Leserausch in Zürich
Michael Guggenheimer
Ein Wohnzimmer in Zürich. Es kann auch in Winterthur oder Uster sein. Die beiden Bewohner haben alle Stühle, die sie besitzen, ins Wohnzimmer getragen. Nachdem sie den grossen Tisch zur Seite geschoben haben, haben sie bei den Nachbarn noch sieben weitere Stühle besorgen können. Wenn man die vier Plätze auf dem Sofa auch noch hinzurechnet, dann haben 28 Personen Platz im Salon. Kommt noch ein Platz hinzu für die Autorin oder für den Autor. Es ist Donnerstagabend, Beginn des Festivals „Zürich liest“, der Anlass heisst Wohnzimmerlesung und kommen kann nur wer sich rechtzeitig per Email angemeldet hat. Nicht alle kommen wegen der Autorin oder des Autors an eine der acht Wohnzimmerlesungen. Da gibt es auch Gäste, die einfach gerne ein fremdes Wohnzimmer, eine fremde Wohnung anschauen möchten. Und unter den Gästen gibt es auch Wagemutige, die früh kommen und sich im Büchergestell der Gastgeber umschauen. Um 20 Uhr findet die Begrüssung statt: Die Gastgeberin führt kurz ein, sie erzählt, weshalb sie sich für diese Autorin oder diesen Autor entschieden hat. Dann folgt die Lesung. 40 Minuten Vortrag, anschliessend eine Fragerunde, die zaghaft beginnt. Wieder ist es eine Deutsche, die die erste Frage stellt, Schweizer sind da zurückhaltender. Weshalb wohl? Nach der Fragerunde offeriert das gastgebende Ehepaar einen Apéro, die Autorin oder der Autor signiert noch Bücher, man bleibt lange um den Esstisch stehen und unterhält sich.
So beginnt am 22. Oktober das grosse vier Tage währende Festival ‚Zürich liest’ mit seinen 150 Lesungen in Zürich, Winterthur und in einigen weiteren Gemeinden. Neun Wohnzimmerlesungen, an denen man Autoren in einem besonderen Ambiente kennenlernen kann. Monate zuvor haben Violanta von Salis und Nathalie Widmer von ‚Zürich liest’ mit der Vorbereitung begonnen. Ihnen zur Seite stand eine Programmkommission mit Markus Wieser, Präsident des Zürcher Buchhändler- und Verlegervereins (ZBVV), zwei Buchhändlerinnen, der Programmverantwortlichen des Literaturhauses Zürich, einer Bibliothekarin und der Leiterin der Messeabteilung des Schweizerischen Buchhändler- und Verlegervereins (ZBVV). Ein halbes Jahr vor Festivalbeginn konnte man sie zuerst an der Leipziger Buchmesse sehen und dann an den Literaturtagen in Solothurn, wo sie auf der Suche nach Autorinnen und Autoren waren, die sie nach Zürich ans grosse Lesefestival einladen könnten. Zu neunt haben sie das Programm zusammengestellt, das aber nicht nur ihr Programm ist. Denn Buchhandlungen und Verlage können bei ‚Zürich liest’, sofern sie Mitglieder eines der beiden Buchhändkler- und Verlagsverbände sind, Ideen einbringen und Veranstaltungen vorschlagen, die im Programmheft mit einer Auflage von 40 000 Exemplaren und auf der Homesite von ‚Zürich liest’ beworben werden.
