Der Charme des Kleinen
Michael Guggenheimer
Reizvoll die verschiedenen Literaturtage und Büchermessen der Schweiz. In Luzern und St.Gallen, in Frauenfeld und Thun oder Zofingen. Schöne Namen haben sie: „Fureur du lire“, „Höhenflug“, „Luzern bucht“ oder auch „Wortlaut“. Ein Wortspiel ist’s, das der «Kleinen Bieler Büchermesse» als Name gegeben wurde: edICIon heisst sie, ICI bildet den Mittelteil des Namens, das französische Wort für «hier». „Hier ist Biel“. „Ici c’est Bienne“ rufen die Anhänger des Eishockey Klubs EHC Biel, wenn ihr Klub wieder spielt. „Hier ist Biel“ sagen die Organisatorinnen der Buchmesse, die stolz das Adjektiv „klein“ benutzen. Alle zwei Jahre findet diese Messe statt, im Jahr 2019 war’s zum fünften Mal. 2021 kommt die sechste Auflage. Das Farelhaus und die zweisprachige Buchhandlung Bostryche waren die Austragungsorte dieser sympathischen Messe im Jahr 2019, an der alles zweisprachig war: Der Name etwa: «Petite Foire Biennoise du Livre», der Name des Hauses Maison Farel und die ausstellenden Verlage. Verlegerin Judith Luks (edition clandestin), Verlegerin Ursi Anna Aeschbacher (die brotsuppe) sowie Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta (Haus am Gern) sind die Organisatoren der Buchmesse, sie haben etwas mehr als vierzig Kolleginnen und Kollegen kleiner Verlage aus der französischsprachigen und der deutschsprachigen Schweiz zum Mitmachen eingeladen. Ein Wochenende lang bestand die Möglichkeit, in Büchern zu stöbern, Bücher zu kaufen, mit Leuten aus der Buchszene zusammenzukommen. Zwischendurch und nebenher fanden Lesungen statt, wobei hier auf einen Sprachmix geachtet wird. Denn Biel ist eine zweisprachige Stadt.
Die Bieler Buchmesse ruft und die Leute kommen. Und wie! Im Café nebenan ist bereits um 10 Uhr am ersten Messetag kein Platz mehr frei. Das Farelhaus ein Treffpunkt. Der aus Graubünden stammende Autor Arno Camenisch, der seit einigen Jahren in Biel wohnt und gerade sein zehntes Buch publiziert hat, erklärt einem das Haus, das früher der Evangelischen Kirche gehört habe und heute von einer Gruppe von kulturaffinen Architekten betrieben wird. Das Café sei sein Stammlokal. Gleich neben dem Eingang der Messe sitzt Camenischs Verleger Urs Engler, der die Minuten, in denen niemand etwas von ihm will, dazu nutzt, um ein Manuskript zu lektorieren. Anders als die anderen Verleger, die möglichst viele Publikationen präsentieren, hat er bloss eine einzige Reihe von Büchern mitgebracht, von den zehn Büchern Camenischs nur drei Titel.
Drei lange Tischreihen in einem hellen Saal. Hinter den Tischen sitzen die Verlegerinnen und Verleger, vor ihnen sind die Bücher ausgebreitet, die sie mitgebracht haben. Eine wunderbare Atmosphäre im hohen Saal, kein Gedränge wie an den grossen Buchmessen, keine Lautsprecherdurchsagen, keine Musik. Hier kann man mit Autorinnen und Autoren und mit Verlegerinnen und Verlegern ins Gespräch kommen, kann sich länger mit ihnen unterhalten, kann sich hinsetzen und sich in ein Buch einlesen. Und man staunt über die Vielfalt der kleinen Verlage der Schweiz und deren Bücher, die man in den grossen Buchhandlungen zu selten sieht.
Fotograf Mischa Dickerhof sitzt auf der leicht erhöhten Bühne und ist im Gespräch vertieft. «Donnerstag Abend / Jeudi soir / Thursday Evening» heisst das Buch, das er vor kurzem im Verlag «die brotsuppe» herausgegeben hat. Seitdem er das Konzertprogramm des Bieler Café du Commerce zusammenstellt, hat der gelernte Fotograf an jedem Konzert Bilder aufgenommen, die jetzt in einem Buch zu sehen sind.
