Arbeitsbibliothek
Michael Guggenheimer
Strassenbahnhaltestelle Platte in Zürich. Kommt man morgens mit der Tram der Linien 5 oder 6 hier an, fällt einem auf, wie gedrängt voll die Wagen sind. Viele junge Menschen steigen aus, die meisten überqueren die Strasse zu den beiden auffallenden modernen Gebäuden in rotem Klinker. Careum sind die Gebäude unweit des Hauptgebäudes der Universität Zürich und neben dem Universitätsspital angeschrieben. Careum ist eine Worterfindung, die eine englische und ein griechisch-lateinische Wortkreation verbinden: To care, pflegen, steckt hinter dem Begriff und das Wort Lyceum für Lernstätte. Das Careum ist ein Ort, an dem junge Menschen Berufe im medizinischen Bereich erlernen und Berufsleute im Medizinbereich Weiterbildung betreiben. Unterrichtsräume unterschiedlicher Grösse und unterschiedlicher Einrichtung befinden sich in den beiden modernen Gebäuden. Früher stand hier die «Schwesternschule und Krankenhaus vom Roten Kreuz Zürich-Fluntern», eine Schwesternschule mit Ausbildungsspital. Im Jahr 1997 wurde das Krankenhaus geschlossen, seit 2005 werden auf dem sogenannten Careum Campus Frauen und Männer zu diplomierten Pflegefachpersonen unterschiedlicher Richtung ausgebildet. Das Careum Bildungszentrum bietet zudem fünf Ausbildungen für Gesundheitsberufe an, heute finden im Careum Aus- und Weiterbildungen bis zur Masterstufe statt.
In den Unterrichtspausen stehen draussen vor den beiden Gebäuden viele junge Menschen. Man diskutiert, raucht, trinkt. Im einen der beiden Gebäude ist im Erdgeschoss eine bediente Cafeteria eingerichtet, im anderen ein grosser cafeteriaähnlicher Bereich mit vielen Tischen, wo Getränke und verpackte Snacks an Automaten gekauft werden können. Mittags herrscht an beiden Orten ein Gedränge, lässt sich kaum ein Platz finden. Gleich neben dem Bereich des nicht bedienten Cafés befindet sich eine Bibliothek mit dem Namen «Hauptbibliothek – Medizin Careum». Sie ist ein interprofessionell ausgerichtetes Informationszentrum für die Medizinische Fakultät der Universität Zürich, das Universitätsspital Zürich und das Bildungszentrum Careum und dient einem breiten Spektrum von Fachpersonen mit Berufs- und Hochschulbildung.
Starke Farben prägen das Innere der beiden Careum Gebäude. Gleich am Eingang der Hinweis auf zwei Künstler, die in den beiden Gebäuden für die Kunst am Bau verantwortlich sind. Der St. Galler Urs Eberle hat Farben und Sätze zusammengestellt, die im Lichthof sowie in den Treppenhäusern einen starken Akzent und eine visuelle Abwechslung im grossen Gebäude setzen.
Um einen Innenhof mit Oberlicht und mit hohen Fenstern ist die Bibliothek des Careum mit ihren 350 Leseplätzen gruppiert. Im Erdgeschoss des blau-grün angemalten Innenhofs stehen runde Tische, auf denen Studenten ihre Skripte und Bücher ausgebreitet haben. Nebenan, hinter den Fenstern sowie im ersten Stock befindet sich die Bibliothek. Zwischen Bücherwänden mit Neuerscheinungen und Fachzeitschriften gleich am Eingang befinden sich mehrere Arbeitsnischen, in denen bis je acht Studierende ihre Bücher ausgebreitet haben. Noch mehr Büchergestelle mit medizinischer Literatur stehen etwas weiter weg, auffallend dass zahlreiche Bücher in mehreren Exemplaren, manchmal bis über 20 Stück, in den Gestellen stehen: Es handelt sich um Studienliteratur für die angehenden Berufsleute. Bemerkenswert viele englischsprachige Bücher sind in den Gestellen zu sehen. Die Anschriften an den Gestellen, aus denen man ersehen kann, welche Themen sie abdecken, sind in englischer Sprache nach dem System der Worldwide Source of Medical Library Classification gehalten. Alle Bereiche der Pflege und der Medizin von der Säuglingspflege bis zum Umgang mit Betagten sind hier präsent. In manchen Büchern finden sich Hinweise, wie man digital zu mehr Information zum betreffenden Sachgebiet gelangen kann.
