Buchhandlung mit Tiefgang
Michael Guggenheimer
Die Besitzer nennen sie „Unabhängige wissenschaftliche Buchhandlung“. Das ist eher keine Buchhandlung, in die man zufällig gerät. Klio an der Zähringerstrasse unweit vom Zürcher Hauptbahnhof ist ein Ort, den man bewusst ansteuert. Man ist an Geschichte interessiert. Man sucht soziologische Literatur und interessiert sich für Literaturgeschichte und Germanistik. Man beschäftigt sich mit Theologie, ist Lateinlehrer oder hat im Gymnasium Lateinunterricht gehabt und will die früher erlernte und wieder entdeckte Sprache aktivieren. Man ist an der Philosophie interessiert oder an Ethnologie und Politik, an frühe Geschichte oder an Zeitgeschichte. Es dürfte wohl keinen anderen Buchladen in Zürich geben, wo die genannten Gebiete so bewusst und mit so viel Fachwissen betreut werden. In einem Artikel zur Lage der Zürcher Buchhandlungen berichtete die NZZ im Jahr 2002: „Klio, die wissenschaftliche Buchhandlung an der Zähringerstrasse, ist das Produkt einer erfolgreichen Marktanalyse. Durch ehemalige Mitarbeiter der Buchhandlung Rohr gegründet, hat man sich hinsichtlich des Sortiments auf ein universitäres Umfeld spezialisiert; die Kundschaft besteht vorwiegend aus Studenten, Schulen, Bibliotheken und (Universitäts-)Instituten.“
Kinderbücher? Jugendbücher? Nein, die gibt es hier ebenso wenig wie Geschenkartikel wie sie in den grossen Buchhäusern als „Ergänzung“ des Warenangebots zu finden sind. 16 Büchergestelle, von unten bis oben gefüllt mit Geschichtsbüchern. Noch mehr Gestelle mit Büchern zu allen Perioden der Philosophie. Sie sind nach Epochen, Disziplinen der Philosophie, philosophischen Themen und Philosophen geordnet. 3 Büchergestelle überschrieben mit Soziologie. Klio ist eine Schatzkammer, Zürichs geisteswissenschaftliche Buchhandlung par Excellence. Keine Medizinbücher, keine Physik, keine Ökonomie. Keine Ecke mit bunten Reiseführern oder Kochbüchern. Dafür viel ausgesucht gute Belletristik, viele Schweizer Autoren. Einzigartig für Zürich die Rubrik auf der Klio-Homepage „Neu im Sortiment“. Hier werden Neuerscheinungen, die bei Klio eingetroffen sind, eine Woche lang angezeigt. In der Woche, da wir Klio besuchen unter anderen folgende Titel: „Principulus“, Saint Exupérys Kleiner Prinz auf Lateinisch, Armin Schäfers „Der Verlust politischer Gleichheit“, von Domenico Losurdo „Gewaltlosigkeit. Eine Gegengeschichte“, Dan Pleschs „Wartime Origins and the Future United Nations“.
Von der NZZ vor dreizehn Jahren danach befragt, was die Expansion des Buchhauses Orell-Füssli für Klio bedeuten könnte, ging Christine Heiniger, eine von vier Mitinhabern, davon aus, dass man von der Expansion weniger betroffen sein werde als andere Buchhandlungen; man habe verschiedene Grosskunden, biete ein anderes Segment an als die Grossbuchhandlung, und durch die vorteilhafte Geschäftslage werde man der Klio-Kundschaft in Zukunft auch weiterhin, wörtlich sogar, näher liegen.
Ein Link auf der Homesite zur Klio-Datenbank zeigt an, welche Interessen die Kunden von Klio haben. Die Klio-Buchhandlung erstellt zudem halbjährlich einen Katalog, in dem Neuerscheinungen aus den Sachgebieten der Buchhandlung angezeigt werden. Und seitdem es in Zürich keine französischsprachige Buchhandlung mehr gibt, wird hier die Literatur aus Frankreich und der Westschweiz ausgebaut. Vor kurzem erfolgte der erfolgversprechende Versuch, mit einer Lesung das neu hinzugewonnene frankophone Publikum noch mehr für die Buchhandlung zu interessieren: Der aus Lausanne stammende Matthias Tschabold, Französischlehrer an einem Zürcher Gymnasium, Lyriker und Autor eines Buchs über den Genfer Autor Georges Haldas, hielt eine Vorlesung in der Buchhandlung über den Autor von „Boulevard des Philosophes“. Das Publikum erschien festlich gekleidet zur ersten Lesung in französischer Sprache, man sass inmitten der Buchgestelle auf Gartenstühlen, der Autor legte sein Manuskript und die Bücher, die er zeigen wollte, auf einen Gartentisch, man kannte sich, der Anlass wurde auf der Homesite der kulturinteressierten Frankophonen Zürichs angekündigt. Buchhändlerin Christine Heiniger begrüsste die Gäste in Französisch, nach dem Vortrag, der sehr akademisch war und nach dem Anhören einiger Gedichte von Haldas, für die Schulkenntnisse in Französisch nicht reichten, wurden zahlreiche Fragen gestellt, anschliessend bei einem Apéro signierte Autor Tschabold sein Buch »Georges Haldas, un cheminement intérieur«.
