Chantunet da Cudeschs, Scuol

Nicht ab der Welt

Michael Guggenheimer

„Nächste Tankstelle 60 Kilometer.“ heisst es immer wieder auf grossen Hinweistafeln an Autobahnen. Auf Buchhandlungen wird nicht so hingewiesen. Und doch müsste es in diesem Fall eine Tafel geben, die darauf aufmerksam macht, dass die nächste Buchhandlung in beiden Richtungen, nach Süden und nach Norden, erst in 60 Kilometern Entfernung wieder anzutreffen sei. Wobei in diesem Fall diejenige Buchhandlung, die in nordöstlicher Richtung liegt, eher eine Papeterie ist. Und das Schicksal derjenigen in südwestlicher Richtung ist derzeit eher ungewiss. In der Mitte zwischen St.Moritz und dem österreichischen Landeck, befindet sich in Scuol im Unterengadin die Buchhandlung mit dem schönen Namen „Chantunet da Cudeschs“, was nichts anderes auf Rätoromanisch heisst als „die kleine Bücherecke“ oder etwas freier übersetzt Buchladen. Die „kleine Bücherecke“ ist eine Wissenstankstelle, ein Buchort mit einer Buchhändlerin, die man ohne Übertreibung als eine wandelnde Enzyklopädie zur Region bezeichnen darf. Angelika Overrath, im nahen Dorf Sent lebende deutsche Schriftstellerin, hat die kleine Buchhandlung in einem Text als „magischen Ort“ bezeichnet. Recht hat sie!

Cristiana Fliri

Im Sommer 1995 haben die gelernte Buchhändlerin Cristiana Fliri und ihre Freundin Anni Hüberli den Laden neben der Brücke über dem Bergbach Clozza eröffnet. Kollegin Hüberli ist vor einigen Jahren wieder ausgestiegen, weshalb Christina Fliri jetzt den Buchladen allein führt. Eine Angestellte im Studenlohn gibt der Besitzerin die Möglichkeit, in der Zwischensaison jeweils zwei Ferienwochen einzuschalten. Der Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband (SBVV) hatte seinerzeit abgeraten: Das Einzugsgebiet der Buchhandlung sei zu klein für ein wirtschaftliches Überleben. 23 Jahre später existiert die Buchhandlung immer noch. Zwar sagt Buchhändlerin Fliri, ohne die Einkünfte ihres Mannes, er ist Ingenieur, hätte sie den Laden wohl schon aufgegeben. Da ergeht es der engagierten Buchhändlerin nicht anders als einigen anderen in der Branche, hinter denen ein Partner steht, der mit seinem Einkommen das Überleben eines Kulturortes ermöglicht.

Während Scuol im oberen Dorfteil in den letzten Jahren durch Neubauten einen recht städtischen Charakter angenommen hat, hat der Bücherladen an der Ecke seinen Charakter bewahrt. Ein kleiner Laden ohne Homepage und ohne Auftritt bei Facebook, Twitter oder Instagram. Ruft man ausserhalb der Geschäftszeiten an, wird man in Vallader, der regionalen Variante des Rätoromanischen, begrüsst und darauf aufmerksam gemacht, dass der Laden von „lündeschdi bis venderdi“ am Nachmittag geöffnet sei und an „sonda“, was nicht Sonntag heisst sondern Samstag, von 9.30 Uhr bis mittags.

Ist man im Laden, dann hört man Buchhändlerin Fliri in Vallader, Hochdeutsch und Schweizerdeutsch sprechen. Und immer wieder beantwortet sie Fragen, die die Kultur und Landschaft der Region betreffen. Die Bücherecke ist auch eine Art Verkehrs- und Kulturbüro, die gewiss den Titel „Buchhandlung des Jahres“ schon längst verdient hätte! Viele Stammkunden sind Feriengäste, ein besonders treuer Kunde sei der pensionierte Pfarrer Hans-Peter Schreich aus dem Val Müstair, Leiter der Biblioteca Jaura in Valchava. Der in Basel lehrende Germanistikprofesor Manfred Koch sei ein treuer Kunde, der sich bei seinen Besuchen nicht scheue, Vallader zu sprechen. Und Angelika Overraths Werbung für die Buchhandlung bringe immer wieder literarisch interessierte Kunden. Das Kulturzentrum im nahen Nairs ist seit langem ein guter Kunde und die Buchhandlung darf bei Lesungen jeweils in Nairs mit einem Büchertisch dabei sein. Darüber dass das Hotel Piz Linard in Lavin mit seiner Bibliothek nicht zu den Kunden des nahe gelegenen Bücherladens gehören, wundert sich die Besitzerin.