Die «Hauptbibliothek – Medizin Careum», heisst es in der Selbstdarstellung der Institution, hätte im Jahr 2015 mit 9,8 Mitarbeiterstellen knapp 3000 Medizinstudierende und rund 2500 Forschende der Medizinischen Fakultät und des Universitätsspitals Zürich, rund 1000 Studierende der Fachhochschule und Höheren Fachschule, 950 Lernende in der beruflichen Grundbildung sowie rund 350 Dozierende und Lehrbeauftragte im Bereich Gesundheitsberufe mit Fachliteratur und -informationen versorgt. Das ist imposant.
Es gibt Bibliotheken, die eine schöne Stimmung ausstrahlen, die mit ihrer Inneneinrichtung eine Besonderheit ausstrahlen. Unter den zahlreichen Zürcher Universitätsbibliotheken sind das etwa die kleine Fachbibliothek am Völkerkundemuseum mit Aussicht auf einen Park und Spaziermöglichkeiten durch den alten Botanischen Garten. Oder die grosse Juristische Bibliothek, einem Glücksfall der modernen Architektur. Nicht so die nüchtern eingerichtete Careum Bibliothek.
Dicht an dicht und Tisch an Tisch in verschiedenen Anordnungen wird hier gearbeitet. Manche Bereiche sind so ausgestattet, dass zwischen zwei lesenden und arbeitenden Benützern eine kleine Zwischenwand angebracht wurde, um mehr Arbeitsprivatheit herzustellen. Erst beim Verlassen der Bibliothek spürt man, wie warm es in den Bibliotheksräumen ist, wie schwer die Luft ist. Alles ist hier zweckmässig. Das einzig Schöne , was das Auge manchmal erblickt, sind die farbigen Wände des Innenhofs oder des Treppenhauses. Überall herrschen gute Lichtverhältnisse. Junge Leute, ihr Altersdurchschnitt dürfte um die 25 sein, sitzen vor Tablets, geöffneten Büchern, Heften und Bildschirmen. Manche haben Kopfhörer an, wobei man nicht weiss, ob sie sich zusätzliche Stille in den ohnehin sehr ruhigen Räumen verschaffen oder Podcasts oder gar Musik hören. Auf den Bildschirmen sind Texte zu sehen, aber auch Studienmaterialien wie Darstellungen von Lungenflügeln, Leber und Herz. Die Careum Bibliothek ist eindeutig eine Studien- und Prüfungsvorbereitungsbibliothek. Hier sucht man vergeblich gemütliche Rückzugsorte wie Leseecken mit Sofas, wie es sie beispielsweise am Lausanner Rolex Center gibt. Wer eine Pause macht, wer sich mit Kollegen unterhalten will, der begibt sich in eine der beiden Cafeterias oder nach draussen vor dem Haus. Hinter einer Glaswand ist ein Teil der Bibliothek untergebracht, in dem jeweils täglich von 7 bis 23 Uhr ausschliesslich angehende Ärztinnen und Ärzte arbeiten dürfen. Man sieht’s und ist erstaunt über die Trennung, wo hier die einen ebenso am Lernen sind wie die anderen. Es ist klar, man befindet sich in der Careum Bibliothek weder in einer Stadtbibliothek noch in einer Kantonsbibliothek. Belletristik gehört nicht hierher. Hier kommt man nicht hin, um sich einen Roman zu holen oder um Tageszeitungen zu lesen. Überraschend höchstens jene Bücherwand mit der Aufschrift «Graphic Medicine». Dabei handelt es sich um Comics, die in der Medizin eingesetzt werden. In ihnen werden Erlebnisse, Handlungen, Gedanken und Gefühle von Patienten, Angehörigen und medizinischem Personal auf eine intuitive, einfach zugängliche Weise erzählt. Häufig handelt es sich dabei um biografische und autobiographische Inhalte, über die gesprochen und mit denen Vergleiche zur eigenen Situation gezogen werden. Ob diese Publikationen wohl bei der Prüfungsvorbereitung helfen?