Die Nähe zur Universität und zur Zentralbibliothek bringt es mit sich, dass Studierende und Assistenten bei Klio vorbeischauen. Die Buchhandlung verfügt über ein treues Stammpublikum, manche Kunden schauen auch noch nebenan im Antiquariat vorbei. Historikerin Heiniger, Historiker Klaus Linow, Historiker Jürg Zbinden und Christoph von der Crone, der früher bei der Buchhandlung Rohr gearbeitet hat, sind die Besitzer von Buchhandlung und Antiquariat, die hier in zwei Etappen ausgebaut wurden. Dass der Buchladen früher ein Coiffeursalon war, haben die Habitués längst vergessen. Eine „wissenschaftliche Buchhandlung mit Tiefgang“ nennt ein Psychoanalytiker, der sich die Ethnologiebücher anschaut, den Ort. Auf Gestellen liegen gut sortiert Neuerscheinungen auf. Was die Buchhandlung Caligramme etwa 200 Metern weiter entfernt an der Häringgasse für Kunstfreunde ist, das ist Klio für Historiker, Linguisten, Philosophen, Soziologen. Ein wunderbar spezialisierter Ort, in dem eine Ruhe herrscht, die dazu einlädt, sich hinzusetzen und in Bücher einzutauchen.
Ach ja, der Name der Buchhandlung. Clio schreiben die Franzosen. Aber es handelt sich beim Namen der Buchhandlung nicht um ein Automodell von Renault. Klio, Kleio oder Clio stammt aus dem Griechischen: Die Kunden, die sich den Büchergestellen mit der Beschriftung „Alte Sprachen“ zuwenden, wissen natürlich, dass Klio in der griechischen Mythologie einer der neun Musen ist. Sie ist die Muse der Heldendichtung und Geschichtsschreibung.
Klio. Buchhandlung und Antiquariat
Zähringerstrasse 41
8001 Zürich
T: 044 251 42 12
www.klio-buch.ch/
1001 Bücher
Heinz Egger
Schwarze Crocs, ein Stock, der sich hebt und senkt, aber nie hart auf den Boden aufsetzt. Ein mächtiger Mann, wie ein Berg darüber. Und er hat eine Stimme, die eine Kathedrale füllen könnte. „Ludwig der XVI. ist Miterfinder der Guillotine. Der angeblich saubersten Tötungsmaschine. Guillotin hat seine Köpfungsmaschine optimiert, indem er toten Gefangenen den Kopf abschlug.“ Bei seinen Reden hebt und senkt die rechte Hand den Stock. Der Kopf mit dem gestrickten schwarzen Käppchen mit rotem Rand bewegt sich leicht hin und her. Der lange Bart kratzt dabei über den Pullover, den ein grosses metallenes Kreuz ziert, das an einer langen Lederschnur um den Hals hängt. „Der elektrische Stuhl ist eine schreckliche Erfindung. Von innen gebraten werden. Edison hat daran mitgearbeitet. Tesla hat eine Mitwirkung abgelehnt“. Der Antiquar Jürg Zbinden raunt da und dort ein zustimmendes Ja oder hält mehr fragend etwas gegen eine Aussage. „Einstein war nicht im Manhattan-Projekt.“ „Aber Oppenheim“, ergänzt der Antiquar. „Die Atombombe auf Japan war unnötig. Dass viele amerikanische Soldaten dadurch vor dem sicheren Tod in den mörderischen Schlachten mit den japanischen Kämpfern verschont worden seien, ist eine Mähr.“
Der Redeschwall wird unterbrochen, weil ein Kunde ein Buch aus dem Schaufenster haben möchte.
„Die Japaner waren nur Meersäuli. Ein richtiges Kriegsverbrechen. Die erste Bombe war ein ungeheures Stahlkoloss. Fat Boy nannten sie ihn. Und heute baut man eine Atombombe in der Grösse eines Fussballs. Ja, auf Hitler hätte die Bombe abgeworfen werden sollen. Das wäre das richtige Mittel gewesen…“
Der Mann hat wohl viele Geschichtsbücher gelesen und sich daraus auch einiges gemerkt. Er steht vor den vielen Gestellen mit den antiquarischen Geschichtsbüchern. Daraus hat er sich vielleicht öfters bedient. Vor seinen Füssen steht jedenfalls ein weisser Klio-Sack. Ob darin weitere Werke über das Töten von einzelnen oder von Massen stecken?