Verlegerin Annette Beger und ihre Stellvertreterin Somea Hürlimann sind aus Zürich herangereist und zeigen ihre Bücher. «Reiseführer des Zufalls» heisst ein Buch ihres Kommode Verlags, ein Longseller, der am ersten Messetag gleich mehrmals über den Ausstellungstisch geht. Eine Publikation für alle jene, die beim Flanieren durch die Stadt oder in der Landschaft überraschende Entdeckungen machen möchten. Übersetzungen aus dem Finnischen, Englischen und Estnischen gehören zu den Titeln des Verlags.
Übersetzerin und Verlegerin Brigit Wettstein von Pearlbooksedition in Zürich bewegt sich zwischen der deutschen und der französischen Sprache. Im Jahr 2020 wird sie mit Büchern aus ihrem Verlagsprogramm in Morges und Paris auftreten. Nach Biel hat sie Joseph Incardonas Roman «Nächster Halt: Brig» mitgebracht. Für das französische Original Permis C erhielt der Autor 2017 den Preis Roman des Romands. Der Internetauftritt von Wettsteins Verlag ist zweisprachig und passt bestens zur zweisprachigen Stadt Biel / Bienne!
Marco Schibig aus Bern ist Buchgestalter und Verleger. Er zeigt grossformatige Fotobücher. Auffallend jener Band, in dem Bilder aus den USA der 60er Jahre zu sehen sind, die Schibig an Internetversteigerungen erworben hat. Bisher hat er rund ein Dutzend Titel vorgelegt, unter anderen «Street Photography Revisited». Schibig macht in der Regel alles selber, den Text, die Zeichnungen, die Fotografien, und auch die Fadenheftung. Seit früher Jugend nutzt er jede freie Minute um sich als Zeichner, später auch als Autor, Fotograf und Sammler zu betätigen.
Bruno Margreth von «About Books» in Zürich ist ein unabhängiger Verleger für zeitgenössische Kunst-, Kultur- und Architekturbücher. In engen Kollaborationen mit Künstlern, Kuratoren und Architekten realisiert sein Verlag Buchprojekte von hoher gestalterischer Qualität und Materialisierung in kleinen Auflagen. Vor ihm liegt der Band «Brandnacht» mit Illustrationen von Hans-Jörg Leu zu Sagen aus dem Kanton Uri. Der Verlag «Pudel und Pinscher» aus Wädenswil ist unter anderen mit dem neusten Buch von Dieter Zwicky in Biel präsent. «Los Alamos ist winzig» heisst das witzige Buch dieses Sprachkünstlers. Dazu hiess es im St.Galler Tagblatt in einem Text von Valeria Heintges: «… ein Buch mit Kürzest-Absätzen, oft nur ein, zwei Sätze lang. Aber da reihen sich schimmernde Sprach- und Wortspielereien wie Perlen auf einer Kette aneinander. Fantastereien. Surrealitäten. Dinge, die in einem Satz behauptet und im nächsten zurückgenommen werden. Da finden sich Beschreibungen von verqueren, verdrehten Menschen, wie jeder sie kennt. Das ist hochkomisch, tieftraurig und staubtrocken. Und vor allem sehr unterhaltsam.»
Josef Felix Müller, Maler, Plastiker, Präsident der Künstlervereinigung visarte und Verleger aus St.Gallen, ist ebenso an der Bieler Messe anwesend. In seinem Verlag Vexer sind vor allem Bücher von bildenden Künstlerinnen und Künstlern erschienen.
Und Judith Luks von der «edition clandestin» hat das zweisprachige Doppelbuch «L’étincelle – Vers l’art à pied / Funken – Zu Fuss zur Kunst» herausgegeben. Man schaut sich um am Stand ihres Verlags, entdeckt die fünf Bände des «Ungewissen Manifets» von Frédéric Pajak und staunt über den Mut der Verlegerin und der übrigen Verlagsleute an der Bieler Buchmesse.