Hauptbibliothek – Medizin Careum
Gloriastrasse 16
8006 Zürich
T: 044 634 50 50
www.careum.ch/hauptbibliothek-medizin-careum
Bibliothek als Lernort
Heinz Egger
Careum – ein Ort, an dem heute alles zusammenströmt, was mit Medizin zu tun hat: Medizin Studierende, Studierende der Fachhochschulen und Höheren Fachschulen und Lernende in der beruflichen Grundbildung als medizinisches Fachpersonal. Aber ebenso die Dozierenden und Lehrbeauftragten in Gesundheitsberufen. Der Name Careum leitet sich vom englischen „to care” (betreuen, pflegen) und dem lateinischen „lyceum” (Lehrstätte) ab. Es ist also nicht erstaunlich, dass während des Semesters ein buntes Gewusel verschiedenster Altersstufen am Eingang zu den roten Backsteinhäusern herrscht. Viele, viele junge und sehr junge Leute sind es. Und die Tatsache, dass die Gebäude des Careums auf dem Gelände des ehemaligen Rotkreuz-Spitals liegen, weckt Erinnerungen. Hier kam meine erste Tochter zur Welt, als Frügeburt im 7. Monat…
Die Hauptbibliothek Medizin liegt im prominentesten der roten Gebäude gleich an der Gloriastrasse im Erdgeschoss. Von der Eingangshalle aus ist bereits gut zu sehen, dass die Innenarchitektur auf Farbe setzt. Zur Rechten liegt ein grosser, vollverglaster Aufenthaltsraum mit Tischen und Stühlen und der Möglichkeit, aus Automaten kleine Verpflegungen zu beziehen. Die Wände leuchten lindengrün. Zur Linken öffnet sich der Blick in ein Atrium, dessen Boden im Untergeschoss liegt. Die Wände wirken etwas stumpf, fast trist. Sie sind mit einer Farbe gestrichen, wie möglicherweise ausgewaschene Operationskleider aussehen. Das Treppenhaus leuchtet in kräftigem Orange und verleiht dem sonst fensterlosen Ort dank starken Leuchten Freundlichkeit.
Die Bibliothek legt sich wie ein U um das Atrium. Im kurzen Gang, in dem die schwarzen Kästchen für die Ablage meines Mantels und des Rucksacks liegen, stehen auch drei Vitrinen. Von der Decke hängt ein blaues Plakat, das auf deren Inhalt verweist: „Bade, trinke, atme!” Die kleine Ausstellung verweist auf eine Tradition in der Schweiz. Es gab viele Badeorte und Sanatorien. Handliche Broschüren, wunderbar mit Jugendstil-Schriften und Stichen bedruckt, machen Reklame für die heute meist vergessenen Kurhäuser: Lostorf, Albisbrunn, Tennigerbad, Knutwyl, Fideris, Hartlisberg, Schwellbrunn und manche mehr.
Während ich die Auslage bestaune, tritt eine junge Frau zu mir und fragt, ob ich weitere Auskunft wünsche. Schnell sind wir im Gespräch über die Ausstellung. Ursula Reis hat sie mitgestaltet. Die gezeigten Objekte stammen aus einem Fundus von etwa 50 Schachteln mit Büchern und anderem Gedrucktem. Sie stammen aus dem aufgehobenen Medizinhistorischen Museum der Universität Zürich. Es sei nicht bekannt, wie der Inhalt der Schachteln ins ehemalige Museum gelangt seien. Jedenfalls, so scheint es mir, gibt es in diesem Bestand einige Perlen.
Wer Bücher zurückgeben will, der kann das, ohne die Scanner-Schranken zu durchschreiten, gleich beim Eingang. Nach den Schranken liegt zur Linken die Informationstheke, wo ich auch Frau Reis wieder sehe. Rechts liegt ein Bereich mit Arbeitsplätzen und Recherche-PCs auf einem langen Tisch. Dann beginnt die Bibliothek mit den vielen weissen Gestellen. In den ersten Gestellen liegen Neuanschaffungen auf. Sie sind gegliedert in Pflege, Medizingeschichte und Medizin. Ein grosses Schild auf dem obersten Tablar gibt an, was sich darunter befindet. Bei der Medizin gibt es wenigstens aktuell noch eine weitere Unterteilung: Natürlich überwiegen die wissenschaftlichen Bücher. Aber ich sehe auch eine ganze Reihe von unterhaltenden Werken – Comics oder Graphic Novels, wie ein Steller erklärt. Diese Bücher, so heisst es dort, können einerseits bei Medizinstudierenden, Ärztinnen und Ärzten die Beobachtungsgabe, diagnostische Fähigkeiten und das Verständnis für die Situation der Patienten fördern, andererseits aber auch der Patienteninformation dienen. Die Geschichten basieren häufig auf biographischen Ereignissen und Erlebnissen von Patientinnen und Patienten, aber auch von Ärztinnen und Ärzten. Das Format „Graphic Medecine” gebe es seit 1972 und sei ausserhalb des amerikanischen Raums noch wenig bekannt, erklärt der Text auf dem Steller. Die ausgestellten Beispiele sind denn auch alle auf Englisch.
