Austausch
Michael Guggenheimer
Jedes Jahr im Herbst räume ich auf. Seitdem mein Büchergestell bis auf den letzten Platz voll ist und die Bücher auf dem Boden im Wohnzimmer kleine Türme bilden, müssen Bücher immer wieder abgetragen werden. Im Papier-Abfallcontainer unserer Wohnsiedlung entsorgt jemand regelmässig Bücher. Bücher wegwerfen? Nein, das bringe ich nicht übers Herz. Bücher, die ihren Platz räumen müssen, packe ich in einen Rollkoffer und lade sie im „Offenen Bücherschrank“ ab. Es ist schon vorgekommen, dass ich ein Jahr nachdem ich eine Bücherladung weggebracht habe, noch zwei oder drei Büchern im Offenen Bücherschrank begegnet bin, die noch vor etwas mehr als einem Jahr mir gehört haben. Immer steht irgendjemand vor dem Offenen Bücherschrank, öffnet zaghaft den Schrank, blättert in einem Buch, das er dann mitnimmt. Ich sortiere jeweils die mitgebrachten Bücher: Die Romane lege ich unten hin, die Sachbücher werden auf den oberen Tablaren gestellt. Wie spannend es ist, sich die Titel und die Autorennamen im offenen Bücherschrank anzuschauen. Manchmal staune ich darüber, was andere Leser hier haben liegen gelassen. Und ich gebe zu, dass ich manchmal dreissig oder mehr Bücher abgeladen habe und den Ort mit drei oder sogar vier neuen Büchern wieder verlassen habe. Tynset von Wolfgang Hildesheimer habe ich vor einer langen Wartezeit in einem Bücherschrank gerettet. Ebenso eine signierte Erstausgabe von Adolf Muschgs „Liebesgeschichten“. Wie konnte bloss jemand ein solches Buch entsorgen, fragte ich mich, als das Buch in meinem Koffer verschwand. Der offene Bücherschrank ist wirklich eine wunderbare Erfindung. Man bringt und holt, man zahlt nichts. Eine Art Bibliothek ist dieser Bücherschrank. Ein Ort, an dem man immer wieder Funde machen kann. Als ich beim letzten Mal wieder mit leichtem Koffer zuhause ankam und Esther meine Fundstücke zeigte, schaute sie mich erstaunt an. Esther hatte Recht: Joseph Breitbachs Roman „Bericht über Bruno“ stammte aus meiner eigenen Bibliothek!
PS: Eine wunderbare Bücherkiste mit dem Namen „Bring eis, nimm eis“ steht in Zürich vor dem Reisebüro Bahnhof Wipkingen. Regula Fischer, Leiterin des Reisebüros, sorgt dafür, dass hier wirklich nur gute, unversehrte Bücher aufliegen. Auffallend ist hier die gute Bestückung mit englischsprachiger Literatur. In Solothurn auf dem Weg vom Bahnhof zur Altstadt steht rechts vor der Kreuzackerbrücke ein gut sortierter Offener Bücherschrank. Im Linsebühlquartier in St.Gallen befindet sich in einer ehemaligen Telefonkabine bei der früheren Post die Hol-Bring-Bücherei mit dem Namen „Lesebine“, in der die Bücher nach Genres gut geordnet auf Lesehungrige warten. Weitere Offene Bücherkästen in der Schweiz: In Basel am Voltaplatz, Ecke Gasstrasse/ Elsässerstrasse, in Bern im Lorrainequartier am Lagerweg 12, in Olten an der Kirchgasse zwischen Kunstmuseum und dem Café Gryffe. In den Sommerbädern der Stadt Zürich stehen Bücherkästen, die nach einem etwas anderen Prinzip funktionieren. Einzig die Pestalozzibibliothek (PBZ) bestückt die „Badi-Bücherschränke“ mit ausgemusterten Büchern. Die roten Schränke sind mit einem ausgewählten Mix an Lesestoff ausgestattet und die Ausleihe funktioniert nach dem Prinzip „behalten erlaubt“: Alle Bücher können geborgt, gelesen und bei Gefallen auch nach Hause genommen werden. Je ein Schrank steht in den Freibädern Allenmoos, Heuried, Letzigraben, Mythenquai, Oberer Letten, Seebach, Stadthausquai (Frauenbadi), Tiefenbrunnen und Utoquai. Freiwillige Helferinnen und Helfer sollten die Schränke regelmässig kontrollieren und sie bei Bedarf mit weiterem Lesestoff auffüllen. Heinz Egger beschreibt im nebenstehenden Text seine Beobachtungen in zwei Sommerbädern der Stadt Zürich.