Das Besondere an dieser Buchhandlung machen gewiss zunächst die vielen Bücher über die Region aus. Ob Landschaft oder Tierwelt, ob Geschichte oder Sprachen oder regionale Politik, Symbollexika zu den Sgraffito-Fassaden, Architekturbücher über das Engadinerhaus, Rätische Sagen und Märchen, Titel über den Kanton Graubünden und noch mehr Bücher über das Engadin sind hier zu haben. Und natürlich auch Wander- und Mountainbikekarten zur Region. Sehr gut sortiert und nach Alter geordnet ist die Ecke mit den Kinder- und Jugendbüchern. Lust auf Rätoromanisch? Kein Problem. Hier gibt es diese Bücher, die man weder in Zürich noch Basel in einer Buchandlung finden kann. Probieren? Ein Wörterbuch Vallader-Tudaisch-ch ist ebenso in mehreren Exemplaren vorhanden wie Sprachlehrbücher für alle jene, die Rätoromanisch lernen wollen. „Alles andere finden sie überall“, meint Cristiana Fliri und meint gängige deutschsprachige Unterhaltungsliteratur. Schaut man sich in den Büchergestellen um, dann sieht man schnell, dass im „Chantunet da Cudeschs“ die Welt jenseits des langgestreckten Tals ebenso zuhause ist: Orhan Pamuck, Arun Gandhi, Rüdiger Safranski, Margaret Atwood, Kazuo Ishiguro, Ilja Trojanov oder Marianne Leky sind hier vertreten. Und wer seine Lieblingsautorin oder –autor vermisst, der kann hier jedes andere Buch, das in der Schweiz lieferbar ist, innerhalb von 24 Stunden abholen. Scuol liegt zwar etwas mehr als zweieinhallb Bahnstunden von Zürich entfernt, ist aber nicht ab der Welt. Keinesfalls.

auturs grischuns

Man schaut sich um, kommt mit Buchhändlerin Flri ins Gespräch und staunt über die vielen belletristischen Bücher, die in der Region spielen oder in der Region geschrieben wurden. Barbara Schiblis preisgekrönter Roman „Flechten“ ist zum Teil im Künstlerzentrum Nairs bei Scuol geschrieben worden. Der Fluss Inn spielt im Buch ebenso eine Rolle wie das Oberengadiner Dorf Bever. Martin Suters „Der Teufel von Mailand“ spielt in der Region und wurde zum Teil im nahen Dorf Ftan geschrieben. Leta Semadenis Roman „Tamangur“, der den eidgenössischen Literaturpreis erhalten hat, wurde im Dorf Lavin geschrieben und handelt nebenan. In Peter Stamms Romanen kommt das Engadin immer wieder vor. Das Buch Abendlicht des ostdeutschen Autors Stephan Hermlin handelt im Engadin. Überhaupt scheint die Region immer literarischer zu sein: Schriftstellerin Angelika Overrath und Literaturprofessor Manfred Koch leben in Sent, Leta Semadeni lebt in Lavin, die österreichische Autorin Melitta Breznik wohnt und arbeitet als Ärztin in Scuol, Autor Tim Krohn wohnt im Val Müstair, die niederländische Romanautorin und Übersetzerin von Arno Camenischs Bücher ins Holländische Mieke Zwamborn hat acht Jahre lang in Tschlin gelebt und geschrieben, Autorin Rut Plouda lebt in Ftan. Kaum ein Landstrich hat so viel Literaten und Künstler in seinen Bann gezogen wie das Engadin. Nietzsche war da, Rilke auch. Friedrich Dürrenmatt stöhnte einst: «O Oberengadin, mir graut vor dir». Und er tat diesen Ausspruch wohl nur deshalb, weil der Fluss Inn nicht nur im Engadin fliest, sondern auch durch Braunau in Österreich. „In fast jedem Hotelprospekt findet sich inzwischen ein Zitat aus einem berühmten Mund, und die Liste der Dichter und Denker, die vom Engadin bezaubert waren“, hat die in Irland lebende Schweizer Autorin Gabrielle Alioth in einem Text in der Neuen Zürcher Zeitung geschrieben.

