Internationales Literaturfestival Leukerbad

Fenster zur Welt

Michael Guggenheimer

»In diesem Dorf gibt es kein Kino, keine Bank, keine Bibliothek und kein Theater, nur wenige Radios, einen Jeep, einen Lieferwagen… Die Landschaft ist überwältigend, von Bergen umgeben, Schnee und Eis, so weit das Auge reicht. In dieser wilden, weißen Natur sind Männer, Frauen und Kinder den ganzen Tag beschäftigt, tragen Wäsche, Holz, Eimer mit Milch oder Wasser hin und her, laufen manchmal am Sonntagnachmittag Ski… Im Dorf kennen alle meinen Namen, doch kaum jemand benutzt ihn. Alle wissen, dass ich aus Amerika komme – was sie wohl niemals glauben werden: Für sie kommen Schwarze aus Afrika.« Das beschriebene Dorf ist Leukerbad. Das Jahr, in dem diese Zeilen geschrieben wurden, ist 1951. Und geschrieben hat diese Zeilen der berühmte amerikanische Autor James Baldwin.

Wie anders heute. Das Bergdorf ist gewachsen, grosse Hotels, Ferienhäuser und Badelandschaften mit heissem Quellwasser, das aus der Tiefe kommt, sind unübersehbar geworden. Seit 1996 findet hier jedes Jahr Anfang Juli das „Internationale Literaturfestival Leukerbad“ statt. Begründet hat das Festival der aus Leukerbad stammende Zürcher Buchhändler und Verleger Rico Bilger. Hans Ruprecht, international vernetzter Literaturvermittler aus Bern ist seit 2005 Organisator dieser Literaturtage. Besucher, die in flacheren Gebieten wohnen, geraten regelmässig in Verzückung, wenn sie mit dem Bus auf der kurvenreichen Bergstrasse hinauf zum Dorf unterwegs sind, das auf 1400 Metern Höhe zwischen hohen Bergen liegt. Beim indischen Autor Pankaj Mishra, an noch imposantere Berge im Grenzgebiet zu Tibet gewöhnt, löste die Ankunft allerdings keine staunenden Rufe aus.

Das Festival von Leukerbad ist anders als das ältere und grössere jährliche Schweizer Literaturfestival in Solothurn. Während Solothurn im Kern eine Schau literarischen Schaffens in der Schweiz ist, wenn auch garniert mit Schreibenden aus dem Ausland, kommt die Mehrzahl der Autoren in Leukerbad aus dem Ausland. In diesem Jahr aus Kanada, Ungarn, Russland, Ukraine, Syrien, Indien, USA, Deutschland, Serbien, Frankreich, Österreich, Neuseeland, Ägypten. Das macht das Festival besonders interessant, trifft man hier doch auf Autoren, deren Werk im deutschsprachigen Raum weniger bekannt ist. Man schaut sich die Namen der Vortragenden an und staunt: Festivalleiter Ruprecht und seine Mitarbeiterin Anna Kulp müssen über hervorragende Beziehungen verfügen und zudem bei Sponsoren gut Geld locker machen können. Prominente Namen jedes Jahr unter den Gästen. In einer Zeit, da sich der Blick mancherorts einengt, Nationales populärer ist als Internationales sind die Fenster des Festivals von Leukerbad weit geöffnet.

Literarische Wanderung durch Blumenwiesen

Bei gutem Wetter finden manche Lesungen unter freiem Himmel in Hotelgärten statt. Wanderungen mit Zwischenhalten, an denen Autoren Texte vortragen, gehören ebenso zum Programm: Eine Passüberquerung mit Lesungen ist mittlerweile Tradition, ebenso ein literarischer Schlucht-Spaziergang, beide in spektakulärer Landschaft. Der Ort mit seinen Thermalbädern verfügt über genügend Schwimmbäder, so dass sogar zwei Abendanlässe in einem trockengelegten grossen Schwimmbecken stattfinden können. Durchaus gesund auch die Distanzen, die zwischen Lesungen von einem Leseort zum anderen zurückgelegt werden müssen. Das ist anders als in Solothurn, wo man sich von einem Leseort zum anderen kaum bewegen muss. Beim Gang nach einer Lesung im Hotel Regina Terme am obersten Ortsrand zum Leseort Hotel Le Bristol im unteren Dorfrand ist man aber unsicher, ob man diese Spaziergänge auch wirklich wiederholen möchte: Die Architektur Leukerbads ist – man kann es nicht anders sagen – mehrheitlich ausgesucht hässlich. Hotelkästen der 70er Jahre, grosse Ferien-Appartmenthäuser derselben Zeit, kein schöner Anblick in dieser alpinen Landschaft, Orts- und Regionalplanung sowie eine gesunde Bescheidenheit sind hier spurlos vorbeigegangen.

