stellen wir doch bei jedem Besuch einer Buchhandlung fest, engagieren sich alle Buchhändlerinnen und Buchhändler enorm für ihr Geschäft. Und unter ihnen sind ja so viele, die ursprünglich gar nicht im Buchhandel tätig waren. Quereinsteigerinnen und -einsteiger. Und allen liegt daran, den Ort so zu gestalten, dass er auch ein Ort des Verweilens wird. Schliesslich geht es immer darum, Kunden anzulocken, sie in die Auslage zu führen, ihren Leseappetit anzuregen. Vielleicht sind Modelle, wie Bider &Tanner in Basel eines pflegt, zukunftsweisend: Shop im Shop oder Dienstleistungen, die viele Leute nutzen.
Es gibt Buchorte, die du auch hättest beschreiben können, es aber nicht getan hast, nicht tun wirst. weshalb gibt es solche orte, was sind das für orte?
Wir sind nicht oft in ein Geschäft eingetreten und sind wieder gegangen. Diese Buchorte könnten wir an einer Hand aufzählen. Es gibt sie halt noch, jene, die wenig anbieten, wenig ins Ambiente investieren, zu viel Non-Books im Laden stehen haben. Wir sind anspruchsvoll – seit Beginn schauen wir vorher den Webauftritt an, suchen Bilder des Ortes und wägen ab, ob sich ein Besuch lohnt. Und normalerweise besuchen wir keine Buchorte, die zu Ketten gehören.
Es gibt Orte auf dem Land, in denen eine Buchhandlung existiert, die eine ganze Region bedient.
Ja, die gibt es. Wir fragen ja regelmässig, wie weit es bis zur nächsten Buchhandlung ist. Und es ist oft erstaunlich, wie gross die Distanzen sind. Ich denke da beispielsweise an den Chantunet da Cudeschs in Scuol oder die Buchhandlung LibRomania in Bern. Die erstere liegt weit weg und ist die einzige Buchhandlung im Unterengadin, die zweite liefert französische Bücher in die ganze Schweiz. Oder auch die Libreria Casagrande in Bellinzona, die italienische Bücher für Deutschweizer Buchhandlungen besorgt.
Was hat „Buchort” in deiner Wahrnehmung von Buchhandlungen verändert?
Ich bin kritischer geworden. Ich schaue mehr auf die Stimmung, das Licht, die Einrichtung, die Buchhändlerinnen und Buchhändler. Dann äuge ich immer nach dem Speziellen, nach dem, was die Buchhandlung aus der Menge heraushebt. Die neuesten Bücher finden wir überall die gleichen. Ich frage mich, was bietet die Buchhandlung sonst noch? Gern schaue ich dann, was es für Kinder gibt, was die Buchhandlung für Bücher im Bereich Kreativität anbietet.
Im Buchhandel ist in den letzten Jahren ein spannender Wandel zu beobachten: Quereinsteiger eröffnen Buchhandlungen, die auf ein Thema spezialisiert sind: Bergsport, die Literatur der Mittelmeerländer, russische Literatur. Und bei den Bibliotheken? Lässt sich da auch ein Wandel feststellen?
Ja und Nein. Wir haben gerade in Chur und Rapperswil eben zwei neu eingerichtete Bibliotheken besucht, die ganz traditionell ausgelegt sind: Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, Filme und Musik. Die meisten Bibliotheken sind an sogenannt elektronischen Bibliotheken, die zumeist als Verbund agieren, angeschlossen. Die Kataloge sind heute in öffentlichen Bibliotheken elektronisch verfügbar. Meistens sind sie auch hier in einem Verbund mit anderen Bibliotheken, so dass es für Nutzerinnen und Nutzer einfach ist, an ein gesuchtes Buch zu gelangen. Natürlich diskutieren die Bibliotheksleitungen die Rolle der Bibliothek in der Zukunft. Auch die Bibliothek muss um die Aufmerksamkeit kämpfen. Der Besuch der Bibliotheken durch Kinder bis hin zu den Oberstufenschülern ist recht gut, allerdings bei den jungen Erwachsenen klafft eine grosse Leere. Um jedes Alter anzulocken, haben viele Bibliotheken heute bequeme Leseecken, Arbeitstische, teilweise mit Computerinfrastruktur, sie organisieren für Klein und Gross Lesungen, eröffnen ein Café im Haus, bieten zu den elektronischen Titeln gleich das Lesegerät an oder stellen Zeitungen in elektronischer Form auf einem Tablet zur Verfügung. Auch längere Öffnungszeiten sind im Gespräch. Nur eine Bibliothek ist mir bekannt, die den Auftrag, Bildung und Wissen zu vermitteln sehr umfassend und möglicherweise zukunftsträchtig umgesetzt hat: Die Stadtbibliothek Winterthur beherbergt einen sogenannten Maker-Space, in dem jedes Bibliotheksmitglied nicht nur Literatur zu neuesten Technologien findet, sondern die dazu gehörenden Geräte, beispielsweise eine 3D-Drucker, auch ausprobieren kann. Es gibt Bewegung und ich bin gespannt, in welche Richtung es weitergeht.