Cristiana Fliri arbeitet alleine in ihrer Buchhandlung, Aushilfen hat sie keine. Wie lange macht sie es noch? Etwa drei Jahre, meint sie. Sieben Enkel hat sie, die sie mehr sehen möchte. Zudem wird auch sie nicht jünger. Ob eine Nachfolge in Sicht sei? Nein. Und sie sagt: „Ich werde mir nicht nochmals ein Bein ausreissen, um jemanden zu finden“. Eine Buchhändlerin gebe es in Zürich, die aus der Region stamme und Vallader spreche. Die Verbundenheit zur Region und die Beherrschung der lokalen Sprache seien im Kontakt mit der Dorfbevölkerung wichtig, ein Unterländer würde es als Nachfolger nicht leicht haben.

Chantunet da cudeschs
Stradun 297
7550 Scuol
T: 081 864 94 30

 

 

 

Stärke: Regionales

Heinz Egger

Chantunet das Cudeschs aussen

Eine Strassenbaustelle erschwert den Zugang zum Laden. Die Sonne scheint in die blitzblanken Scheiben, so dass nicht gut zu erkennen ist, was hinter dem Glas ausliegt. Aber von der Fassade steht ein blauer Leuchtkasten ab: Hier ist er, der Chantunet da Cudeschs, der kleine Buchladen, der physisch bis nach St. Moritz und Davos keine Konkurrenz kennt. Und doch sagt Cristiana Fliri bei der Begrüssung, ja, sie sei die Inhaberin der Hobby-Buchhandlung. Im weiteren Gespräch erzählt sie, der Laden bestehe seit 1995. Zuerst hätten sie ihn zu zweit geführt, dann sei sie alleinige Inhaberin geworden. Nein, sie habe keine weiteren Angestellten. Sie möchte den Laden noch ein paar Jahre weiterführen. Ob allerdings eine Nachfolge gefunden werde, sei offen, sogar fraglich. Sie fände es gut, wenn nach der langen Zeit unter ihr ein ganz neues Konzept käme. Allerdings müsste auch jemand einsteigen, der die Sprache des Tals spreche, also Vallader, was im Unterengadin gesprochen wird, oder Puter aus dem Oberengadin.

Plakate an der Tür, Bücherinsel

Der Raum der Buchhandlung ist klein. So gross wie eine Wohnstube vielleicht. Die Decke ist weiss, hölzerne Leisten decken die Stösse der Deckenplatten ab. Holz dominiert. Zur Strasse hin ein Schaufenster, und von der Türe her rechts zwei Fenster. Links steht die Theke. Gleich nach dem Eingang folgt eine Bücherinsel, dahinter verengt sich der Raum um etwas mehr als eine doppelte Türbreite. Auf dem Türblatt decken Plakate das Glas und Teile der unteren hölzernen Hälfte ab. Es sind Reklamen. Wunderbar leuchtet einer der Oberengadiner Seen mit gespiegelter Bergkette: „Wandern wie gemalt – Graubünden“ heisst das Buch der Historikerin Ruth Michel Richter und des Fotografen Konrad Richter, das angepriesen wird. Darunter lächelt verschmitzt Arno Camenisch und lädt ein, sein Werk „Letzter Schnee“ zu lesen. Daneben hängt die Reklame für das Du Nr. 881 von Januar/Februar 2018, das Not Vital, dem Künstler aus Sent, gewidmet ist.

