Kunstschaubücher
Michael Guggenheimer
„I never read“. Das ist der Name einer Buchmesse. Keine Ahnung, wie dieser seltsame Name entstanden ist. Er löst ein Lachen aus. Er fordert zum Widerspruch auf: Eine Buchmesse mit einem solchen Titel? Der Name macht neugierig. Gerade deshalb also hingehen. Hinfahren nach Basel. Vom Bahnhof aus die Strassenbahn bis zur Haltestelle Rheingasse nehmen, dann parallel zum Rhein den Weg zur alten Kaserne einschlagen, an den Dirnen vorbei, die einen anzwinkern und mit Schmatzgeräuschen auf sich aufmerksam machen, als ob man sie nicht schon so wahrgenommen hätte. Und plötzlich steht man auf dem breiten früheren Exerzierareal der Armee, der vor Jahrzehnten aufgegebenen Kaserne, in der heute Kultur lebt. Liegestühle auf dem weiten Platz, mannshohe weisse Buchstaben machen auf die Messe aufmerksam. Der Eintritt kostet nichts, im Innern einer ehemaligen Militärstallung sitzen Graphic Designer, Buchgestalter, Verleger, Verlagsmitarbeiter hinter Tischen und stehen Buchfreunde vor ihnen. Alle Tische aus Tannenholz, der Basler Architekt Thomas Keller hat sie entworfen und ausführen lassen, alle Tische unverschraubt, nach der Messe werden sie eingelagert, um im kommenden Jahr während der ART Basel wieder eingesetzt zu werden.
„I never read“ ist eine Art Parallelmesse zur grossen, zur teuren ART. Dieses Jahr wurde sie zum fünften Mal durchgeführt. Und weil das Interesse so gross ist, wird es sie zweifellos auch im kommenden Jahr geben. Kleinstverlage, Kleinverlage, kleine Verlage und mittlere stellen hier aus. Und sie stellen ausschliesslich Kunstbücher und Künstlerbücher aus. Eine konzentrierte Atmosphäre herrscht hier, die Besucher bewegen sich langsam von Tisch zu Tisch, nehmen Bücher und Buchobjekte zur Hand, manchmal liegen weisse Handschuhe auf einem Tisch bereit, andere Male ist es die Standinhaberin, die einem ein Künstlerbuch zeigt. Die Auflagen der Bücher variieren, es gibt hier Unikate und Bücher, die eine Auflage von 1000 Exemplaren aufweisen.
Der Verlag für moderne Kunst zum Beispiel hat ein ganz besonderes Buch mitgebracht: „THE TURN. Art Practices in Post-Spring Societies“. Mit einer künstlerischen Aktion hatte ja die arabische Revolution in Tunesien ihren Anfang erlebt. Die Wut auf das alte Regime und der brennende Wunsch nach politischer und sozialer Veränderung ließen das Volk dort aufbegehren. Künstler aus dem arabischen Raum zeigen im Buch politische Arbeiten. „Cactus Walk“ heisst eine Arbeit von Huda Lufti aus Kairo: Zwanzig Krücken hängen an einer Wand, alle mit Kaktusmotiven verziert. Sie wollen auf die Schwierigkeiten der Jahre nach den Volkserhebungen in den arabischen Ländern hinweisen. Nebenan der Stand des Wiener Harpune Verlags. „Moby Dick Filet“ ist die Neuauflage von Hermann Melvilles grandiosem Jahrhundertroman in der englischen Originalfassung. Die 136 Kapitel werden jeweils von je einer Künstlerin oder einem Künstler als eigenständige Künstlerbuchpublikationen gestaltet und a-chronologisch als einzelne „Filets“ in einer Auflage von 460 Exemplaren in Offsetdruck publiziert. Das Werk ist auch als Subskription erhältlich, das MOMA New York hat das Werk abonniert.