Die kleine Bieler Büchermesse edICIon findet wieder im Dezember 2021 statt.
edICIon
c/o Haus am Gern
Seevorstadt 71
2502 Biel/Bienne
T: +41 79 293 17 67
www.edicion.ch
Zauberwald der Verlage
Heinz Egger
Biel hat eine Buchmesse, die gerade einen Saal füllt. Sie nennt sich klein und findet im Zweijahresrhythmus seit 2013 statt. – Der Saal im Farel-Haus ist genug gross, um alle Aussteller zu empfangen. An langen Tischen haben die Verlage ihre Bücher ausgestellt. Ein kleiner Wald von weissen Schildern auf hölzernen Stöcken verwirrt den Blick. Auf jedem Schild steht gross ICI und darunter der Verlagsname. Man kann das lesen als „hier findest du”. Alle rufen gleich laut „hier!”. Die drei Buchstaben bilden die Mitte des Ausstellungsnamens „edICIon”. Es sind über 40 Verlage vertreten, davon gut die Hälfte aus Orten der Westschweiz. Und sie tragen schöne Namen: Zweifellos, Brotsuppe, Piep, Haus am Gern, Clandestin (was etwa heimlich bedeutet), Vision 2035, Parallèles, Le Cippe (also kleiner Grab- oder Gedenkstein). Diese kleine Liste führt nur die Verlage auf, die in Biel ansässig sind!
Da der Raum nur eine Fensterfront hat, wirkt er in der Tiefe etwas düster. Dort, in der Nähe der Bühne mit einem grossen, runden Tisch mit 10 Stühlen beginne ich meinen Rundgang.
Am ersten Stand heisst es schon, sich auf Französisch zu verständigen. „Collectif le Salon” nennt sich ein Kollektiv von Fotografen verschiedenster arbeitsmässiger Herkunft. Es ist ein lockerer Verbund von Profis, die Ausstellungen und Anlässe organisieren und auch im Selbstverlag Publikationen erstellen. Ich spreche mit Charles Frôté, einem schwarz angezogenen, baumlangen Mann. Er sagt, die Arbeit des Fotografen habe sich stark verändert. Seit der Digitalisierung sei der Fotograf von der Aufnahme bis zum Ausdruck des Bildes selber am Werk. Der erst dreissig Jahre alte Charles Frôté ist sehr gesprächig und ein glühender Vertreter des Salons – es sei sehr wichtig, dass man sich offen begegne und wirklich versuche, das Gegenüber zu verstehen.
Mein nächster Halt gilt dem Verlag Foglietto. Neben dem Tisch stapeln sich Kartons voller Bücher. Auf dem Tisch steht ein Schild: „Alle Bücher können weiterhin über den Fachhandel oder unter www.foglietto-verlag.ch gekauft werden”. Das braucht eine Erklärung. Ich erhalte sie von Aurel Illes, dem ehemaligen Geschäftsführer des Verlags, den Esther Leist extra für ihre selbst getexteten und illustrierten Kinderbücher gegründet hat. Nach ihrem Tod hat der Verlag seine Aktivität eingestellt. Die Bücher, es sind 17 Titel, sind so lange sie verfügbar sind, über den Buchhandel oder die genannte Website verfügbar. Hier in Biel aber werden die Bücher verschenkt. Das sei im Sinne und nach Wunsch der Verstorbenen.
Den Foglietto-Verlag gibt es also nicht mehr. Bei meinem nächsten Gespräch, wieder auf Französisch, erfahre ich, dass der Verlag „Paulette Editrice” eine Pause einlege.
Auf Nachfrage erklärt mir Noémi Schaub, dass im Moment kein Geld für neue „Pives” vorhanden sei. Die kleinen Büchlein mit einer Textlänge von etwa 50 000 Zeichen nennt der Verlag „Pives”, Tannenzapfen. Der Verlag wurde 2009 von Sébastien Meier gegründet und seit 2015 von Guy Chevalley und Noémi Schaub geführt. Der Katalog führt 18 „Pives” auf, je sechs erschienen pro Jahr. Nachahmenswert scheint mir das Konzept, nicht nur jenes für die Inhalte, sondern auch für die Produktion: So wie ein Tannenzapfen nahe beim Stamm fällt, so werden die Bücher in der Nähe des Verlags gefertigt. Bei allen Schritten der Produktion geht es auch um Nachhaltigkeit. Es bleibt zu hoffen, dass „Paulette Editrice” nicht zu lange pausieren muss.
