Bibliothek statt Schlafsaal
Heinz Egger
Draussen Nebel. Die Schiffe gleiten als helle Schemen vorbei. Die Zypressen im Garten stehen in einem grauen Schleier. Die Insel mit dem ehemaligen Benediktiner Kloster ist wie von der Welt abgeschnitten.
Mein Streifzug durch die Bibliothek beginnt mit einer kleinen Suche. Der Eingang zur Stiftung ist gut angeschrieben, jener zur Bibliothek hingegen nicht, obwohl die Bibliothek öffentlich zugänglich ist. Von der Schiffsanlegestation kommend findet man rechts eine vergitterte Tür mit Blick in einen Innenhof und rechts davon einen Klingelknopf. Die Türe öffnet sich automatisch. Dann wird man abgefangen, weil man sich ausweisen, respektive anmelden muss. Vom Besucher wird ein Ausweis kopiert und er erhält dafür einen Besucher-Badge.
Der Weg in die Räume der Bibliothek ist ausgeschildert. Entlang eines umfriedeten Gartens in einem Wandelgang und einem weiteren solchen Garten kommt man zur Eingangstür.
Überall ist die zerstörerische Macht der Feuchtigkeit, die von unten heraufdringt, aber sicher auch durch die schweren Überschwemmungen in den vergangenen Monaten hereingetragen wurde, spürbar und sehr gut sichtbar: abblätternder Putz, Landschaften feuchter Stellen. Eine Treppe führt in den vor dem Wasser sicheren ersten Stock. In einem kleinen Raum stehen ein Kaffeeautomat, eine Garderobe und eine Anzahl Schliessfächer. Keine Behältnisse und weder Trinkbares noch Essbares ist in der Bibliothek erlaubt. Durch eine Detektorschleuse betritt man die Bibliothek.
Still ist es in der „Nuova Manica Lunga”, dem ehemaligen Dormitorio, also dem Schlafraum der Mönche. Die Bibliothek liegt im langen, verglichen mit der Höhe relativ schmalen, sehr hohen Gang, der die 57 Zellen – die Schlaf und Beträume der Mönche – miteinander verbindet. Licht dringt von den Fenstern an den Stirnseiten des Gangs, durch Oberlichter zwischen den Kreuzbögen des Gewölbes und durch die Fenster eines Quergangs etwa in der Mitte der „Nuova Manica Lunga” ein. Das ist ein überwältigender erster Eindruck!
Rechts vom Eingang ist eine u-förmige Theke, an der ich mich erneut anmelde. Dass ich für einen Blog schreibe und Fotos machen möchte, veranlasst die Bibliothekarinnen, ihren Chef zu avisieren. Da er nicht gleich verfügbar ist, mache ich mich auf einen ersten Rundgang.
Über zwei Stockwerke hoch laufen die Bibliotheksgestelle über fast die gesamte Länge den Wänden nach. Unten prägt helles Holz von Parkett und senkrechten Stützen der Büchergestelle das Bild. Der quer zur Länge verlegte Parkettboden drückt den sehr hohen Raum etwas in die Breite. Sieben schwere Massivholztische stehen im langen Gang. Sie bieten für sechs Arbeitende Platz, es stehen aber nur je vier Stühle daran. Diese hat der Architekt extra für diesen Raum designt und herstellen lassen. Man sitzt auf dem harten Holz wirklich gut und der Rücken wird genau an der richtigen Stelle gestützt.
Die senkrechten Stützen der Büchergestelle stehen immer dort, wo eine Zellentür liegt. Die Durchgänge aus Stein sind so erhalten, wie sie im 15. Jahrhundert von Giovanni Buora gebaut wurden. Oben auf der Türlaibung trägt jede Zelle eine schwarz aufgemalte Nummer. Die Zellen dienen heute teilweise als Büroräume, enthalten Infrastruktur wie den Kopierraum, oder sind Arbeitsräume.
Oben dominiert dunkel gestrichenes Metall. Steile Metalltreppen führen auf die schmalen Galerien hinauf, über die man die Bücher im oberen Stock erreicht. Die Fächergrösse in den Gestellen ist fix. Lampen, die über den Gestellen befestigt sind, beleuchten je zwei Gestelle mit einem gelblichen Licht.
Am Boden stehend und den langen Gang ins Auge fassend, fällt mir eine sehr angenehme, warme Stimmung im Raum auf. Die Neugestaltung plante der Architekt und Designer Michele De Lucchi. Der Umbau des über 1100 m² grossen Raums fand von 2005 bis 2009 statt.
In eines der Zellen-Büros werde ich denn auch von Simone Guerriero gebeten, der auf der Website als Coordinatore aufgeführt ist. Simone Guerriero interessiert sich sehr für das, was ich vorhabe. Jedenfalls ruft er sofort die Website auf und liest den Projektbeschrieb. Er scheint von unserer Arbeit sehr angetan. Und er hat nichts dagegen, wenn ich berichte.