An der Messe anwesend ist auch Buchkünstler Clemens-Tobias Lange aus Hamburg. Auf dem Marktpaltz im äthiopischen Harar hat er Stoffe eingekauft, die Frauen in Ostafrika tragen. Die Stoffe hat er zerschnitten und chemisch so zu Buchseiten bearbeitet, dass sie stabiler sind. Auf den einzelnen Stoffseiten hat er eine weitere Schicht aufgezogen: auf Stoff gedruckte Fotos aus Äthiopien, Bibeltexte in Amharisch und Deutsch begleiten die wunderschönen farbigen Seiten dieses Stoffbuchs mit dem Namen „Sheva Ber“. Dass der Preis dieser Publikation 2400 Euro beträgt, kann man nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass es sich hier um ein Unikat handelt. Sabine Golde, Buchkünstlerin aus Leipzig und Halle, die im Herbst jeweils auch an der Frauenfelder Kleinverlagsmesse ihre Werke zeigt, hat aus Anlass des hundertsten Geburtstags von Peter Weiss einen Satz des aus Deutschland nach Schweden exilierten Dichters mit Stempeldruck zu einem Kunstwerk zusammengestellt: „Die Freiheit kann uns nicht gegeben werden. Wir müssen sie selbst erobern. Erobern wir sie nicht selbst, so bleibt sie für uns ohne Folgen“.
Nicht weniger politisch zwei Bücher des in Bozen domizilierten Verlags Rorhof des Verlagsbesitzers und Fotografen Nicolo Degiorgis. Er hat ein Buch mit dem Titel „Hidden Islam“ mitgebracht. Degiorgis hat in Norditalien Gebetsorte von Muslimen aufgesucht und fotografiert: Ehemalige Läden, aufgegebene Lagerhallen und Diskotheken, Turnhallen, Garagen, Wohnungen, in denen sich Einwanderer aus Nordafrika und dem Nahen Osten zu ihren Gottesdiensten versammeln. Es sind jeweils Bilder in schwarz-weiss, die den jeweiligen Ort von von aussen zeigen und doppelseitige, ausfaltbare Farbbilder, die jeweils das Innere des jeweiligen Lokals vorführen, wo Menschen gerade am Beten sind. Eine Landkarte Norditaliens zeigt, in welchen Ortschaften sich diese Betlokale befinden. Einzig ein Text von Starfotograf Martin Parr begleitet das Buch, das von schmucklosen Orten handelt, die auch eine Verlorenheit von Heimatlosen zeigt, deren Versammlungsorte sich häufig in Hinterhöfen befinden.
Kunsthistorikerin Eveline Wüthrich, mit dem Bildenden Künstler Johannes Willi und dem Architekten Thomas Keller im Leitungsteam von „I never read“, steht am Eingang der einen der beiden Messehallen und verteilt Kataloge oder gibt Auskunft. Anders als an der ART, wo die Gebühr für eine Standfläche das Budget einer kleinen oder mittleren Kunstgalerie sprengt, kostet hier ein Stand zwischen Fr. 100 und Fr. 500.-. Die Höhe der Miete für die vier Messetage wird nach der Grösse des jeweiligen Verlags berechnet. Judith Luks, Besitzerin des Bieler Verlags „edition clandestin“, ist dieses Jahr mit zwei Büchern gekommen: Leonard Finks “Coming out“ ist ein Fotoband mit Bildern von Treffpunkten von Schwulen in New York der 70er Jahre. Heimatlose Orte, heruntergekommene Passagen, Keller und Lagerhallen. Das zweite Buch, das sie mitgebracht hat, ist Frédéric Pajaks „Ungewisses Manifest“, Tuschzeichnungen des Autors und die deutsche Übersetzung des von ihm verfassten Buchs. Neun Bände soll das Werk bei seiner Fertigstellung umfassen. Der erste Band verschmilzt eher assoziativ als chronologisch dahinmäandrierend, persönliche Erinnerungen des Autors mit den Schicksalen historischer Personen. Die Erzählung wechselt hin und her zwischen Pajaks Erinnerungen an seine Kindheit und Jugendzeit und der Beschreibung verschiedener Episoden im Leben Walter Benjamins in den 1930er-Jahren. „I never read“ next year again!