Doch zurück zum eigentlichen, zum literarischen Programm. An der Auswahl der Autorinnen und Autoren aus dem Ausland ist nichts auszusetzen. Im Bergdorf lässt sich Weltliteratur so konzentriert entdecken wie sonst nirgendwo in der Schweiz. Das macht das Festival so attraktiv. Schade bloss, dass alle Lesungen, egal von wo der Autor hergereist ist, exakt bloss 40 Minuten dauern, eine echte Auseinandersetzung mit den Gastautoren in der kurzen Zeit kaum möglich ist, Ausnahmen von der starren Zeitregel nicht vorkommen. Als vor einem Jahr David Grossman mitten in seinem Bericht über den gewaltsamen Tod seines Sohnes von der Moderatorin gestoppt wurde, da meinte er, er sei wohl nicht aus Jerusalem gekommen, um nach 40 Minuten abgestellt zu werden.

Lesung im Garten mit Benedict Wells, Fotograf

Es fehlt die Möglichkeit zum Dialog und zur Nachbearbeitung, es fehlt die Gelegenheit, um Fragen zu stellen und um noch etwas mehr zu erfahren. Denn in Leukerbad gilt das Prinzip, dass einzig die Moderatoren Fragen stellen können, dem Publikum keine Gelegenheit geboten wird, an der Veranstaltung mit den Autoren in Dialog zu treten. Das Gespräch könne man mit den Autoren auf dem Dorfplatz führen, meinen befragte Moderatoren. Das ist leichter gesagt als gewagt. Anders als in Solothurn besteht aber in Leukerbad die Möglichkeit, eine verpasste Veranstaltung am kommenden Tag in einer etwas veränderten Variante nochmals zu erleben. Seltsam, dass die Ortschaft, die wichtige Autoren aus dem Ausland und mehrere Hundert Leserinnen und Leser an drei Tagen beherbergt, über ein mehr als dürftiges Wegweisersystem verfügt und die Gäste nirgendwo willkommen geheissen werden. Das Festival wird nicht zum Fest: Es flattern keine Fahnen wie in Solothurn, nirgendwo ein Spruchband über der Strasse, Leukerbad nimmt das Festival zur Kenntnis, mehr nicht. Wer am Busbahnhof ankommt und noch nie zuvor am Ort war, fühlt sich nicht wirklich empfangen. Ebenso seltsam, dass es keinen wirklichen Beginn der Literaturtage mit einer festlichen Begrüssung gibt, die Moderatoren sich an keiner Veranstaltung vorstellen, und dass sich sogar ein Verleger als Moderator seiner Autorin betätigen kann, der natürlich das Werk seiner Autorin mit vielen lobenden Worten vor Publikum bewirbt. Ein Mangel die Wahl des Leseortes im Hotel Le Bristol am unteren Dorfrand. Angesichts der Entfernung zu den anderen Leseräumen fanden sich zeitweise bloss 25 Zuhörende zu faszinierenden Begegnungen mit Autoren nicht deutscher Muttersprache, die man sonst selten in der Schweiz antrifft.