Nach dem Gespräch steige ich auf eine der schmalen Galerien hinauf und lese die Titel der Bücher. Ich stosse auf viele italienische, aber auch französische, englische und deutsche Bücher. Sie stammen aus den verschiedensten Zeiten. Alte und neue stehen nebeneinander. Ich sehe eines über das Bauhaus, die Reihe „Die Kunstdenkmäler der Schweiz”, den „Dictionnaire du moyen âge” von Claude Gauvard und den „Dizionario storico politico italiano”.
Als ich den „Enchiridion symbolorum” von Heinrich Denzinger aus seinem Schuber schüttle und darin zu blättern beginne, ruft mich jemand von unten an. Es ist die Dame vom Empfang. Sie bedeutet mir energisch, dass das Lesen auf der Galerie nicht erlaubt sei… Ah, die Sicherheit – oder eine Möglichkeit durchzusetzen, dass Bücher auf den Tischen landen und von dort von den Bibliotheksangestellten wieder korrekt eingereiht werden.
Die Bilbliothek ist eine Präsenzbibliothek. Ihre Themen sind Kunstgeschichte, Geschichte Venedigs, Theater, „Civiltà e spiritualità comparate”, in der vor allem die Beziehung von Venedig zum fernen Osten und zu Osteuropa dokumentiert ist, Musik, Handschriften und frühe Drucke. Die Bibliothek umfasst mehr als 300’000 Bücher. Davon etwa 150’000 zum Thema Kunstgeschichte. 100’000 sind in den offenen, etwa 1000 Meter langen Büchergestellen frei zugänglich. Etwa 20’000 befassen sich mit Theater, weitere etwa 30’000 sind aus dem Bereich Orientalistik. Die Zahl der alten Bücher übersteigt 3000 Bände. Zudem sind 1500 Zeitschriftentitel vorhanden, 800 davon in laufenden Abonnementen.
Der Quergang verbindet das Dormitorium mit einem weiteren Gebäude, das parallel dazu verläuft. Ich durchschreite die Glastüre und folge den dunklen Gestellen, die mit Bibliographien und Katalogen gefüllt sind, entlang von langen Korpussen, auf denen Mappen und Bücher liegen. Auf einer lese ich „Il Canal Grande: il rilievo” von Tito Talamini, auf einer anderen „Venezia forma urbis”. Es handelt sich um den zweiten Band, in dem es um Mestre geht.
Am Ende des Gangs stehe ich auf einem kleinem Platz. Geradeaus ist der Weg durch eine Bauleiter versperrt. Doch nach links öffnet sich die hohe Tür zur alten Klosterbibliothek. Was für ein Gegensatz! Nach der Leichtigkeit der neuen Bibliothek die schwere der alten. Zwischen den Fenstern und der ganzen Wand gegenüber den Fenstern stehen dunkle Bücherwände, ebenfalls zweistöckig. Die Gestelle sind mit Türen verschlossen. Durch das hölzerne Gitter in den Füllungen sind die Bücher sichtbar. Auch hier stehen alte und moderne nebeneinander. Die mit Holzschnitzereien reich verzierten Bücherwände tragen oben auf ihren abschliessenden Simsen in regelmässigen Abständen Holzskulpturen.
Die Decke ist weiss. Ein halbrundes Bild über der Tür vis-à-vis des Eingangs, vier Deckengemälde, und der mit rötlichen und weissen Marmorrhomben belegte Boden bringen etwas Farbe in den Raum. Das Licht fällt milchig durch die hohen, mit Gazevorhängen bedeckten Fenster. Oberlichter lassen die Rundungen der Kreuzgewölbedecke hell leuchten. Dunkle, schwere Tische und Stühle, die nicht besonders bequem aussehen, stehen vor den Bücherwänden. Auf jedem Tisch steht eine altmodische Lampe mit dunklem Lampenschirm.
Nur wenige Leute sind in der Bibliothek an diesem Morgen. Einige haben einen ganzen Stapel Bücher vor sich, andere schreiben eifrig auf ihren Computern. Aber man scheint sich zu kennen, denn beim Kaffee aus dem Kartonbecher entspannen sich angeregte Gespräche.
Venedig war im 16. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum für den Buchdruck. Hier druckten über 100 Druckereien und Verleger liturgische Texte, Werke griechischer und lateinischer Klassiker, religiöse Bücher des Judentums, Musik, Karten, Atlanten und naturwissenschaftliche Bücher. Es erstaunt daher nicht, dass es in Venedig weitere grossartige Bibliotheken zu bestaunen gibt, beispielsweise die Biblioteca della Fondazione Querini Stampalia, die Biblioteca nazionale Marciana, die Biblioteca del Museo Correr und die vielteilige Bibliothek der Universität Ca‘ Foscari. – Nur schon dies macht für mich einen weiteren Besuch in Venedig unabdingbar.
Fondazione Giorgio Cini Onlus
Isola di S. Giorgio Maggiore
30124 Venezia
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