Bei meinem vierten Halt treffe ich auf eine junge Frau, die ihr Kind im Tragsack wiegt. Es ist sozusagen das jüngste Mitglied im Verlag „Edtion Moderne”. Ob es dereinst wie seine Mutter Julia Marti den Verlag weiterführen wird? Die „Edition Moderne” wurde 1981 gegründet und von David Basler bis im September 2019 geführt. Seither ist er in den Händen von Claudio Barandun und Julia Marti. Der Verlag publiziert Comics und Graphic Novels in deutscher Sprache. Er ist der einzige Comicverlag der Deutschschweiz und, wie Julia Marti sagt, weltweit etabliert. Es erstaunt denn nicht, dass eine ganze Reihe internationaler Autoren und Illustratoren im Verlag vertreten sind, beispielsweise Marjane Satrapi, Joe Sacco oder Jacques Tardi. Nein, die grossen Buchmessen wie Leipzig, seien weniger ihr Ziel, aber die grossen Comic-Festivals wie „Fumetto“ in Luzern oder der internationale Comic-Salon in Erlangen in Deutschland, der 2020 wieder stattfinden wird, sagt Julia Marti.
Auch ein mobiler „Verlag” ist unterwegs, oder vielleicht ist es auch eher eine Buchhandlung. Vera und ihre Schwester schieben einen kleinen Wagen vor sich her. Er besteht aus einem vierrädrigen Untersatz, einer Kunststoffkiste und zwei Holzlatten. Eine Schnur verbindet oben die Latten. Daran hängen zwei Kartonstreifen mit Zeichnungen. In der Kiste führen die beiden Mädchen Bücher mit sich. Eines ist von Vera gezeichnet. Auf die Frage, wie sie in ihrem jugendlichen Alter zu einem eigenen Buch, erschienen im Verlag Haus am Gern, komme, antwortet sie, sie sei neidisch gewesen auf Mama, die ebenfalls ein Buch publiziert habe und sie habe deshalb auch eines herausbringen wollen. Dabei erhielt sie nicht nur Unterstützung durch den Verlag, sondern auch von Parzival. Im grünen Kleid, auf dem Kopf eine Militärmütze mit eingesteckten Vogelfedern, sitzt Parzival in einem Korbsessel vor dem Eingang zum Saal. Der ältere Mann tritt für den Weltfrieden ein und meint, dass Esperanto die Völker verbinden werde. So schrieb er zu jeder Zeichnung in Veras Buch einen kurzen Satz oder eine Frage auf Esperanto. Ich bin froh, steht darunter auch die Übersetzung. Diesem Büchlein konnte ich nicht widerstehen.
An der kleinen Büchermesse ist auch zu sehen, wie der Lebenszyklus eines Buches aussehen könnte. Wohin mit gelesenen Büchern? Der Bieler „Schronk” ist eine Möglichkeit, einem Buch ein zweites Leben zu schenken. Der Bücherschrank funktioniert nach dem Prinzip „nimm eins, bring eins”. Es gibt bereits zwei solche Bücherschränke in Biel und bald einen dritten. Betreut werden die Schränke durch einen Verein.
Schliesslich bleibt die Transformation des Buches: zur gefalteten Skulptur verarbeitet, zu Papiermaché eingeweicht oder zerrissen und zu einer Skulptur geformt, wie es „Pläkkät Session” vorschlägt. Die Garderobentheke ist säuberlich mit Plastik abgedeckt. Darauf stehen Becher mit Kleister und Pinsel. Jeder ist eingeladen, aus den Buchseiten, die Boris zu Musik unter einem Mikrofon aus den Büchern schränzt und elegant in einen grossen Wäschecontainer segeln lässt, etwas zu „chnuschten und kneten”. Pläkkät Session wurde von Studierenden der Schule für Gestaltung Biel, unter ihnen Raj und Boris, gegründet. Schon über 50 Sessions haben stattgefunden, jede zu einem anderen Thema. An den Sessions nehmen angehende Künstlerinnen und Künstler teil. Es geht darum, an diesen Treffen wie bei einer Jam-Session beim Jazz zusammen zu experimentieren.
Der Zustrom der Besucherinnen und Besucher an die kleine Buchmesse ist am Vormittag recht mager, schwillt dann aber im Laufe des Nachmittags etwas an. Das sei immer so, man könnte die Messe ebenso gut erst am Mittag eröffnen, meint Judith Luks von der „edition clandestin”. Diese kleine, aber feine Buchmesse lohnt einen Besuch auf jeden Fall. Also bis 2021!
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