I never read. Art Book Fair Basel
Güterastrasse 108
4053 Basel
www.ineverread.com
Augenweide
Heinz Egger
Was für ein Titeln für eine Buchmesse! I never read. Aber vielleicht passen die grossen, aus Karton hergestellten Buchstaben auf der Kasernenwiese doch. Art Book Fair steht als zweite Zeile. Auf Druckerzeugnissen ist diese auf dem Kopf unter dem Haupttitel geschrieben. Ja, es sind nicht Bücher, die man liest, sondern die man anschaut, die auf dieser Messe gezeigt werden. Kleine Verlage, Bücher in Klein- und Kleinstauflagen liegen auf. Zum Teil sind die Künstlerinnen und Künstler selber anwesend.
Ich komme an und setze mich erst einmal in einen der Liegestühle in der Bar vor der Leinwand, auf der gross Radio steht. Ein Wirrwarr von Kabeln, unzählige kleine Geräte. Ein Musiker, der Feinabstimmungen für sein Konzert an Dutzenden von Knöpfen vornimmt. In diesem und dem angrenzenden Raum sind Bücherstände aufgebaut. Es ist noch nicht 18 Uhr, also Zeit zur Eröffnung der Messe, aber alles ist bereit und die ersten Besucherinnen und Besucher flanieren den Auslagen entlang. Junge Paare mit Kinderwagen und graue Häupter zwängen sich durch die schmalen Gänge.
Während ich dem Treiben zuschaue, werden vor mir zwei Liegestühle gedreht und bald sitzen dort Johannes Willi von der Messeorganisation und Marina Pinsky beieinander. Sie besprechen Marina Pinskys neues Buch „Dead Channel“. Die Künstlerin hat aus einer Ausstellung in der Kunsthalle Basel heraus ein Buch gestaltet. Gefragt, was sie lieber bearbeitet habe, die Ausstellung oder das Buch, sagt sie schnell: die Ausstellung. Die Bilder im Buch zeigen die Ausstellungsräume mit ihren Objekten und Fotos an den Wänden. Jeder Raum ist quasi einem Thema gewidmet. Sie blättern zusammen das Buch durch und geben redend einen Einblick in die Arbeiten.
Wissend, dass mehr als 130 Aussteller präsent sind, nehme ich mir vor, mich zuerst umzuschauen, bevor ich mich an einzelnen Ständen etwas näher mit der Auslage beschäftige. Ich möchte weniger Bücher mit Kunst drin sehen als Bücher, die selbst schon Kunst sind. Solche Angebote finde ich in der Reithalle mehrere. Zuerst fesseln mich die Bücher des Buchbinders Martin Schwab. Eine Buchklappschachtel, darin im Deckel ein Kugelschreiber aus selbst gedrechseltem Holz, daneben eine Kugelschreibermine. Ein Buch, dessen Titel 915,44 Meter heisst. Die Kugelschreibermine ist leer, denn Martin Schwab hat damit unzählige Seiten liniert. Eben, aneinandergehängt ergäben die Linien die 915,44 Meter. Natürlich ist das Buch handgebunden und Fragen begleiten dieses Buch (Zitat aus der Website www.martin-schwab.ch): „Stell dir vor, du hast für deine Geschichte einen Kugelschreiber, eine einzige Mine voll Tinte. … Ist die Tinte aus, endet die Geschichte. Wie schreibst du? Packst du alles in den Anfang? … Sparst du den Saft für die Zukunft, wenn du verstanden hast, worum es dir geht, für den perfekten Moment, das Erlebnis, das deine Tinte wert ist?“ Zwei weitere Werke ähnlicher Manier stehen da: das eine mit Bleistift , das andere mit Tinte liniert.
