Viel mehr als Harry Potter
Michael Guggenheimer
Im Innenleben von Kindern und Jugendlichen ist ganz viel los. Im verfilmten Roman „Tschick“ von Wolfgang Herrendorf brechen zwei Schüler in den Sommerferien aus, sie verlassen ihre vertraute Welt, um sich zu erfahren, um Klarheit über ihre Umgebung zu gewinnen. „Losziehen, aufbrechen, fliehen: Die Momente des Weggehens sind zahlreich in der Kinder- und Jugendliteratur“, schreibt Ines Galling. „Kleine Kinder haben den Drang, die Welt selbständig zu entdecken“, meint Sabine Brunner. „Die Kinder- und Jugendliteratur reagiert schnell auf aktuelle Themen“, schreibt Sigrid Tinz. Die drei Autorinnen sind Fachpersonen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur. Und publiziert haben sie ihre Erkenntnisse in einer Zeitschrift, die eine grosse Anzahl von Leserinnen und Lesern verdient. „Buch & Maus“ heisst die Zeitschrift. Und herausgegeben wird sie vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendliteratur (SIKJM) in Zürich. Die Texte, die sich an Lehrpersonen, Buchhändlerinnen, Bibliothekare oder Kindergärtnerinnen richten, sind so geschrieben, dass sie auch für Eltern und Grosseltern spannend sind. Und eine wunderbare Fundgrube sind die vielen Besprechungen von Kinder- und Jugendbüchern in dieser Zeitschrift. Wer regelmässig „Buch & Maus“ konsultiert, wird bei der Suche nach geeigneter Literatur für junge Leserinnen und Leser stets fündig.
Was das SIKJM ist? Ein Institution u,a, voller Bücher. Bücher, die sich an Kinder und Jugendliche richten und Bücher, die für alle jene Personen von Nutzen sein können, die sich mit Kinder- und Jugendliteratur befassen. Betritt man die Bibliothek, gerät man ins Staunen über die Breite der Themen rund um die Literatur für Heranwachsende. Die Bibliothek ist keine Büchrausleihstelle für Kinder aus dem Quartier, auch wenn sie wohl mehr Kinder- und Jugendbücher aufweisen dürfte als jede andere Bibliothek in der Schweiz. Aber ebenso wie Studierende, Medienschaffende, Bibliothekare oder Lehrpersonen können hier sich auch Eltern Ideen holen. Ideen zum Thema Lesen mit Kindern und Lektüre-Anregungen gibt es hier. Das SIKJM verfügt über Kinder- und Jugendbücher seit dem 17. Jahrhundert, 50 000 Titel sind hier in der Bibliothek, im Archiv in einem Untergeschoss sowie in einem Aussenarchiv in einem Schulhaus gelagert. Darunter rund 5000 Fachbücher, mehrheitlich in deutscher Sprache, rund 4000 Publikationen, die vor 1945 veröffentlicht wurden, rund 20 000 Kinder- und Jugendbücher des 20. Jahrhunderts.
Die Bibliothek des SIKJM verfügt über mehrere herausragende Spezialsammlungen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Da ist die „Kinderbuchsammlung Bettina Hürlimann“. Die Tochter des deutschen Buchhändlers und Verlegers Gustav Kiepenheuer, die in der Schweiz als Verlegerin im Atlantis Verlag arbeitete und sich dort auf die Leitung der Kinder- und Bilderbuchabteilung konzentrierte, ist die Autorin des Buchs Die Welt im Bilderbuch, eines international erfolgreichen Werks über die Literaturgeschichte des Kinderbuches. Rund 5000 Bücher umfasst die Bettina-Hürlimann-Sammlung beim SIKJM. Die Bilderbuchsammlung der im Jahre 1996 verstorbenen Zürcher Buchhändlerin Elisabeth Waldmann mit rund 10 000 Büchern steht Forschern ebenso zur Verfügung wie die rund 10 000 Titel, die für den Hans-Christian-Andersen-Preis seit 1986 nominiert wurden und weiterhin nach jedem erfolgten Wettbewerb der SIJKM-Bibliothek zugeführt werden. Der Preis ist die wichtigste internationale Auszeichnung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur und wird alle zwei Jahre einem Autor oder an einer Autorin sowie einem Illustrator oder einer Illustratorin für herausragende Werke im Bereich der Kinder- und Jugendbuchliteratur vergeben.