Nachtrag: Zum Boom der Büherschränke beigetragen hat ausgerechnet das Handy. Weil niemand mehr in Telefonkabinen telefoniert, werden diese stillgelegt. Etliche Telefonkabinen hat die Swisscom gratis an die Gemeinden abgegeben. Aus mittlerweile 260 Telefonkabinen seien Bücherschränke entstanden, teilte die Swisscom im Januar 2018 auf Anfrage mit.
PBZ Pestalozzi-Bibliothek Zürich
Zähringerstrasse 17
8001 Zürich
T. 044 204 96 96
http://www.pbz.ch/
Fin de saison
Heinz Egger
Durch den breiten, vergitterten Eingangsbereich des Freibads Letzigrund ist er sichtbar. Links steht der rote Schrank mit Büchern. Eigentlich muss ihn jede Frau, jeder Mann, jedes Kind sehen, wenn sie von der Kasse auf der rechten Seite her zu den Umkleidekabinen gehen.
Auf dem obersten Tablar finden sich ein paar wenige Bücher, einige im Tablar darunter zusammen mit ein paar DVDs, dann herrscht gähnende Leere bis auf einen staubigen, verrutschten Stapel Karten der PBZ, der Pestalozzi-Bibliothek Zürich, die den Kasten betreut.
Bücherbox nennt die PBZ den Kasten. Die aus den Beständen ausgemusterten Bücher stehen zur freien Verfügung. Man darf sie nehmen, in der Badi oder daheim lesen – und auch behalten, wenn man mag. So schreibt die PBZ auf einem kleinen Plakat, das im Schrank und an dessen Seitenwand klebt. Natürlich mit der Einladung, in der Quartier-PBZ vorbeizuschauen.
Das Angebot ist mager geworden. Das mag daran liegen, dass die Badesaison schon fast vorbei ist. Ob nochmals ergänzt wird, ob jemand von der PBZ regelmässig vorbeikommt, weiss der junge Mann an der Kasse nicht. Doch, doch, er habe den Kasten schon bemerkt, aber selber nie darin gestöbert.
Draussen vor dem Bad hebt eine junge Frau ihr schönes, hellgrünes Fahrrad aus dem Ständer. In der durchsichtigen Badetasche liegt oben drin auch ein Buch. Nein, sie hat es nicht aus der Bücherbox. Es ist ihr nicht einmal aufgefallen, dass es ein solches Angebot gibt. Und schwups ist sie weg mit ihrem Elektroflitzer.
Drei Tage später besuche ich das Freibad Allenmoos in Oerlikon. Eine wunderschöne Anlage ist das. Sie feiert heuer ihr 75-jähriges Bestehen. Im Eingangsbereich sehe ich keine Bücherbox. Ich frage danach. Sie sei gleich um die Ecke bei den Umkleideräumen, wird mir beschieden.
Mitten an dem langgezogenen Gebäude prangt der Kasten rot wie eine Himbeere. Und es steht ein Herr mit schütterem Haar davor. Er nimmt ein Buch nach dem anderen, öffnet es kurz, liest da und dort einen Satz und schiebt es in den Schrank zurück.
Ich frage, ob er nichts gefunden habe. „Nein, noch nicht“, sagt er, während seine Augen über die Titel gleiten. Was für ein Buch er denn da gerne finden würde, frage ich weiter. „Ah, etwas Neueres, 20. Jahrhundert. Am liebsten einen historischen Roman“, erwidert er und hält schon das nächste Buch in den Händen. Im weiteren Gespräch erfahre ich, dass er regelmässig zur Bücherbox gehe, da gebe es immer wieder etwas Neues. Man sieht ihm an, dass er regelmässiger Badegast ist: Von Kopf bis Fuss glänzt seine Haut wie Bronze. Ich empfehle ihm von Nir Baram „Gute Leute“, eine Geschichte aus Hitler-Deutschland und Stalin-Sowjetunion, zwei Menschen, die im Dienste ihres Regimes Karriere machen wollen.