Es gibt nicht wenige Literaturfreunde, die Jahr für Jahr zu den treuen Festivalbesuchern gehören, die auf das Besondere dieses Festivals schwören. „Das Festival lanciert am ersten Juli-Wochenende so richtig unsere Sommersaison“, meint Richard Hug vom Leukerbad Tourismus. Mit Vor-Lesungen vor Beginn des Festivals in Zürich und in Brig macht das Festival auswärts auf sich aufmerksam. Und so wie es Zuhörer gibt, die schon mehrfach in Leukerbad am Festival teilgenommen haben, so finden sich unter den Autoren und Moderatoren wiederkehrende Gäste, die die Überschaubarkeit des Ortes und der Veranstaltungen schätzen. Seltsam nur die Programmation des grossen „Literarischen Abends“ in diesem Jahr: Von den zehn Autoren, die an diesem Abend im grossen Badbecken vortragen konnten, schreiben bloss deren zwei nicht in Deutsch, was die insgesamt vorgestellten Werke keineswegs wiederspiegelt. Wo war da der Blick in die weite Welt geblieben?

Internationales Literaturfestival
Leukerbad

3954 Leukerbad
literaturfestival.ch

 

Literaturbad

Heinz Egger

Bergkranz hinter Leukerbad

Leukerbad empfängt mich bei gutem Wetter. Aber das Dorf ist irgendwie speziell: die Berge, die Ruhe und der Hauch vergangenen Glanzes, der über allem liegt. Leere Geschäftsräume unter anderem in der Walliser Alpentherme, dem unrühmlichen Mal des Ortes, oder eine Apotheke, die zu vermieten ist, oder die zahlreichen Ferienwohnungen, die mit dreieinhalb Zimmern ab 280’000 zu haben sind.

Trotzdem sind namhafte Autorinnen und Autoren für das Literaturfestival angesagt. Von den Schweizer Grössen sind beispielsweise Adolf Muschg, Zsuzsanna Gahse, Lukas Bärfuss, Urs Mannhart und Pedro Lenz da. Aus dem Ausland reisen zum Beispiel der syrische Lyriker Adonis (Ali Ahmed Said Esber), der Neuseeländer Lloyd Jones, der Russe Vladimir Sorokin, die Ukrainerin Julia Kissina, der Ägypter Youssef Rakha, die Kanadierin Anne Carson und die Amerikanerin Deborah Feldman an. – Nicht alle Namen sagen mir etwas, aber die Gesellschaft ist international.

Vieles wird auf Deutsch vorgetragen, aber mit den Gästen aus dem Ausland auch viel Englisch. Mir gefällt sehr gut, dass alle Räume über eine ausgezeichnete Mikrofon-Verstärker-Lautsprecheranlage verfügten. Einzig die Präsentation von Poesiefilmen ist in diesem Bereich ganz schwach. Die PC-Lautsprecher können den Raum gar nicht füllen. Die Sprache ist nicht zu verstehen.

Am Freitag geniesse ich ein Poesiebad. Zuerst mit Jan Philipp Reemtsma. Der Autor wird kurz eingeführt, darauf erklärt und liest er als „Alleinunterhalter“ vor. Anschliessend bei Raoul Schrott geschieht Gleiches. Der Anmoderator sagt, Roul Schrott sei zwar bekannt, doch er wolle gleichwohl etwas über ihn sagen. Darauf liest er eine Kurzfassung des Textes aus dem Programmheft. Irritierend. Ebenso dass die schwarz gekleideten Begrüsser sich selbst nicht vorstellen. Raoul Schrott reisst mich hin. Ein brillanter Erzähler ist er und seine Gedichte über Berufsleute im Band „Die Kunst an nichts zu glauben“ ein toller Wurf. Zum Schluss des Nachmittags lasse ich mich von den poetischen Bildern zu Gedichten, präsentiert vom Zebra-Poetry-Festival, wegtragen.

Abendversanstaltung in der Walliser Alpentherme

Nach dem Nachtessen ist der erste Leseabend in der Walliser Alpentherme angesagt. Eigentlich bin ich müde von der Reise und der vielen Poesie. Ich will doch schnell hineinschauen. Als ich in die Therme eintrete, schlägt mir Chlorduft entgegen. Das finde ich abstossend. Es sieht irgendwie festlich aus, all die weiss bezogenen Stühle und Tische im Bassin. Aber auch künstlich. Nur kurz hör ich Anne Carson zu. Ich finde keinen Zugang zu ihren Gedichten. Völlig irritiert mich, dass die Dichterin ihre Übersetzerin hinzunimmt und sie dann Deutsch und Englisch gleichzeitig lesen. Eine Dada-Session?

