Im Hochsicherheitstrakt
Michael Guggenheimer
„Guten Tag, ich bin von der Sicherheit“. Das ist die übliche Begrüssung. Dann folgt der nächste Satz: “Sind Sie Mitglied der Gemeinde?“. Nein, ich bin es nicht. Ich möchte die Bibliothek besuchen, gebe ich zur Antwort. „Waren Sie schon hier?“, fragt der junge Mann hinter der dicken Glaswand, der vor mehreren Bildschirmen sitzt, auf denen die Strasse vor dem Gebäude, der Innenhof und die Zufahrt zum Parkplatz ebenso zu sehen sind wie einzelne Räume im Gebäudeinnern. Ja, ich komme regelmässig hierher, sage ich. „Wen kennen Sie hier?“. Ich bin vertraut mit dieser Fragerei, es ist immer wieder dasselbe Ritual, nur die jungen Gesichter hinter dem Panzerglas wechseln sich ab. „Ich kenne Yvonne und Kerstin“, sage ich. Die beiden Vornamen wirken Wunder, der streng aussehende Mann mit dem israelischen Akzent schaut mich nochmals an und schon gleitet die schwere Glastüre und öffnet sich ein Zwischenraum. Jetzt stehe ich in einer Art Schleuse, denn hinter mir schliesst sich die Glaswand wieder, ich warte auf das Gleiten der nächsten Tür, jetzt kann ich weiterschreiten und betrete durch eine weitere Glastüre die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ).
Ich weiss, ich befinde mich jetzt in der am besten gesicherten Bibliothek, die ich je betreten habe. Oder um es präziser auszudrücken: Die Bibliothek befindet sich in einem Gebäude, das so gut gesichert ist wie wenige andere in der Stadt Zürich. Ich mag dieses Gebäude nicht, es hat etwas Abweisendes an sich. Das Haus der grössten jüdischen Gemeinde Zürichs weist nicht nur Büro- und Unterrichtsräume, ein koscheres Restaurant und einen Festsaal auf, es ist auch der Sitz einer Bibliothek, die sich seit ihrer Einrichtung im Jahr 1939 in diesem Haus befindet. Alle Bücher, die sich hier befinden, und es sind heute rund 50 000 Titel, kreisen um jüdische Themen und jüdische Autoren sowie um Israel. Neben belletristischer Literatur in deutscher, hebräischer, englischer, französischer und jiddischer Sprache befinden sich hier auch Bücher allgemeinbildenden Charakters mit Bezug zur jüdischen Geschichte und zum Judentum. Weil im benachbarten Deutschland im Zweiten Weltkrieg die Bestände jüdischer Bibliotheken vernichtet wurden, gilt die ICZ Bibliothek als die grösste Judaica-Bibliothek ihrer Art im deutschsprachigen Raum. Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Bibliothek um wichtige Teile der von den Alliierten in Deutschland gefundenen Reste der ehemaligen Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau angereichert. Die ICZ Bibliothek erhielt wegen ihrer Bestände vom Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) das Gütesiegel „Kulturgut von nationaler Bedeutung“.
Yvonne Domhardt, seit über zwanzig Jahren Leiterin der Bibliothek, und ihre Mitarbeiterin Kerstin Paul sind beide studierte Judaistinnen mit einer Zusatzausbildung als wissenschaftliche Bibliothekarinnen. Ihnen zur Seite steht noch Agnes Maurer. Weshalb es hier so hoch qualifizierte Mitarbeiterinnen braucht? Angesichts ihrer Bestände ist die Bibliothek eine Anlaufstelle für Wissenschaftler und Studierende verschiedenster akademischer Provenienz geworden, die sich mit Hebraica und Judaica sowie mit der Geschichte der Juden im deutschsprachigen Raum beschäftigen. Alles in den Räumen der Bibliothek wirkt etwas eng, nach einer Renovation des Gebäudes wurde die Bibliothek nämlich trotz des stets wachsenden Bücherbestandes etwas verkleinert. Drei Lesebereiche weist die Bibliothek auf. In einem separaten Arbeitsraum sitzen Studenten, die Seminar- oder Abschlussarbeiten in judaistischen Studien schreiben. Aber auch Rabbiner wie Hermann Schmelzer aus St.Gallen sind hier regelmässig an der Arbeit. Es ist eine Bibliothek, die jedem offensteht, ob jüdisch oder nicht, ob Mitglied einer jüdischen Gemeinde oder nicht, eine Bibliothek für jeden, für Kinder, Jugendliche, Literaturfreunde, Studierende, Forscher, Wissenschaftler, Journalisten. Eine grosse Auswahl an zeitgenössischen israelischen Romanen in Hebräisch, ein reiches Angebot an erzählerischer Literatur jüdischer und nicht-jüdischer Autoren, eine Kinderecke, jüdische Zeitschriften, eine grosse Auswahl von Büchern zu Israel sowie CD’s und DVD’s können hier ausgeliehen werden. Weil der ICZ Mittel fehlen, um das Bestehen der Bibliothek auch in Zukunft zu sichern, wurde im Frühling 2013 der Verein ‚Jüdische Kultur und Wissenschaft’ (VJKW) gegründet, der die Existenz der Bibliothek sichern will.
ICZ Bibliothek
Lavaterstrasse 33
8002 Zürich
T: 044 283 22 50
www.icz.org/399/Bibliothek.htm
Grenzübertritt
Heinz Egger
Ich biege in die Lavaterstrasse ein. Vor mir geht eine Frau. Wie alt sie ist? – Schwer zu schätzen! Sie ist von kleiner Statur. Sie trägt eine Wolljacke und einen knielangen Rock. Ihr Haar glänzt, hängt aber wie Fäden herab. Ob sie eine Perücke trägt?