In der Box stehen einige Bücher mehr als im Letzigrund. Der Schrank ist blitzblank. Mir fällt auf, dass viele Bücher keine Bibliothekssignatur tragen. Anscheinend stellen Leute ihre gelesenen Bücher hin. Vielleicht nach dem Motto „Bring eis, hol eis!“? Siehe dazu den Text von Michael Guggenheimer in der linken Spalte.
PS: Sie fragen, warum der Bericht so kurz ist? Gegenfrage: Wie war der Sommer?
Werte Buchfreunde
Bücherschränke sind in deutschen Städten recht verbreitet. In Düsseldorf oder Hamburg finden sich nicht wenige solche Schränke. Es soll sogar eine Homepage existieren, die Auskunft über die Standorte gibt. Originell Ihre Buchort Homepage.
Lesergrüsse aus Düsseldorf
Malte Gruber
Lieber Malte Gruber
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar auf buchort.ch. So schön, aus Deutschland angeschrieben zu werden. Ja, die Buchschrank-Idee ist bereits weit verbreitet. Ich habe selber jenen in Düsseldorf am Rhein unten gesehen. Und es stimmt, es gibt eine Website mit vielen Einträgen. Sehen Sie sich einmal dies an:
http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_%C3%B6ffentlicher_B%C3%BCcherschr%C3%A4nke
Freundliche Grüsse nach Düsseldorf
Heinz Egger
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Lieber Michael Guggenheimer
Zufällig bin ich auf den Blog „buchorte.ch“ mit Ihrem Beitrag über Offene Bücherschränke gestossen. Darin wird unter anderem auch der Schrank in Solothurn erwähnt. Das freut mich, bin ich doch mitverantwortlich dafür, dass dieser Schrank seit August 2012 in unserer Klein-stadt steht. Nach Basel war übrigens Solothurn einer der ersten Orte in der Schweiz mit ei-nem Offenen Bücherschrank. Die Idee haben meine Frau und ich aus Hannover „importiert“. (Dort stehen inzwischen mindestens 24 Offene Bücherschränke.) Die Bücherschrank-Idee hat sich inzwischen in der Schweiz recht gut ausgebreitet; es sind mir mindestens 20 Stand-orte bekannt.
Begonnen haben wir in Solothurn mit einem Provisorium, einem umfunktionierten gebrauch-ten Büroschrank an den Literaturtagen 2011 (siehe Abbildung in unserer Website http://www.buecherschrank-so.ch). Dieser Schrank, inzwischen ersetzt durch eine „neue Occasi-on“, steht inzwischen jedes Jahr am Auffahrtswochenende an den Literaturtagen vor dem Landhaus. Anschliessend wandert dieser Schrank in das städtische Schwimmbad an der Aare und wird dort während der ganzen Badesaison sehr rege genutzt. Einmal, beim Einwin-tern des Schranks Mitte September waren zwei Badegäste ganz enttäuscht, dass der Bü-cherschrank weggeräumt wurde. Als sie aber vernahmen, der Schrank werde in der nächs-ten Saison wieder aufgestellt, hellten sich ihre Gesichter wieder auf. Sie freuten sich darauf, dieses Angebot wieder nutzen zu können.
Des Öfteren erhalte ich Anfragen von Personen, die an den Literaturtagen unseren Bücher-schrank gesehen haben und von der Idee begeistert sind. Das ist dann oft der Keim zu ei-nem weiteren Bücherschrankprojekt. So sind zum Beispiel die sehr schönen Bücherschränke in Olten, Aarau und Thun entstanden; zahlreiche einfachere Schränke stehen inzwischen auch in kleineren Gemeinden.
Die Bücherschränke im Aarauer Telli-Quartier und im Thuner Monbijou-Pärkli an der Aare sind baugleiche Ebenbilder des Solothurner Schranks. Sie wurden erbaut vom Stahlbau-künstler Anton Kaufmann aus Zuchwil/Solothurn, dem „Raumformer“ (siehe Link weiter un-ten).
Der „stationäre“ Schrank im Kreuzackerpark in Solothurn wird sehr rege genutzt. Wie Sie schreiben, Herr Guggenheim, stehen fast ständig Leute vor dem Schrank und suchen sich ein oder zwei Bücher aus oder stellen Bücher im Schrank ein. An einem durchschnittlichen Tag wechseln etwa hundert Bücher ihren Besitzer, hochgerechnet also gegen 30’000 Bücher pro Jahr! Der Aufwand für die Betreuung der Schränke ist trotzdem erstaunlich gering; die insgesamt 12 bis 15 BetreuerInnen (im Sommer für zwei Schränke) wenden in der Regel zehn bis fünfzehn Minuten täglich oder alle zwei Tage auf. Ein Betreuungsturnus umfasst zwei Wochen.