Klio wurde von drei Historikern und einem Buchhändler 1989 gegründet. Das erste Verkaufslokal der wissenschaftlichen Buchhandlung war in den Räumen des heutigen Antiquariats. Antiquarische Bücher gehören seit dem Anfang zum Angebot. Heute sind Antiquariat und Buchhandlung in getrennten Räumen. Aber Kunden wechseln gern vom einen Ort zum anderen, wenn ein Buch im Antiquariat nicht vorhanden, aber neu noch gekauft werden kann. Und umgekehrt. Die Bestände stammen aus Nachlässen oder auch von Kunden, die ganze Kisten heranschaffen. Die Bücher werden auf die Verwendbarkeit im eigenen Haus geprüft. Was übrig bleibt, wird anderen Antiquaren angeboten. Auf den Müll wandere eigentlich nichts, sagt Jürg Zbinden, der auch zu den Gründungsmitgliedern gehört. Er verbringt pro Woche einen halben Tag im Antiquariat. Sonst arbeitet er als Geschichtslehrer an einem Gymnasium.
Es gibt eine treue Stammkundschaft. Wer leider nicht mehr so häufig hereinschaut, sind die Studenten. Viele Texte, die sie brauchen sind heute digitalisiert und so einfacher und billiger verfügbar.
Im Schaufenster steht ein Buch mit dem Titel „1001 Bücher, die sie gelesen haben sollten, bevor das Leben vorbei ist.“ Diese findet jeder sicher bei Klio, denn das Angebot ist gross und vielfältig. Im Parterre finden sich beispielsweise neben Geschichte viele Bände Philosophie, Reisen und Geographie. Alle dunklen Holzgestelle sind voll. Auch am Boden stapeln sich Bücher. Auf jedem Treppenabsatz hinunter in den Keller lagern sie. Im Untergeschoss drängen sich Romane, Gedichte und Theaterstücke – und dies nicht nur auf Deutsch – Literatur- und Sprachwissenschaft, Psychologie, Sozialwissenschaften, Religion, Theologie, Ostasiatica, Islam, Buddhismus und Judaica. Jedes Plätzchen ist auch hier belegt. So auch der ganz gekachelte, winzige Raum der ehemaligen Toilette. Dort befindet sich die Abteilung „Religion“. Wenig ist über Musik und das Buchwesen vorhanden.
Auch im Keller ist die Kathedralenstimme zu hören. Allerdings nicht mehr verständlich. Ich schmökere in der kleinen Abteilung Judaica. Ein dünnes Buch aus dem Verlag Morasha mit dem Titel „Das jüdische Jahr“ steht da. Es geht darin nicht um die grossen Festtage, sondern um die jüdischen Monate, die sich nach dem Neumond richten. Jeder Monatsübergang ist ein Festtag oder auch zwei! Das Buch erklärt warum. Es bietet zudem wissenschaftliche Betrachtungen, wie der Anfang des Monats festzulegen ist. Ich kann dem Werklein nicht widerstehen. Dazu lege ich ein dickes Buch mit einer Zitatensammlung auf die kleine Theke, hinter der der Arbeitsplatz des Antiquars eingerichtet ist. „Macht 20 Franken“, sagt Jürg Zbinden. Die in den Büchern eingetragenen Preise hätten eine höhere Summe ergeben.
PS (14.06.2015): Ich fand es beim Besuch nicht passend, Jürg Zbinden über den mächtigen Mann mit der Kathedralenstimme auszufragen. Im E-Mail-Austausch lüftete Jürg Zbinden aber den Schleier. Pater Ephraim ist griechisch-orthodoxer Priester und ein gelehrter Mann. „Er spricht sonst meist über theologische und kirchengeschichtliche Themen. Und da haben wir festgestellt, nachdem wir es dann nachgelesen und verifiziert haben, dass er über ein extrem profundes Wissen verfügt und seine seine Sache mit derselben Verve vertritt, wie Sie ihn erlebt haben“, schreibt Jürg Zbinden. Nun, ich dachte nicht nur wegen des Kreuzes auf der Brust des Mannes an einen Priester und machte wegen der kräftigen Stimme den Vergleich mit der Kathedrale. Ich dachte allerdings der Kleidung wegen eher an einen selbsternannten Geistlichen. Pater Ephraim möge mir verzeihen.