Gnadenort für Bücher
Michael Guggenheimer
Zwölf Jahre sind es her, seitdem die erste Auflage meines Buchs „Görlitz. Schicht um Schicht. Spuren einer Zukunft“ erschienen ist. Das Buch ist längst ausverkauft. Bei Amazon findet man hie und da noch ein Exemplar. Manchmal bekomme ich noch 12 Jahre nach dem Erscheinen des Buchs Mails, in denen Leute mich darum bitten, ihnen ein Exemplar zu schicken. Da muss ich passen. Meine beiden letzten Exemplare gebe ich nicht her.
Neulich hatte ich Glück. Buchplanet.ch heisst der Ort, an dem ich ein Exemplar gefunden habe. Ohne Computer und ohne die gute Arbeit der Mitarbeiter bei Buchplanet im st.gallischen Flawil wäre ich nicht auf dieses Exemplar meines längst vergriffenen Buches gestossen.
Ich musste aber überhaupt auf buchplanet.ch stossen. Und das ging so: Eva Koralnik, die Grande Dame unter den Literaturagenten im deutschsprachigen Raum, war lange Jahre die Leiterin der renommierten Buchagentur Liepman Agency in Zürich. Mehrere Jahrzehnte befanden sich der Geschäftssitz der Agentur und Eva Koralniks Wohnung im selben Haus auf dem Zürichberg. Bis eines Tages die Besitzer das Haus umbauen wollten und Agentur und Leiterin ausziehen mussten. In den Jahrzehnten, da die Agentur in der herrschaftlichen Villa residierte, haben sich Belegexemplare, eingesandte Bücher aus aller Welt, Bücher, deren Lizenzen die Agentur in alle Herren Länder verkauft hatte, in allen Räumen des stattlichen Hauses eingenistet. Waren es 40 000 Bücher? Waren es vielleicht sogar 10 000 mehr? Niemand hat sie je gezählt. Aber klar war: Diese Bücher müssen weg!
Mails wurden verschickt, bei Begegnungen wurde es verkündet: Kommt her und holt euch die Bücher, die euch interessieren. Und sie kamen: Der Uniprofessor, der Sammler von Büchern der Exilliteratur, der Schriftsteller, der Freund der niederländischen Literatur. Sie kamen alle und holten Bücher. Aber es blieben immer noch Tausende. Die Rettung kam aus Flawil. Ein Lieferwagen, der sogar mehrmals angefahren kam. Und zwei Männer, die stundenlang damit beschäftigt waren, Bücher im Keller, im Bürogeschoss, in der Wohnung und im Dachgeschoss zu holen und in Schachteln, Einkaufstaschen und Kisten rauszutragen.
Heute sind die ehemaligen Bücher der Literaturagentur bestens in Flawil aufbewahrt. Noch sind sie nicht alle ausgepackt. Aber sie werden alle nach und nach im digitalen Katalog aufgenommen werden. Gerade in diesem Katalog fand ich ein einsames, ein verirrtes Exemplar meines Buchs „Görlitz. Schicht um Schicht“.
Ich bin nach Flawil gefahren, um mir den Ort anzuschauen. Und ich habe gestaunt! In einem ehemaligen Fabrikationsareal hat sich Buchplanet eingerichtet. Abertausende von Büchern warten hier auf Leserinnen und Leser. Über 60 000 sollen es sein, die in den hohen Büchergestellen lagern. Und mehrere Tausend weitere Bücher warten in aufgetürmten Bananenschachteln, in Einkaufstüten, in Kunststoffcontainern darauf, von den Mitarbeitern im Katalog aufgenommen zu werden. Ich bin durch die Büchergestelle, in denen die Bücher aufeinander liegen und nicht nebeneinander stehen, gelaufen, ich habe gestaunt über die Vielfalt der Titel, über die Qualität der Bücher, über die unglaubliche Ordnung an dieser Wartehalle der Bücher.
Mein Görlitzbuch habe ich beim Rundgang nicht gefunden. Und ich hätte es auch unter den Tausenden niemals gefunden, wäre das Buch nicht im Katalogsystem dieses letzten Gnadenortes der Bücher mit Bild vom Umschlag, mit Inhaltsangabe, mit Preis und ganz wichtig mit dem Standort aufgenommen worden. In Flawil werden die Bücher nicht nach Sachgebieten gelagert: Dort wo gerade Platz ist für ein neu aufgenommenes Buch, dort landet es und dort wird es zielsicher dank der Informatik des Hauses gefunden.