Wie spannend die Auseinandersetzung mit der Literatur für junge Menschen ist, zeigt ein Blick auf Titel in der Fachbibliothek. „Wie viel lesen Kinder?“, „Lust am lesen“, „Frühbehandlung der Leseschwäche“, „Lesesozialisation der Familie“, „Kinder lernen Bücher lesen“, „Spass an Büchern“ lauten Titel der hier gesammelten Bücher. Oder auch „Der junge Leser“, „Kinder- und Jugendbücher als Klassenlektüre“, „Die Lesekrise zu Beginn der Pubertät“, „Harry Potter’s World“, „Children’s Literature“, „Enid Blyton and the Mystery of Children’s Literature“. Beim Schreiten zwischen den Bücherregalen entdeckt man eine ganze Abteilung zum Thema Märchen und Fabeln, eine andere zum Thema Comics und Graphic Novels, eine weitere zum Thema Schüler- und Jugendpresse oder eine zum Bereich Kinder- und Jugendfilme. Und wenn man sich die Bestände an Kinder- und Jugendbücher in den Regalen anschaut, dann wird einem vollends klar: Hier kann man sich intensiv mit der Welt der Kinder- und Jugendbücher auseinandersetzen. Hier kann man erfahren, wie man Bücher für junge Menschen auf allen Ebenen einsetzen kann. Nicht unerwähnt bleiben soll das spannende Weiterbildungsprogramm, welches das SIKJM, das ja auch ein Forschungszentrum für Literatur von jungen Menschen ist, anbietet!
Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM)
Georgenstrasse 6
8006 Zürich
T: 043 268 39 00
www.sikjm.ch
Lesen säen
Heinz Egger
Die Türe geht automatisch auf. Ein lauter Gong ertönt. Er wird durch einen Bewegungssensor ausgelöst. Und er tönt immer wieder, wenn jemand von der einen Seite der Bibliothek zur anderen wechselt. Eine blaue Wand empfängt mich. Davor zeigen zwei Vitrinen Orignalzeichnungen von Ernst Kreidolf. Er lebte von 1863 bis 1956 in Bern. Bekannt wurde er als Kinderbuchkünstler. Seine feinen Zeichnungen sind auch heute nicht veraltet. Sie sind voller Phantasie, voller Details, die Erinnerungen wachrufen und dazu auffordern, die Geschichte weiterzuführen oder beim Erzählen auszuschmücken. Seinen literarischen Nachlass hütet die Burgerbibliothek Bern, seinen künstlerischen das Kunstmuseum Bern.
Die Bibliothek ist zum grössten Teil eine Präsenzbibliothek. Die Kinder- und Jugendbücher können nicht ausgeliehen werden. Teile der Sekundärliteratur ebenfalls nicht.
Im Gestell mit der Zahl 821 entdecke ich Bücher übers Schreiben von Kinderbüchern. Zum Beispiel auf Englisch „Writing, Illustrating and Editing Children’s Books“ von Jean Poindexter Colby, erschienen bei Hastings House, New York, 1967. Oder Heidemarie Bresche „Erfolgreich Kinderbücher schreiben – von der Idee bis zum gedruckten Buch“, erschienen bei Moses 2003. Oder – und dieses Buch wurde intensiv genutzt, denn das beweisen die Eselohren und weitere Spuren – Wolfgang Bittner „Von Beruf Schriftsteller – Das Handwerk mit der Phantasie“, erschienen bei Beltz 1995. Und weil in unserer Gesellschaft das Thema „Gender“ so wichtig ist, herausgegeben von Susan Lehr „Beauty, Brains, and Brawn – The Construction of Gender in Children’s Literature“, erschienen bei Heinemann, Portsmouth, New Hampshire.
