Rezepte abschreiben
Michael Guggenheimer
Früher hatte man für den Ort ein müdes Lächeln übrig. Hiltl heisst der Ort. Es ist schon so häufig geschrieben worden, dass das Lokal das älteste vegetarische Restaurant der Schweiz, Europas und sogar der Welt sei. Seitdem das Guinness Buch der Rekorde dies auch vermeldet, gibt es daran nichts mehr zu rütteln. Trotz seines Alters überrascht Hiltl. Was vor wenigen Jahrzehnten noch etwas altbacken mit älteren Kellnerinnen und dem Gericht „Ländliche Platte“ sowie mit Gemüsetellern daher kam, ist heute hip. Das Salatbuffet ist einmalig reichhaltig, die indischen Gerichte sind legendär, die frisch gepressten Fruchtsäfte belebend und nicht billig. Die Tatsache, dass das Personal aus Surinam und Marokko, aus Indien und der Schweiz stammt, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter die Emailadresse am Revers trägt und per Mail auch angeschrieben werden kann, ist ebenso besonders wie die laufend neuen Twittermeldungen an einer der Restaurantwänden und die Disco im Erdgeschoss sowie die zum Restaurant gehörende Vegetarische Metzgerei, auch sie gewiss demnächst im Guiness Buch der Rekorde zu finden.
Hiltl ist aber mehr als ein Treffpunkt von Menschen, die wissen, dass vegetarisches Essen nicht minder lecker sein muss als ein Pferdesteak oder ein Lammfilet. Ach ja, bei Hiltl gibt’s sogar vegetarischen Tartar, so gut, dass Carnivoren beim Blindtest nicht einmal merken, dass sie kein Fleisch im Mund haben. Und dann noch: Wer erfahren möchte, wie man ein saftiges Stück Fleisch für Gäste zubereitet, der kann das bei Hiltl erkunden. Womit wir beim Buchort Hiltl angekommen wären.
Im ersten Stockwerk, etwas versteckt zwar, aber immer noch im Restaurantbereich, findet sich eine reich dotierte Bibliothek, eine Fundgrube für Profi- und Hobbyköche, ein Eldorado für alle jene, die eine grosse Essenseinladung planen. Nicht nur gut bestückt ist sie. Sie wird auch sehr speziell präsentiert. Es dürften wohl an die 400 Kochbücher und Rezeptsammlungen sein, die Restaurantbesitzer Rolf und Marielle Hiltl ihren Gästen zur Schau und zur freien Benutzung zur Verfügung stellen. Gesammelt und gekauft haben diese Bücher wohl auch Rolf Hiltls Eltern und Grosseltern, vielleicht auch Köche, die hier in den Jahren seit 1898 gewirkt haben. Wie viele Bücher hier lagern, weiss niemand genau, denn gezählt wurde der Bestand noch nie. Immerhin weist aber jedes Buch und jede Broschüre, die hier darauf warten, konsultiert zu werden, einen Stempel der Firma Hiltl auf. Und was überrascht: Nicht alle diese Bücher folgen dem vegetarischen Credo.
Es sind nicht herkömmliche Regale, in denen Hiltls Kochbibliothek aufgereiht ist. Und auch eine Systematik sucht man hier vergeblich. Neben dem vegetarischen Kochbuch findet sich „Das grosse Buch vom Bier“, unter dem „Zürcher Kochbuch“, in dem natürlich das Zürcher Kalbfleisch-Geschnetzelte nicht fehlt, liegt die „Cuisine d’Algérie“. Die leckere Merguezwurst lässt im vegetarischen Reich grüssen! Viele dieser Bücher hängen an Metallstäben so wie früher Telefonbücher in den Telefonkabinen der damaligen PTT gehangen haben. Das tut Buchliebhabern beim Anblick weh, weil die Hängung den Buchrücken und der Heftung nicht gut bekommt. Und auch die etwas chaotisch- wilde Ordnung widerstrebt dem ästhetischen Empfinden von Lesern, die Bücher gerne alphabetisch oder nach Sachgebieten ordnen. Aber in welchem Restaurant kann man sonst noch beim Warten auf das Essen oder bei Latte Macchiato in aller Ruhe Rezepte studieren und vergleichen, Menüs für eine Einladung zusammenstellen, neue Gerichte finden, schöne Fotografien von Speisen anschauen? Ja, man kann es im Stadtteil Seefeld an der Fröhlichstrasse in Carlo Bernasconis „Cucina e libri“. Aber so viele Kochbücher wie bei Hiltls Vegi kann man nirgendwo in Zürich konsultieren, wo „Das Buch vom Mineralwasser“ neben dem Band „Seafood Cookbook“ ruht, wo man mit einem Griff erfahren kann „Was Einstein seinem Koch erzählte“. Wo „Bobby Flay’s Bold American Food“ an die übergewichtigen Amerikaner erinnert. Und ganz erstaunlich ist: Man darf jedes Kochbuch leihweise mit nach Hause nehmen. Man darf es, ohne einen Leihzettel ausfüllen zu müssen. „Bringen Sie das Buch einfach zurück“, sagt die Kellnerin und lacht. Beim Durchblättern der Bücher fallen einem alte Quittungen auf, die als Buchzeichen gedient haben könnten. Wenn es die Hiltls waren, die diese Bücher gekauft haben und nach dem Besuch der Buchhandlung ein Restaurant aufgesucht haben, dann sind Hiltls nicht wirklich strenge Vegetarier. Denn auf manchen handgeschriebenen Quittungen stehen auch solche Gerichte, die Vegetarier wohl kaum jemals essen würden.
