Alle Bücher auf Deutsch
Michael Guggenheimer
„Nächste Haltestelle ‚Deutsche Nationalbibliothek’“, sagt die Lautsprecherstimme in der Frankfurter U-Bahn. „Wenn Sie Bücher bestellen wollen, dann sollten Sie das bis 16 Uhr machen“, rät die freundliche Dame am Auskunftsschalter und zeigt einem, wie man sich hier als Benutzer anmeldet. Bücher, die später bestellt werden, können erst am folgenden Tag abgeholt werden. Mit nach Hause nehmen, darf man die Bücher aber nicht. Denn die Deutsche Nationalbibliothek ist eine Präsenzbibliothek, sie ist jene Einrichtung, die alles für die Zukunft aufbewahrt, was in Deutschland und weltweit über Deutschland publiziert wird. Sie ist gewissermassen das Gedächtnis des Landes. Um einen Gedächtnisverlust zu verhindern, dürfen alle Publikationen nur im Haus eingesehen werden. Zwei Standorte weist die Nationalbibliothek auf, einen in Leipzig und einen in Frankfurt, wobei die Bestände in Leipzig bis zum Gründungsjahr 1912 zurückgehen, diejenigen in Frankfurt mit dem Jahr 1946 beginnen.
Der Frankfurter Sitz der Nationalbibliothek in einem Gebäudekomplex, der im Jahr 1997 eröffnet wurde, bietet wunderbare Arbeitsmöglichkeiten: 360 Arbeitsplätze auf drei Niveaus verteilt. Hauptlesesaal, Zeitschriftenlesesaal und Multimedialesesaal. Nirgendwo kommt ein Gefühl der Enge auf. Breite Tischplatten aus hellem Ahornholz, Sicht in einen grünen Park, ein Teppichboden, der die Geräusche dämmt, an die hundert Computerarbeitsplätze mit Zugang ins Internet. Und dazu in den Magazinen im tiefen Kellerbereich der Bibliothek die Literatur des deutschsprachigen Raums: Belletristik, Politik, Geschichte, soziales Leben. „Pflichtablieferung“ heisst der Begriff: Deutsche Verlage sind gesetzlich verpflichtet, ihre Neuerscheinungen in zwei Exemplaren, eines für Leipzig, eines für Frankfurt, abzuliefern. Verlage in der Schweiz und in Österreich tun es ihnen gleich. Wer sich in den Onlinekatalog einloggt, der kommt daher nicht aus dem Staunen heraus, so komplett, so sorgfältig ist die Sammeltätigkeit dieser Institution, die im Jahr 1912 gegründet wurde und in den beiden Buchmessestädten Deutschlands je eine riesige Bibliothek betreibt.
Die Nationalbibliothek, die im Besitz des Bundesrepublik ist, geht mit der Zeit: Nicht nur Werke in Papier gehören zum Sammelauftrag. Seit 2006 besteht ein Sammelauftrag für Online-Publikationen, gesammelt werden hier wissenschaftliche Veröffentlichungen, E-Books und elektronische Zeitschriften. An die 2500 Bestellungen werden von den Mitarbeitenden beider Bibliothekssitze pro Tag bearbeitet, nahezu 37 000 Seitenaufrufe im Netz wurden 2013 pro Tag gezählt. Zusätzlich zum gesetzlich verordneten Sammelauftrag beherbergt die Frankfurter Bibliothek noch das Deutsche Exilarchiv 1933-1945. Hier werden gedruckte und ungedruckte Zeugnisse der deutschsprachigen Emigration und des Exils gesammelt: Dazu gehören im Exil veröffentlichte Bücher und Broschüren sowie persönliche Nachlässe von Emigranten. Wie umfassend diese Bestände sind, zeigen Zahlen: rund 20 000 Bücher und Broschüren, 11 600 Zeitschriftenbände, 290 Nachlässe, eine Referenzbibliotek mit 3700 Bänden. Wer hier forschen will, kann das, wobei Unterlagen lebender Personen nur mit deren Genehmigung eingesehen werden können. Eine Website „Künste im Exil“, eingerichtet nach einer Forderung der Nobelpreisträgerin Herta Müller, ermöglicht einen Museumsbesuch der anderen Art: So vielfältig wie die Gründe sind auch die Auswirkungen des unfreiwilligen Exils auf Künstler und Künste. Diesen Auswirkungen widmet sich die virtuelle Ausstellung. Ihr Anliegen ist es, das Exil von Künstlern in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu zeigen.
Deutsche Nationabibliothek
Adickesallee 1 / 60322 Frankfurt am Main
Deutscher Platz 1 / 04103 Leipzig
www.dnb.de
Unbeschreiblich
Heinz Egger
„Freie Statt für freies Wort, freier Forschung sicherer Port, reiner Wahrheit Schutz und Hort“ – dieser Spruch prangt in grossen, goldenen Lettern an der Fassade. Ob das im Laufe des 20. Jahrhunderts immer gegolten hat, wage ich zu bezweifeln. Sie ist beeindruckend, diese hohe Fassade mit Uhr, Sprüchen links und rechts, hohen Türen mit golden leuchtenden Fenstergittern. Von der Strasse einige Tritte hoch, durch die Tür und noch ein paar Tritte hoch in die geräumige, helle Vorhalle. Rechts die Informationstheke, links ein Gang, daneben die Treppe hinab zur Cafeteria. Geradeaus der Zugang zum Lesesaal der Geisteswissenschaften. Ohne Mitgliederausweis darf man da allerdings nicht hinein. Einzig der Zutritt zur Anne-Frank-Shoah-Bibliothek ist frei.