Die Autorinnen und Autoren, Illustratorinnen und Illustratoren von Kinderbüchern sind zahlreich. Ein Buch, das sie – wenigstens auf Englisch – aufführt findet sich im Bereich der Sekundärliteratur: Twentieth Century Children’s Writers (second Edition).
Das SIKJM, das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien ist die Anlaufstelle für Fachpersonen. Studenten, Forscher und Pädagogen verkehren hier. Die Zielgruppen von SIKJM können auch auf den Büchergestellen erraten werden. So lese ich beispielsweise 021 Lesen technisch, 022 Lesen (Rezeption, Psychologie), 023 Kind und Buch, 028 Lese-/Literaturerziehung. 081 Kinder- und Jugendliteratur literaturwissenschaftlich, 082 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Bei SIKJLM stehen gegenwärtige und historische Kinder- und Jugendmedien im Zentrum der Forschung. Immer geht es auch um ihre kulturelle Bedeutung. Es stehen rund 5‘000 Fachbücher und 50 aktuelle Zeitschriften in den Gestellen.
Natürlich hat die Bibliothek eine reiche Sammlung von Kinder- und Jugendbüchern. In den Gestellen mit den Kinderbüchern findet man wahre Schätze, nicht nur auf Deutsch, sondern auf Französisch, Italienisch und Englisch. So fällt mit ein dicker Papierstapel auf, ein Leporello: „Farben des Tages“ von Kveta Facovska. Kräftige Farben leuchten. Rot und Schwarz. Ein Fest fürs Auge! Aus einem Buch mit festen Seiten aus Karton schaut ein kleiner Hund hervor. Es geht um die Geschichte von Holger, dem kleinen Hund.
Auf einem Tablar steht ein halbseitig geöffneter Kamishibai, das aus Japan stammende „Erzähltheater“. Wenn die Erzählung beginnt, werden die beiden Flügel geöffnet. Ein grosses Bild erscheint. Während dem Erzählen wird Bild um Bild im Rahmen gezeigt. Dadurch tritt der Erzähler in den Hintergrund und die Zuhörerschar schaut gebannt auf die Bilder.
Das SIKJM verwaltet auch Archiv-Nachlässe bekannter Kinderbuchfachleute, -Autoren und Autorinnnen, beispielsweise von Kurt Held, Lisa Tetzner, Bettina Hürlimann und Elisabeth Waldmann. Die beiden zuletzt genannten Frauen sammelten Kinderbücher aus der ganzen Welt. Die eine 5‘000, die andere 10‘000. SIKJM verwaltet auch das Johanna Spyri-Archiv. All diese wertvollen Zeitzeugen auf Papier lagern im Keller in Rollgestellen. Sie sind auf Anmeldung zugänglich. Dank Sammlerinnen und Sammlern und eigenen Ergänzungen verfügt SIKJM über 50‘000 Titel. Die ältesten Kinder- und Jugendbücher stammen aus dem 17. Jahrhundert.
In einer eigenen Zeitschrift mit dem Titel „Buch und Maus“ setzt sich SIKJM breit mit den aktuellen Kinder- und Jugendmedien auseinander. Rezensionen von neuen Medien, Reportagen, Essays, Diskussionsbeiträge und Fachartikel beleuchten die Entwicklung der Kinder- und Jugendmedien und liefern Hintergründe. Diese Zeitschrift erscheint auch auf Französisch als „Parole“ und Italienisch als „Il Foletto“.
Das Lesen ist eine sehr wichtige Kulturtechnik. Daher setzt sich SIKJM stark für die Leseförderung ein. Dies geschieht beispielsweise durch Projekte wie die grösste Kulturveranstaltung in der Schweiz: die Schweizer Erzählnacht, die jeweils am zweiten Freitag im November stattfindet. 2015 nahmen daran über 70‘000 Personen teil.