Haus Hiltl
Sihlstrasse 28
8001 Zürich
T: 044 227 70 00
www.hiltl.ch/de/
Menü gesucht?
Heinz Egger
Eine grosse, dicke Spinatsuppe. Darin schwimmen eingesunken Lampen. Sie zeigen ihren halben gedrechselten Fuss und den stoffbespannten Lampenschirm. Dann treiben da noch Bücher, Inseln gleich. Die einen zeigen den Rücken, andere sind aufgefächert wie gebundene Kräutersträusse.
So der erste Eindruck von der Kochbuchbibliothek bei Hiltl. Die grüne Bücherwand liegt gleich hinter dem Kochstudio. Über Metallträgern blättern einzelne Bücher ihre Seiten auf. Es scheint, als wollten sie die Luft einatmen, die einmal mit den Aromen von kräftigem Kreuzkümmel, dann wieder von würzigem Curry oder zartem Zitronengras geschwängert ist. Daneben liegen sie übereinandergestapelt, den Rücken präsentierend wie auf dem Serviertablett. Über 300 sind sie, so wird geschätzt, aber so genau weiss das niemand. Zusammengekommen sind sie durch die Sammelleidenschaft der Hiltls aber auch durch die Mitarbeitenden. Und es ist eine Bibliothek: Wer eines der Bücher mitnehmen will, darf das. Es wird kein Zettel ausgefüllt, keine Kontrolle über die Rückgabe geführt. Ein Wort zum Kellner oder zur Kellnerin genügt. Da sei man unbürokratisch.
Und was bietet die Bibliothek? Eigentlich erwartete ich bei der internationalen Belegschaft bei Hiltl auch Bücher in fremden Sprachen, die hier nicht jeder versteht oder spricht. Etwa Arabisch, Hebräisch, Koreanisch, Malaiisch, Hindi. Nein, ich entdecke nur französische, deutsche, italienische und englische Titel.
Wer hier nach einem Rezept sucht, könnte sich leicht verlieren. En masse finden sich hier Beschreibungen köstlicher Gerichte, nicht nur vegetarische: Käse, Gemüse, Pilze, Mehlspeisen, Suppen, Geflügel. Olivenöl.
Zu gutem Essen gehört auch das passende Getränk. Zahlreich sind die Titel zum Wein, zu seiner Degustation, zu seiner Pflege; aber auch zum Bier und zu stark alkoholischen Getränken. Whiskey, beispielsweise. Es muss nicht immer Alkohol sein. Warum nicht Wasser? Auch dazu findet sich ein Band, der erst noch auffällig ist: wasserblauer Umschlag, Paperback, Buchblock mit beschnittenen Ecken, der erste Teil mit einem eingestanzten Schlitz. Er behandelt Wasser in seiner Vielfalt: Chemie, Bedeutung für die Welt, Bedeutung für den Menschen, Bedeutung für den Organismus, Bedeutung für die Wirtschaft. Das älteste Kochbuch stammt von Susanne Müller, das fleissige Hausmütterchen, 17. Auflage, 1915.
Wer hier etwas verweilt, stöbert, blättert und festhält, vielleicht mit einer Kamera, wird bald ein mehrgängiges Menü zusammengestellt haben. Etwas Zeit braucht man schon und den festen Willen sich nicht ablenken zu lassen, um nicht in der Spinatsuppe zu ertinken.
Wie wäre es mit folgendem internationalem Menü?
Insalata di barba die frate nach Yvonne Tempelmann, Verdura Italiana, Hädecke Verlag, Weil der Stadt, 2002
Black Bean Soup nach Anton Mosimann – naturally, over 150 dishes making the most of fresh ingredients; Ebury Press, 1991, London
Feuilletés au Roqfort nach Louisette Bertholle, Die geheimen Rezepte der besten Restaurants Frankreichs, Hallwag AG Bern, 1976
Vegetable Biryani nach Tarla Dalal, Chawal, Sanaj & Co, Mumbai, 2004
Brownie nach Hiltl, Vegetarisch nach Lust und Laune, Werd Verlag, Zürich, 2006?
Bon appétit!