Buchplanet.ch ist mehr als ein riesiges Bücherlager. Werden wieder Bücher eingeliefert, werden sie zuerst genau angeschaut. Zerlesene Bücher, Bücher mit Feuchtstellen oder mit Schimmelspuren kommen alle sofort in die Entsorgung. Bei dieser Eingangstriage werden die Buchcovers getrennt und in einen Abfallcontainer getan: Papier und Karton oder Stoffreste gehören getrennt. Schutzumschläge werden, sofern sie interessante oder schöne Darstellungen aufweisen, separat behandelt und von fleissigen Händen und nach ästhetischen Gesichtspunkten zu Etiketten und Lesezeichen verarbeitet, es sind dies Recyclingprodukte vom Onlineshop. Buchumschläge erleben hier ein neues Leben, werden von der gelernten Malerin Michaela Mastroianni zu reizenden Geschenken umgearbeitet. Wer im Online-Katalog von buchplanet.ch ein Buch oder mehrere Bücher findet, die er geliefert haben möchte, führt die Bestellung elektronisch aus und erhält die bestellten Bücher in einer ausgedienten und gut verpackten Schuhschachtel zugestellt. Hier erleben sogar Schuhschachteln ein zweites Leben.
Leiterin von buchplanet.ch ist Sara Grob. Ihr zur Seite stehen Mitarbeitende, die im herkömmlichen Arbeitsmarkt zum Teil nur mit Mühe eine Stelle finden würden. Es sind Mitarbeitende, die ihre Tätigkeit mit viel Engagement ausführen, unter ihnen auch solche mit echtem Buchinteresse. Einer unter ihnen führt im Netz einen Bücherblog. Buchplanet in Flawil ist Teil einer Kette von zwölf sozialen Betrieben, die Sara Grobs Vater, Martin Grob, ein Sozialarbeiter, aufgebaut hat. Es sind Brockenhäuser und Gartenbaubetriebe, eine Velowerkstatt in mehreren Ortschaften der Ostschweiz, alle Teil einer Stiftung mit dem Namen Tosam mit Sitz in Herisau.
Ich habe in Flawil viele bunte Etiketten gekauft. Noch weiss ich nicht, was ich mit ihnen machen werde. Schöne Geschenke sind sie jedenfalls. Und ich habe ein Exemplar meines eigenen Buchs „Görlitz. Schicht um Schicht“ gekauft. Leider steht kein Name im Buch, auch fehlt eine Widmung von mir, wie ich sie an Lesungen immer wieder schreiben musste. Ich weiss nicht, wem das Buch zu viel wurde, wer das Buch nicht mehr im eigenen Büchergestell aufbewahren wollte.
Buchplanet.ch
Habis-Center, Waldau 1
9230 Flawil
T: 071 393 41 71
www.buchplanet.ch
Eigene Welt
Heinz Egger
„Ratsch, … ratsch!“, dann ein dumpfer Aufschlag. Das ist das Ende eines Buches. Starke Hände packen den Einband und reissen ihn vom Buchblock. Das Papier fliegt im Bogen in einen Gittercontainer. Altpapier. Die Buchdeckel werden nochmals angeschaut. Einige landen in der Kartonabfuhr, einige werden für altbooken.ch zur Seite gelegt. Dort entsteht aus recyciertem Buchmaterial Neues, beispielsweise Agenden und Notizbücher.
Hin und wieder haben Bücher schön bedruckte Vorsatzblätter. Diese werden ebenfalls sorgfältig vom Karton und Buchblock getrennt und für Bastelsets zur Seite gelegt.
Das Entmanteln der Bücher geschieht gleich beim Eingang in die Fabrikhalle, gleich dort, wo die eingehenden Bücher gesichtet werden. Die angelieferten Bücher stammen alle aus Brockenhäusern der Stiftung Tosam. Was in diesen Brockenhäusern innert drei Monaten nicht verkauft wird, gelangt zu Buchplanet. Etwa 10% sind Direktanlieferungen, beispielsweise von Hausräumungen. Solche Bestände selbst abzuholen, wäre schön, aber Buchplanet hat kein entsprechendes Fahrzeug zur Verfügung. Ein kleines Team, dem auch Sara Grob, die Leiterin von Buchplanet, gehört, beurteilt jedes eingehende Buch. Ob ein Buch aufgenommen wird, hängt von verschiedenen Kriterien ab: Zustand, Geruch, Alter, Dublette. Und natürlich stellt man sich immer die Frage, ob der Inhalt auch gefragt ist. Bis 70% der Bücher werden zerlegt und dem Recycling zugeführt. Zur Triage gehört auch das Zuordnen zu einer Rubrik. Dafür stehen auf Tischen Schachteln mit entsprechender Aufschrift, beispielsweise Familiensaga, Gedichte & Aphorismen, Historische Romane & Abenteuer, Romane (Schicksal & Liebe).
Sara Grob ist gelernte Kauffrau und begeisterte Leserin. Noch vor dem Lehrabschluss hatte sie die Idee, einen Online-Shop mit gebrauchten Büchern aufzuziehen. Sie legte ihren Businessplan der Stiftung Tosam vor und erhielt deren Unterstützung. Im Herbst 2010 ging der Shop mit 5000 Büchern online. Fünf Leute arbeiteten damals für das Unternehmen. Heute sind es 10 bis 14 Mitarbeitende, die mit einem Pensum von 20 bis 80% angestellt sind. Buchplanet ist ein soziales Projekt und bietet Arbeiten im sogenannt alternativen Arbeitsmarkt an.