Die Frau schaut mehrmals zurück. Zum letzten Mal, als sie vor der Eingangstüre der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) steht. Sie bleibt kurz stehen und schaut durch die braun getönte Scheibe. Dahinter sitzt ein junger Mann in blauem T-Shirt. Seine Haare sind kurz geschoren, sein Teint ist dunkel und er trägt einen kurzen, sauber geschnittenen Bart. In diesem Haus stehen die Türen nicht einfach offen. Eine Überwachungskamera linst jedem über die Schulter. Der Portier schaut mich an, weil ich gerade hinter der Frau stehe, und fragt per Handzeichen, ob ich zu der Frau gehöre. Ich schüttle den Kopf und trete einen Schritt zur Seite, um die Aussage zu unterstreichen.
Die Türe geht auf und die Frau verschwindet im Haus. Sie ist dem Wächter wohl bekannt.
Nun trete ich näher. Der Herr über die Türe ergreift das Mikrofon. In gutem Deutsch, aber mit deutlichem Akzent fragt er, was ich hier wolle. „Ich möchte gern die Bibliothek der ICZ besuchen“. Ob ich den Namen der Bibliothekarin kenne. Ich bin wegen der Nachfrage etwas erstaunt, stocke ein wenig, denn ich hatte den Namen am Morgen noch auf der Website der ICZ gelesen, war aber nicht mehr sicher, wie er genau lautet. Ich murmle etwas undeutlich einen Namen. Dieser könnte ebenso gut Dormann wie Dormeier lauten. Der Aufseher beugt sich vor und lächelt. Dabei sagt er überdeutlich „Yvonne Dormhardt“ ins Mikrofon. Eine metallene Schublade fährt auf Kniehöhe langsam aus der Wand. Der Portier fordert mich auf, einen Ausweis hineinzulegen. Ich lege meine Identitätskarte hinein. Lautlos, wie sie hervorgekommen war, schliesst sich die Schublade wieder. Der Ausweis wird genauestens angeschaut. Der Aufseher greift zum Telefon. Augenblicke später fordert er mich auf, meinen Rucksack seinem Kollegen zu zeigen. Ich sehe den Kollegen nicht und erschrecke, als ich mich umwende. Hinter mir steht ein junger Mann, fast ein Double des Wächters. Er war völlig lautlos hinter mich getreten. Ich öffne den Reissverschluss. Der junge Mann schaut in den gähnenden Schlund des Rucksacks, nickt und sagt: „OK.“
Darauf gleitet die Schiebetür zur Seite und ich trete in einen Zwischengang. Die Tür zum Raum des Aufsehers steht einen Spalt weit offen. Durch diesen frage ich nach meinem Ausweis. Mit einem breiten Grinsen und einer kurzen Entschuldigung streckt der Aufseher mir das Dokument entgegen.
Auch die zweite Tür der Schleuse öffnet sich. Ich trete in die Halle. An der Wand hängt ein grosser Bildschirm. Dieser gibt Auskunft über das, was im Haus gerade läuft. Die Tür zur Bibliothek befindet sich gleich links daneben. Ich öffne sie und trete durch den Türrahmen. Dabei ertönt ein Gong. Unangemeldet kann hier niemand hineingehen. Ich stehe einen Moment still und warte im schmalen, nach links führenden Gang. Niemand ist zu sehen, nichts regt sich. So gehe ich etwas unsicher weiter. Am Ende des kurzen Gangs geht der Weg im rechten Winkel nach links weiter. Ein Garderobenständer steht da. Ich ziehe meinen Mantel aus und hänge ihn auf. Zwei Schritte weiter hängt links der mächtige, hölzerne Zettelkasten des Katalogs an der Wand, rechts in einer Nische sind zwei Arbeitsplätze. Eine Bibliothekarin sitzt am PC. Ich trete an die Theke, räuspere mich, um mich bemerkbar zu machen, stelle mich vor und sage, warum ich hier sei. Ich möchte gern Literatur zu den Speisegesetzen einsehen. Die Bibliothekarin gibt ein Suchwort ein und notiert auf einem kleinen Zettel ein paar Nummern. Darauf geleitet sie mich in die Tiefen des Kellers, in dem Tausende von Bänden lagern. Das Buch, das zur ersten Nummer gehört, ist vermisst. Zwei findet sie in den Schubladen. Das eine stammt aus dem Jahr 1895 – ein Buch, das in Breslau gedruckt wurde. Das zweite von 1927 aus Deutschland. In der Handbibliothek ist auch ein neueres englisches Buch greifbar: How to Keep Kosher, A Comprehensive Guide to Understanding Jewish Dietary Laws, by Lise Stern, William Morrow Cookbooks: 2004, ISBN: 0060515007.
Mit meinen Schätzen setze ich mich an einen der runden Tische und vertiefe mich in die Lektüre. Es ist still. Nur sehr wenige Leute sind in der verwinkelten Bibliothek zugegen. Ich lasse meinen Blick umherschweifen: Hier ist alles an Gedrucktem versammelt, was in einem jüdischen Kontext steht. Deutsche, französische, englische und natürlich zahlreiche in Iwrit geschriebene Bücher stehen säuberlich nummeriert in den Wand- und Schieberegalen. – Ein Bücherparadies besonderer Ausrichtung!
Das englische Buch nehme ich schliesslich mit. Jeder, ob Jude oder nicht, kann gegen ein kleines Entgelt hier Bücher ausleihen.
Als ich später wieder draussen an der Sonne stehe, fühle ich mich wie nach einer Reise: Grenzübergang, Unsicherheit, Eintauchen in eine unbekannte Welt. Und dann das Mich-wieder-Losreissen und Zurückkehren in den Alltag Zürichs.
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