Eröffnet wird Zürich liest jeweils im Festsaal des Kaufleuten. Ein Autor oder ein Publizist aus Zürich sowie ein oder zwei weitere Autoren treten jeweils auf der grossen Bühne auf. Zwar sind die meisten Leser heutzutags Leserinnen. Die Eröffnungsgäste sind aber dieses Jahr Männer: Die Autoren Peter Stamm und Arno Camenisch, Kulturredaktor Manfred Papst und Musiker Christian Brantschen. Die offizielle Begrüssung erfolgt durch den Kulturdirektor der Stadt Zürich. Immerhin darf Monika Schärer als Moderatorin charmant durch den Abend führen. Am Tag darauf legt das Festival los mit den Wohnzimmerlesungen und mit einer Reihe von Lesungen an so verschiedenen Orten wie der Stadtgärtnerei, dem Cabaret Voltaire, im Lokal des Seeclubs Zürich, im Alterszentrum Klus Park, in den Kavernen unter dem Walcheplatz, im Café Boy, im „sogar theater“. ‚Zürich liest’ ist angesichts der so unterschiedlichen Austragungsorte auch ein Anlass, an dem man Häuser betreten kann, die man bis jetzt nicht kannte. Am Festival-Freitag besteht die Möglichkeit, jene Orte aufzusuchen, in denen Manuskripte begutachtet und Bücher verlegt werden: Der Rotpunktverlag und der Dörlemann Verlag öffnen ihre Türen. Die breite Palette von Vorleseorten wird am Freitag nochmals erweitert: Das italienischsprachige Liceo Artistico, das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien, die Stadtbibliothek Winterthur, das Theater am Neumarkt, die Büromöbelhandlung Rüegg-Naegeli, das Junge Literaturlabor JULL, die vielsprachige Bibliothek KANZBI und weitere Institutionen gehören zu den Aufführungsorten von ‚Zürich liest’. Und natürlich auch viele Buchhandlungen.
Die meisten Autorinnen und Autoren, die bei ‚Zürich liest’ auftreten, leben in der Schweiz. Ohnehin wird es immer schwieriger Topshots der internationalen Literaturszene an Festivals einzuladen, weil es heute weltweit unzählige Literaturfestivals und Literaturorte gibt, die um bekannte Autoren buhlen. Immerhin treten aber bei ‚Zürich liest‘ dieses Jahr Ingrid Noll, Michel Bergmann und Ilja Trojanow aus Deutschland auf, der Belgier Lucien Deprijk, der aus Rumänien stammende Andrei Mihailescu, der Südafrikaner Niq Mhlongo, der deutsch-iranische Dichter Said, die Niederländerin Miek Zwamborn und Martin Walker aus Grossbritannien in Zürich, womit das Festival auch eine übernationale Note erhält.
Zum fünften Mal findet das Festival ‚Zürich liest’ statt. Und damit nicht nur herkömmliche Lesungen im Angebot sind, versucht die Programmkommission jedes Jahr neue Formen der Literaturvermittlung anzubieten. „Dichter-Duett“ heisst eine Programmschiene, an der zum Beispiel Autor Peter Stamm und Stararchitekt Peter Zumthor in einem unmoderierten Gespräch auftreten und Ilja Trojanow im Dialog mit dem rumänisch-schweizerischen Schriftsteller Andrei Mihailescu zu erleben sein wird. „Literarisches Speed-Dating“ lautet ein weiteres Format des Festivals, bei dem an einem Abend fünf Autorem an je einem Tisch im Cabaret Voltaire sitzen und für je eine Gruppe von Zuhörern vorlesen. Nach 30 Minuten Lese- und Fragezeit erklingt ein Gong und die Gruppe bewegt sich zum nächsten Autor. Vier Tage Literaturfestival an vier Tagen. So viel Literatur gibt es nur ein Mal im Jahr in Zürich!
Das ganze Programm unter
http://www.zuerich-liest.ch/
Fest des Lesens
Heinz Egger
Wohnzimmerlesung. Schon der Name erweckt Spannung: Einerseits ist da das Wohnzimmer. Ich bin eingeladen in ein fremdes Wohnzimmer zu gehen. Wie wird es dort aussehen? Wie gross wird es sein? Es ist ein Zugang zu einer intimen Sphäre. Treibt einen da auch ein wenig der Voyeurismus zur Teilnahme? Und dann eine Lesung mit einem Autor. Man ist dieser Person sicher viel näher als sonst an einer Veranstaltung. Man kann eine ganz andere Beziehung aufbauen. Und vielleicht wird in der kleineren Runde auch eher das Publikum mit Fragen aktiv.