Bücher, die aufgenommen werden, müssen im System erfasst werden. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Nach dem Scannen des Buchdeckels werden die Basisdaten des Buches in einer Datenbank erfasst: ISBN, Autor, Verlag, Zustand, Sprache, (Mach-)Art, Anzahl Seiten, Jahrgang, Zustandsbeschreibung, Rubrik. Das Buchgewicht in Gramm wird ebenfalls in die Datenbank geschrieben. Und natürlich muss auch ein Preis fixiert werden. Da hilft oft Amazon. Man möchte immer günstiger sein als das vorhandene Angebot auf dem Netz. Amazon bietet eine Schnittstelle an, so dass die Bücher auch dort erscheinen könnten. Sara Grob verzichtet aber darauf, um unabhängig zu bleiben. Obwohl eine ganze Reihe antiquarischer und rarer Bücher im Verzeichnis erscheinen, gibt es keine Verbindung zum Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher. Auch da wegen der Unabhängigkeit. Allerdings wissen sowohl Buchhandlungen und Antiquare um die Existenz von Buchplanet und durchsuchen jeweils den Bestand und geben Bestellungen auf.
Das System vergibt eine Artikelnummer und den Standplatz in den Gestellen. Der Standplatz wird auf einen Zettel geschrieben und ins Buch gelegt, damit das Buch anschliessend am richtigen Ort eingesteckt werden kann. In den Gestellen liegen die Bücher aufeinander oder stehen dicht nebeneinander. Es sind nur Buchrücken sichtbar. Hin und wieder weist ein sauber gedruckter Zettel, befestigt an einem Tablar darauf hin, dass beispielsweise Heines Werke in fünfzehn Teilen in sechs Bänden auf dem Dach der Regalwand liegen.
In der Halle stehen 38 Regalwände, zusammengestellt aus 8 Regalen mit je 6 Tablaren. Auf jedem Tablar finden etwa 36 Bücher Platz. Die Regale sind voll. Das Verzeichnis umfasst mehr als 65‘000 Bücher! Diesen Gestellen entlangzugehen ist eindrücklich. Aber etwas suchen geht nicht, denn da steht Belletristik neben Sachbuch, Autor A neben Autor F oder Y.
Bereits belegen Gestelle und kistenweise Schachteln einen zweiten Raum. Der Weg dorthin führt an einer langen Wand entlang. Es ist die Organisationswand des Unternehmens. Statistiken über die erledigten Aufträge, die Qualitäts- und Sicherheitsziele für 2017, die Jahresziele der Führung für 2017 und für die kommenden drei Jahre hängen. Auf einer Ablage steht das ABC aus dem Samariterkurs, an einer schwarzen Tafel gibt es Informationen für Notfälle und Sicherheitshinweise. Das Protokoll der letzten Gruppensitzung kann hier eingesehen werden. – Buchplanet.ch ist ein Unternehmen, das für alle Mitarbeitenden transparent ist.
In der zweiten Halle steht auch der Arbeitsplatz, an dem die Bücher für den Versand bereitgemacht werden. Stapelweise Schuhschachteln auf dem Boden und zahlreiche Spieleschachteln verschiedenster Grösse in einem Gestell stehen bereit, Bücher aufzunehmen. Die Bücher werden sorgfältig in Papier eingeschlagen und verpackt.
Auf einer grossen Fläche stapeln sich Bananenschachteln und Kartonschachteln. Hunderte Bücher warten hier in verschiedensten Gefässen auf die Triage. Es gibt viel Arbeit bei Buchplanet.ch!
Bei der Triage fallen viele Materialien an, die bei buchplanet.ch zu Papierwaren verarbeitet werden. Etiketten werden aus Buchdeckeln ausgestanzt, mit einer Öse und Schnur versehen und je sechs zusammen zu einem farbigen Set zusammengefügt. Oft finden sich Lesezeichen in den angelieferten Bücher. Da gibt es magnetische Lesezeichen, Textillesezeichen, Lesezeichen aus (Kunst-)leder, Werbelesezeichen, selbst gemachte Lesezeichen, zu Lesezeichen umgewandelte Ansichtskarten. Zehn plus ein Lesezeichenfundstücke werden zu einem Set zusammengefügt. Garantiert ist kein Set wie das andere! Aus schönem Vorsatzpapier und Buchillustrationen entstehen Kreativ-Sets. Auch hier gleicht keins dem anderen.
Buchplanet ist eine eigene Welt – faszinierend, schillernd, voller Überraschungen, ruhig, von Fleiss geprägt. Und nur die wenigsten Nutzerinnen und Nutzer der Online-Buchhandlung für das gelesene Buch werden je diese Oase betreten.
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