In der nächsten Tischreihe liegen in einer Vitrine zwei schwarze Bücher. Eines ist aufgeschlagen. Die Seiten sind schwarz bedruckt. Dank dem Glanz des Drucks auf dem matten Papier können die Seiten durchaus gelesen werden. Es handelt sich um kopierte Enzyklopädien. Auf dem Tisch liegen weitere Arbeiten, die ebenfalls durch Kopieren entstanden sind. Die Vorlage wird kopiert und die Kopie wieder. Dabei entstehen zunehmend Artefakte und Grautöne verschwinden. Das letzte Resultat ist fast schwarz mit ganz wenig weiss. Ausgestellt werden die Werke von Limit, Mexico DF.
Es ist unglaublich, woher die Verlegerinnen und Verleger gekommen sind. Beim Rundgang fallen mir Korea, Japan, Kanada, Südafrika, Argentinien, USA, Spanien, England, Belgien, Niederlande, Grossbritannien, Tschechien, Italien, Frankreich, Deutschland und natürlich die Schweiz auf. Das gibt der Messe Gewicht und eine Ausstrahlung weit über Basel hinaus.
Zum Schluss lande ich beim Tisch mit der Nummer 1. Er liegt etwas versteckt hinter dem Stapel aus Holz mit der Auslage der Art Book Fair. Im Gegensatz zu anderen Tischen wurde eines der schweren Tischbretter unten am massiven Unterbau angebracht. Das ergibt eine zweistöckige Auslage. Ein schwarzes Tuch bedeckt den Tisch. Einige Objekte sind auf Präsentationsständern platziert. Bei jedem Objekt klebt ein ausgestanztes Tier, das die Initialen der Künstlerin oder des Künstlers trägt. Hier stellen fünf Studierende aus der Burg Giebichenstein in Halle aus. Ihre Professorin, Sabine Golde, die selbst auch ausstellt, hat sie nach Basel begleitet, damit sie Erfahrungen mit Messen machen können.
Am Stand treffe ich Nick Teplov (nickteplov.com). Er stellt ein Buch mit Fotogravuren aus. Die Bilder sind mit Kupferplatten gedruckt, die eine lichtempfindliche Schicht tragen. Die Druckplattenherstellung ist ähnlich wie die Arbeit in einem Fotolabor. Die Bilder – die meisten sind schwarz-weiss – wirken verfremdet, aber hinterlassen einen starken Eindruck.
Catherine Sanke und Paula Schneider – sie ist gerade nicht am Stand – treten gemeinsam auf. Sie haben beispielsweise Hefte aus Altpapier dabei. Das Papier von Formularen stammt aus DDR-Zeiten. Auch ihre Visitenkarte ist natürlich aus solchem Papier hergestellt. „PC Hefte“ und die Namen mit E-Mail-Adressen sind aufgestempelt. Catherine Sanke übt sich fleissig darin, ihre Werke anzupreisen. Und sie macht das mit einem Augenzwinkern und viel Schalk ausgezeichnet.
Sophie Kurzer ist still und arbeitet an zwei kleinen Büchern aus ihrer Serie „tage bücher“. Die Lagen sind bereits geheftet. Sie näht den Einband an. Es sind von der Bindung her einfache Bücher. Sie enthalten mit dem Laserdrucker hergestellte Ausschnitte aus Skizzenbüchern. Die Zeichnungen sind phantasievoll, verspielt aber hintergründig. An keinem Stand sonst habe ich gesehen, dass an Werken gearbeitet wurde.
I never read – das stimmt natürlich für niemanden in den Räumen der Kaserne Basel. Im Gegenteil: Die Werke zeugen von Auseinandersetzung mit der Welt, die zwar zunehmend digitalisiert und so quasi lesbar wird, aber im Grunde genommen analog ist: zum Anfassen. Und so waren auch die Ausstellenden: gern zum Gespräch bereit.