Auf einen Blick prägen sich einem so drei Dinge zu Graubünden, respektive zum Engadin ein. Diese klare Sicht auf das, was wichtig ist, prägt die Auswahl im Laden. Wer etwas zum Engadin sucht, oder sich für das Schaffen von Bündner Autorinnen und Autoren interessiert, der wird hier bestimmt fündig. Oben auf der schon erwähnten Bücherinsel stehen Rücken neben Rücken Bücher der „auturs grischuns“. Da stehen Namen wie Clo Duri Bezzola, Clà Biert, Iso Camartin, Arno Camenisch, Linard Candreia, Marcella Maier, Jon Nuotclà, Oscar Peer, Rut Plouda, Leta Semadeni, Leo Tuor. Die meisten Werke stehen auf Deutsch da, einige sind zweisprachig. Und dazwischen finden sich andere Autorinnen und Autoren, die in Graubünden oder über Graubünden schreiben. So etwa Angelika Overath, die seit 2007 in Sent lebt und mit ihrem Buch „Alle Farben des Schnees“ tagebuchartig vom Leben im Bergdorf berichtet. Oder Conrad Ferdinand Meyer „Jürg Jenatsch“.

Passend auch in einer Vitrine neben der Eingangstüre Kunstbücher berühmter Bündner Maler: Giovanni Segantint, Alberto Giacometti, Alois Carigiet. In einer der Fensternischen sind romanische Werke aufgelegt. In einer Kartonschachtel stehen die auf Romanisch erschienenen SJW-Hefte. Beispielsweise und als Überraschung Isaac Bashevis Singer: La chavra Zlateh. Wer Vallader lernen möchte, findet hier eine Grammatik, einen Sprachkurs und eine CD.

poesias

Alle Tablare sind von Hand mit Feder angeschrieben – natürlich auf Vallader! Eine schöne Auswahl an Bilderbüchern für die „uffants pitchens“ steht da und im Gestell daneben „poesias“ von Andri Peer, Chasper Po, Leta Semadeni, Clà Biert – diesmal allerdings nur auf Romanisch. Zu Andri Peer gibt es in der Buchhandlung noch ein Werk, das „…anhand von Andri Peers Thematisierungen des Schreibprozesses, seiner Poetik und seiner Reaktion auf die Rezeption seiner Gedichte … einen spannenden Abschnitt aus Graubündens Kulturgeschichte zeichnet“: Lichter blauer Erwartung, das poetische Schreiben von Andri Peer im kulturellen Kontext, herausgegeben von Annetta Ganzoni (Zitat nach https://kulturforschung.ch/lichter-blauer-erwartung/).

Im Drehständer mit Taschenbüchern steckt Melitta Brezniks „Nachtdienst“. Melitta Breznik lebt ebenfalls in Sent und erhielt den diesjährigen Bündner Literaturpreis.

Auch die Abteilung „cuschinar“ widmet sich der Bündner Küche, der Alpenküche oder der „Geissechuchi“. Diverse Mundarttitel sind vorhanden, beispielsweise Flurin Caviezels „Isch impfall wohr“ aus dem Zytglogge-Verlag oder die inzwischen durch ihre markigen Sprüche in der Kinowerbung bekannt gewordenen beiden Steinböcke Gian und Giachen.

Schellenursli und Co.

Natürlich kommt auch auf die Rechnung, wer ein aktuelles Buch aus der Belletristik möchte oder etwas aus der Abteilung „inglais“ oder für die Kinder eine Ausgabe vom „Schellen-Ursli“, „Flurina“ oder „Der grosse Schnee“ mit den Bildern von Alois Carigiet und den Texten von Selina Chönz sucht.

Ein Blick zurück nach dem Verlassen des Ladens zeigt, dass die Ladentür mit einem hölzernen Laden geschützt werden kann. Vielleicht ist das nötig, wenn viel Schnee liegt, vielleicht aber auch zum Schutz der zahlreichen Schätze im Laden.

 

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