A propos Englisch: Alle Anschriften auf den Tablaren und auf den Listen an den Stirnseiten der Gestelle sind in dieser Sprache verfasst. Auch in den Gestellen selbst steht vieles mit englischen Titeln. Die Sprache der Wissenschaft, so zeigt sich hier, ist die Englische.
Ich dringe tiefer in die Bibliothek ein. Ich komme an einer grossen Sammlung von Büchern zur Medizingeschichte vorbei, aufgeteilt nach Ländern. Und weiter Biographien, Medizin in der Kunst, sei es in Film, Fernsehen oder der bildenden Kunst, Medizin in der Literatur, im Theater und in der Musik. Eine kleine Abteilung widmet sich auch dem Humor in der Pflege oder in der Arztpraxis.
Im Bereich Geriatrie stehen viele Bände zum Thema „Altwerden”, Demenz und Langzeitpflege. Es erstaunt mich denn nicht, dass der Bereich der Pflege sich über zwei lange Reihen Doppelgestelle hinzieht.
Immer wieder entdecke ich ganze Blöcke von grün-weissen Broschüren im Format A4, deren Titel mit „Basic …” beginnt. Es sind Grundlagen für die Mediziner, sei es in der Radiologie, der Augenheilkunde oder der Anatomie. Teilweise sind von den Werken mehr als eine Auflage vorhanden und immer in mehreren Exemplaren. Wo gleiche Bücher mehrfach vorhanden sind, gibt es auch immer eines, das bezeichnet ist und nicht ausgeliehen werden kann.
Auf manchen Buchrücken klebt ein gelbes Schildchen: E-Book. Auf dem Deckel des Buches ein weiterer Aufkleber mit einem QR-Code, mit dem Zugang zum Recherche-Portal der Universität. Was geschieht mit der Bibliothek bei fortschreitender Digitalisierung? In einer Veranstaltung im Januar 2018 haben sich der Direktor der Hauptbibliothek der Universität, Dr. Wilfried Lochbühler, und die Leiterin der Hauptbibliothek Medizin Careum, Dr. Annika Rieder, dazu geäussert. Verschwinden werde sie nicht, sagen die Referenten. Sie werde zu einem „Learning Center”, der Buchbestand zur Referenzbibliothek. Genau so ist die heutige Medizin-Bibliothek auch angelegt. Sie bietet zahlreiche ruhige Arbeitsplätze in der Bibliothek selbst und im Untergeschoss, Gruppenbereiche, Verpflegungsbereiche, und attraktive Öffnungszeiten – die Bibliothek ist unter der Woche von 8 bis 20 Uhr offen, am Samstag von 8 bis 17 Uhr.
Dass in der Wissenschaft der Weg klar hin zur Digitalisierung geht, ist unübersehbar. Die Wissenschaft ist international vernetzt und viele Fachartikel erscheinen nur noch in Journalen. Bei der steigenden Zahl von Quellen braucht es beim Recherchieren allerdings eine entsprechende Informationskompetenz, die auch das Careum vermitteln will. (Online-Bericht)
Der Bibliotheksbestand wird möglicherweise nicht mehr enorm wachsen. So erstaunt es nicht, dass der zweite Schenkel des U-förmigen Raums ein grosszügiger Arbeitsbereich ist. Je drei Tische sind zu einem Block zusammengestellt, Stühle auf Rollen stehen dabei. Beamer und Leinwand an der Decke und ein Rollpanel mit der Aufschrift „Heute Veranstaltung” weisen darauf hin, dass dieser Raum auch anderweitig genutzt werden kann.