In der Buchhandlung Zoë (Brig)

Den Samstag beginne ich mit einem Besuch in der Festival-Buchhandlung. Überraschend ist ihre Grösse. Der Raum ist weniger als ein Drittel so gross wie das gleich gegenüberliegende Festivalbüro. Während immer bis zehn Leute in der Buchauslage stöberen, sind es im Büro drüben nicht einmal zwei Besucher. Ob es nicht sinnvoller wäre, dass die beiden ihre Räume tauschten? Ein recht schwach frequentiertes Büro braucht nicht gleich einen Saal.

Ja überhaupt, das Büro. Das Abendprogramm für den Samstag ist noch offen. Eine entsprechende Information ist um 11 Uhr noch nicht verfügbar. Sie treffe demnächst ein, richtet man mir aus. Im Büro steht ein langer, weiss gedeckter Tisch, darauf die Programme und Gratis-Broschüren, zwei Kartonschachteln mit den vorbestellten Tickets und Einzeltickets, eine Stellwand mit aufgeklebten Zeitungsartikeln. Wer die wohl liest, besonders jene, die 60 Zentimeter über dem Boden angebracht sind, frage ich mich. Ich würde sie gern als Ausdruck beziehen oder auf der Website finden.

Beim Ausgang aus dem Büro steht eine weitere Wand. Darauf sind jene fünf Autorinnen und Autoren aufgeführt, die ihre Teilnahme kurzfristig abgesagt haben. Dafür kann die Organisation des Festivals natürlich nichts, aber lästig ist es alleweil, wenn es Lücken im Programm gibt. Und erfahren kann man die Absagen für den Samstag nur im Festivalbüro. Gleiches gilt auch für die Umplatzierung von Lesungen. Nun, das hat schon vor dem Festival begonnen. Mein Freund lud sich das Programm herunter, sobald es verfügbar war. Ich war da nicht so schnell. Und so unterschieden sich die Pläne. Gut, wenn man solches vorher merkt. Nur weil im Internet alles im Fluss ist, heisst das nicht, dass gerade bei solchen Anlässen alle zuerst ins Festivalbüro pilgern, um die letzte Version zu kriegen … Und am Festival selber gibt es auch Umplatzierungen, die mit einem Zettel im Festivalbüro bekanntgegeben werden. Vielleicht wäre da eine App angezeigt, die dauernd die letzten Änderungen als Push-Nachricht auf den Handy-Bildschirm schiebt.

Am Samstagnachmittag werfe ich mich in ein Literaturbad: Vladimir Sorokin, Youssef Rakha und Deborah Feldman nehme ich mir vor. Und was ist den Texten gemeinsam? Sex sells. Aus Sorokins Werk wird eines der 50 Kapitel vorgelesen: Die Hauptpersonen sind alle Penisse. Den Text trägt der Schauspieler Thomas Sarbacher mit Wucht und der Stimmung des Protagonisten vor. Eindrücklich! Rakhas Essay befasst sich mit der Pornografie im arabischen Raum. Er liest zwar Explizites vor, verbindet aber die Aussagen mit der Politik. Denn Freiheit und sexuelle Freiheit gehen Hand in Hand. Diese Verknüpfung finde ich spannend. Porno nicht bloss zum Aufreizen, sondern mit einer politischen Botschaft. Aus Feldmans über 300 Seiten starker, autobiographischer Erzählung wird für die Lektüre ausgerechnet jene Stelle ausgewählt, als die junge Frau vor der Heirat über die ehelichen Pflichten aufgeklärt wird. Ich höre jemanden sagen, das sei reisserisch. Und am Sonntagnachmittag in der letzten Veranstaltung mit Maxim Biller wieder: Er liest gekonnt und ausdrucksstark die Schlüsselszene aus dem Buch „Biographie“ vor, in der es um einen Sexskandal geht.

Ich erlebe drei Tage voller verschiedenster Eindrücke und sehe doch nur einen kleinen Ausschnitt des Ganzen, denn laut Medienmitteilung des Festivals lesen 33 Autorinnen und Autoren und es gibt 58 Veranstaltungen.

Ob ich nächstes Jahr zur 22. Ausgabe des Festivals als einer von mehr als 3000 Literaturbadern wieder hinreisen werde?