Die Wohnzimmerlesungen finden quasi als Auftakt des Zürcher Literaturfestivals Zürich liest am Mittwochabend statt. Auch Hannes hat sich für eine solche Lesung angemeldet. In Albisrieden liegt der Ort. Er ist sehr gespannt, wie es in Albisrieden aussieht. Es ist nicht ein Quartier, in dem er sich üblicherweise aufhält. Er fährt von Witikon mit Bus und Tram quer durch die Stadt. Und erstaunt über die Wechsel entlang der Tramlinie 3. Die hohen Türme am Lochergut, keine Zypressen an der Zypressenstrasse, Verkehrschaos am Albisriederplatz, Zypressen im Friedhof Sihlfeld. An der Haltestelle Hubertus steigt er aus und findet sein Ziel leicht von da aus.
Er wird herzlich empfangen. Er ist nicht der erste, aber auch nicht der letzte Gast, der ankommt. Munteres Stimmengewirr. Einige kennen sich. Er niemanden. Man steht noch einige Zeit bei Smalltalk beisammen. Dann setzt man sich in der geräumigen Wohnstube. Die einen finden einen Platz auf dem Sofa, andere in den Fauteuils und die meisten der etwa 20 Teilnehmenden auf einem Gartenstuhl. So wie die Literaturbegeisterten zusammengewürfelt sind, so sind es auch die Stühle. Ein herrlich improvisierter und witziger Kontrapunkt zur Designer-Wohnwand aus Chromstahlrohren, dem Fotoband, zusammengestellt aus Keramikkacheln, der weissen Skulptur auf einem Podest.
Eingeklemmt zwischen zwei Damen hat Hannes vom Sofa aus gute Sicht auf den Moderator und Gastgeber, sowie auf den Autor. Bald fliesst ein lebendiges Gespräch zwischen ihnen. Bei der Frage, wie er eigentlich einen Roman schreibe, steht der Autor auf. Er müsse etwas aus seiner Tasche holen. Er kehrt mit einer Art dünnem Buch in der Hand zurück. Dann aber klettert er sich auf seinen Stuhl und öffnet, was er geholt hat. Es ist ein Leporello, der die ganze Struktur des Romans enthält. Notizen, Pfeile, Unterstrichenes, Farben – ein komplexes Bild, nach dem das Buch geschrieben und später auch kontrolliert worden ist. Und tatsächlich mischt sich das Publikum bei so viel Spontaneität gern ein. Viele Fragen werden gestellt. Die Zeit sehr bald verstrichen, die für den ersten Teil des Abends reserviert worden ist. Aber es gibt einen zweiten, gemütlichen und längeren Teil. Die Gäste sind eingeladen, bei einem Glas Wein, Trockenfleisch, Käsestückchen, Brot und Früchten die Fäden des Abends weiter zu spinnen. Natürlich ist der Autor eine begehrte Person. Er ist umringt von Fans. Er kommt kaum dazu, von den feinen Sachen zu kosten.
Hannes ist begeistert von diesem Literaturabend. Er hofft, wieder einmal an einer solchen Veranstaltung teilnehmen zu können. Da ist die Beschränkung durch das Wohnzimmer. Die Teilnehmerzahl ist klein, und man kann nur auf Voranmeldung Aufnahme in die Reihen der Glücklichen finden.
Zürich liest findet 2015 zum fünften Mal statt. Auch dieses Jahr gibt es die Wohnzimmerlesungen am 22. Oktober. Und eine Reihe weiterer spezieller Veranstaltungsorte locken bis zum 25. Oktober zu einem Besuch, zum Beispiel der Seeclub Mythenquai, Rost und Gold, Jenseits im Viadukt, Tram, Ledischiff, JULL – Junges Literaturlabor. Und auch für den Lesenachwuchs besteht ein atrraktives Programm.
Das Literaturfestival wächst weit über Zürich hinaus. Man müsste schon fast sagen der Kanton Zürich liest. Von Otelfingen bis Uster und von Bülach bis Wädenswil wird gelesen. Der Veranstaltungsschwerpunkt bleibt aber Zürich.