Was erstaunen mag: Wir hatten noch nie ein Problem mit Vandalismus. Der Schrank ist ja schon sehr solid (Leergewicht ohne Bücher eine Tonne!) und kann nicht einfach umgekippt oder verschoben werden. Wir haben aber auch nie Ärger mit Schmierereien, Unordnung o-der Verschmutzungen. Das Bücher-„Sortiment“ ist von erstaunlich hoher Qualität. Von „gut sortiert“ kann man dennoch nicht sprechen: Wir hätten kaum eine Chance, auf das Sorti-ment irgendwelchen Einfluss zu nehmen – es kommen einfach die Bücher, die kommen. Und Sortieren oder schön Einreihen bringt auch nichts, weil der Bestand derart schnell sich aus-tauscht – ausser man würde eine 24 Stunden-Betreuung um rund um die Uhr aufziehen.
Unser einziges Problem ist, dass oft zu viele Bücher kommen. Wir verstehen ja, dass man sich nicht gerne von guten Büchern trennt; und wenn man schon mal Platz schaffen muss, schmeisst man gute Bücher schon gar nicht gerne weg. Brockenhäuser, Antiquariate etc. sind heute auch sehr zurückhaltend sind mit der Annahme von Büchern. So kann man schon mal auf die Idee kommen, den Offenen Bücherschrank mit seinen überzähligen Büchern zu beglücken. Wenn das aber zu viele Leute machen – einmal zwanzig oder dreissig Bücher wären ja noch zu verkraften -, wenn täglich Leute mit Taschen voller Bücher kommen, die Regale des Bücherschranks vollstopfen, Bücher quer über die Buchreihen legen und dann noch Bücher quer vor die Buchreihen quetschen, dann entspricht das nicht dem Sinn und Zweck des Offenen Bücherschranks. Unser Motto ist nämlich bescheidener: „Nimm ein Buch – Bring ein Buch.“ Oder auch mal zwei oder drei. Das ist an unserem Schrank auch deutlich angeschrieben. Aber wenn Leute wie ein Michael Guggenheimer sogar noch aus Zürich mit einem Rollkoffer voller Bücher ankommen oder wie die Dame aus Winterthur über 100 km Reise auf sich nehmen, verstehe ich schon ein wenig, dass man seine Bücher nicht wieder zurücknimmt. Aber sie einfach auch noch in den Schrank zu stopfen, ist auch keine Lösung.
Inzwischen haben wir über 1’000 Bücher im Depot, und es bleibt uns jetzt nichts anderes mehr übrig, als überzählige Bücher zu entsorgen. Das wäre zwar nicht unsere Aufgabe, aber wir müssen die Massen von Büchern ja irgendwie loswerden. So wie vor etwa drei Tagen: An einem einzigen Tag mussten 130 überzählige Bücher aus dem Schrank genommen werden (60 beim Betreuer deponiert, 70 entsorgt). Appelle, Hinweiszettel etc. nützen leider auch kaum etwas. So sind wir im Moment etwas hilflos, hoffen aber auf gute Ideen zur Lösung dieses Problems!
Links
• Bücherschrank Solothurn
• Gemeinschaftszentrum Telli, Aarau
• Verein Bücherschrank Olten
• Offener Bücherschrank Thun
• Schrankbauer Toni Kaufmann
• „Streunender Hund“ von Georg Aeberhard
(eine Geschichte um den Offenen Bücherschrank Solothurn)
Danke für den Beitrag, Herr Roth. Sie bereichern den Eintrag zu den Bücherschränken, indem Sie jenen in Solothurn noch etwas genauer beschreiben und auch hinweisen auf weitere solche Einrichtungen. Dass Sie allerdings fast zum Antiquariat werden, weil Leute sich nicht an die Regeln halten, ist bedauerlich. Alte Bücher verwerten ist nicht ganz einfach. Wegwerfen die einfachste Methode, aber auch die schmerzlichste. Vielleicht nimmt sie eine Schulklasse, die Bücher-Objekte gestalten oder Orimotos orime.de falten will.
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