Am Kassenautomat löse ich für 6 Euro eine Eintagesmitgliedschaft. Mit der Quittung gehe ich zur Anmeldung. Während mein Ausweis in Kreditkartenformat produziert wird, erklärt mir die junge Frau den Ablauf der Buchausleihe genau, erwähnt alle acht Lesesäle und erklärt, wie man sie erreicht. Sie redet schnell, sie hat diesen Sermon zu den Lesesälen der Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Technik, Shoah, Karten, Musik und Museum wohl schon unzählige Male hergesagt. Die Nationalbibliothek ist eine reine Präsenzbibliothek. Kein Buch darf das Haus verlassen. Darum die Detektorschleuse beim Eingang.
Ich betrete den Lesesaal der Geisteswissenschaften. Dies ist auch der Raum, in dem die Deutsche Bücherei 1916 eröffnet worden ist. Riesig ist er, hoch, oben lichtdurchflutet. Wo auch immer das Auge hinschaut: Bücher in dunklen Gestellen. Auch auf der Galerie oben sind die Gestelle mehr als mannshoch. Gegenüber dem Eingang auf einem kleinen Podest thront hinter Bildschirmen eine ältere Dame. Auskunftspunkt. Einen solchen gibt es in allen Lesesälen. Etwa vierzig Leute arbeiten im Raum. Es hätte locker Platz für viermal so viele. Ich setze mich an einen der Tische, die zwei Arbeitsplätze bieten. Sie sind neu, aber auf alt gemacht: eine Bürolampe mit flaschengrünem Schirm aus Kunststoff über einer Tischplatte mit Linoleumeinlage, Wanne für Schreibzeug, festgemachter Deckel über dem ehemaligen Tintenfass. In der Mitte unter der Tischplatte zwei Steckdosen und der Schalter für die Tischlampe. Für den Zugang zum Internet und den Online-Katalog steht ein Funknetzwerk zur Verfügung.
Ich richte mich auf dem schweren Stuhl ein, dessen gebogener Rücken in eine Armstütze übergeht, warte und horche. Nicht einmal das Klappern der Tastaturen ist zu hören. Hin und wieder ein Räuspern, das Schaben von Büchern auf einem Tisch, ein Hüsteln, das in anderen eine Antwort hervorruft, Rascheln von Papier beim Blättern, Stuhlrücken.
Ich steige die schmale Treppe zur Galerie hinauf und schaue in die Abteilung „SPRACHWISSENSCHAFT“ – alle Gestelle sind mit Grossbuchstaben beschriftet.
Hier etwas in die Hand zu nehmen, ist wie der Griff in einen Heuhaufen. Es ist unmöglich, mit dem Grashalm in der Hand das Heu zu beschreiben.
Ich finde eine altaramäische Grammatik von Stanislav Segert. Sie erschien 1986 in der 3., unveränderten Auflage im VEB Verlag Enzyklopädie Leipzig. Das Buch ist stark gegliedert. Beispielsweise unter Funktion der Wörter im Satz reicht die Nummerierung bis zur vierten Gliederungsebene: 6.5.3.5. Verwendung der Relativpartikel in konjunktionaler Funktion.
Im Anne-Frank-Shoah-Lesesaal ist alles weiss, sehr hell. Sie wurde 1992 eingeweiht. Eigentlich ein schöner Ort, um zu arbeiten. Doch das in einem Teil des grossen Raums in Archivrollregalen gesammelte Material ist von schwerem Inhalt. Ein weiterer Teil ist den Bibliographien gewidmet: Dicke Bände, in denen zusammengefasst ist, was als Druckwerk irgendwo erschienen ist.
Ich entdecke Verbotene Druckschriften in Deutschland, Band 2, Schmutz und Schund, herausgegeben von Herbert Birett, Topos Verlag AG, Vaduz, Liechtenstein, 1995. Die Basis bildet der Polunbi-Katalog, Berlin 1926. Es geht um die literarische Zensur zwischen 1870 und 1930. In dieser Zeit verboten staatliche Gremien an die 10 000 Titel. Unter den Autoren tauchen zum Beispiel Honoré de Balzac, Giovanni Boccaccio und Johann Wolfgang Goethe auf – letzterer wohl als Pseudonym gebraucht.
Ein unglaubliches Buchparadies ist die Nationalbibliothek. Unbeschreiblich! Und die Leute der Bibliothek sind sehr nett und hilfsbereit. Das durfte ich als Neuling am Kassenautomat, der die neuesten 10-Euro-Scheine noch nicht kannte, bei der Anmeldung, beim Herstellen von Kopien und in der Garderobe erfahren. Danke!
Beim nächsten Leipzig-Besuch dann noch besuchen die Bibliotheca Albertina, die Stadtbibliothek, die Bibliothek der HTWK und noch einige mehr finden sich hier.