Auf dem Gipfel des Eigers
Michael Guggenheimer
Postleitzahl 6233. Höhe über Meer 511 Meter. 2407 Einwohner. 2,5 Millionen Bücher. Macht etwa stattliche 1040 Bücher pro Einwohner. Das ist Büron, ein Dorf im Kanton Luzern. Auf der Homepage der Gemeinde der Leitsatz „Mis Büre – Eifach schön“. Und unter den Sehenswürdigkeiten figurieren ein Verkehrskreisel, die Pfarrkirche St.Gallus, das Schulhaus Burg und dazu der Satz: „Exponiert auf einer Hügelkuppe oberhalb des Ortskerns thront das Wahrzeichen der Gemeinde Büron“. Wunderschön ländlich die breiten Farbbilder auf der Homepage. Berge im Hintergrund, gemähte Kornfelder, ein weites gelbes Rapsfeld, der lokale Lebensmittelladen und eine Storchenkolonie.
Und die 2,5 Millionen Bücher? Was machen so viele Bücher im Dorf? Wer benutzt sie? Hat wirklich jeder Bewohner so viele Bücher im Wohnzimmer stehen?
Ankommen in Büron mit dem Bus von Sursee aus. Gang durchs Dorf bis zum Dorfrand, wo neben einem Maisfeld ein grosser Gewerbebau steht, braun die Fassade, die mit an der Oberfläche abrostenden Stahlplatten verkleidet ist, lindengrün an zwei Seiten in Grossbuchstaben die Aufschrift „Kooperative Speicherbibliothek“. Hier stehen die Bücher. 2.5 Millionen Exemplare und keine Universität oder Hochschule weit und breit, kein Ausleihschalter, keine literarischen Veranstaltungen oder Buchausstellungen. Bloss sieben festangestellte Personen arbeiten in diesem langgezogenen Gebäude. Darunter sind Logistiker, Techniker, Leute in der Administration sowie eine einzige Bibliothekarin.
Neben der Bücherlagerung kümmert sich das Team um Bücherreinigungen, um das Scannen von wissenschaftlichen Beiträgen aus Fachzeitschriften oder führt kleine Reparaturen durch. Hauptaufgaben sind das Entgegennehmen von Büchersendungen, das fachgerechte Einlagern der Bücher, das Verschicken einzelner Bücher oder einzelner Beiträge an Studierende und Forschende in sechs städtischen Bibliotheken, deren Lagerflächen beschränkt sind. Hier sind Bücher gewissermassen zu Gast, sie lagern hier und sind nicht Eigentum der Bibliothek im Haus auf dem Land. Den Leseraum haben seit Eröffnung der Bibliothek im Januar 2016 erst sechs Benutzer aufgesucht. Sechs Besucher bei über 2,5 Millionen vorhandenen Publikationen? Weil die Speicherbibliothek insbesondere wissenschaftliche Zeitschriftenbeiträge für ihre Kunden in Basel, Luzern, Zürich, Bern oder St.Gallen scannt, müssen weniger Forschende nach Büron fahren: die Texte kommen bei Ihnen über den Computer an. Einzig Wissenschaftler, die 30 oder 40 Jahrgänge einer Zeitschrift Band für Band du Text für Text durchsuchen müssen, kommen nach Büron. Wer sonst ein in der Speicherbibliothek gelagertes Buch benötigt, dem wird das Buch an seine oder ihre Bibliothek per Kurier zugestellt.
Der vierstöckige Bau im Gewerbegebiet von Büron bietet in der jetzigen Phase Platz für knapp über 3 Millionen Bücher. Und er könnte einfach erweitert werden – bis zu einem Lager für 14 Millionen Bücher. Die Speicherbibliothek ist ganz anders als andere Bibliotheken. Hier kann man als Besucher nicht an langen Büchergestellen entlanggehen, hier sind die Bücher so anders gelagert und nach anderen Kriterien zusammengestellt. Speicherbibliothek. Das Wort kommt vom Speicher, was ein Lager, ein Depot, eine Vorratskammer bedeutet. Speicher, ein Ort zum Lagern. Mehrere grosse Bibliotheken, die aus baulichen Gründen Publikationen nicht mehr beliebig aufnehmen können, haben sich zusammengeschlossen, um an einem gemeinsamen Ort jene Publikationen zu lagern, die weniger häufig bis selten verlangt werden und deshalb auch ausser Haus auf Benutzer warten können. „Bücher müssen heute nicht inmitten der Stadt gelagert werden. Voraussetzung ist aber ein gut funktionierender Kurierdienst, der verlangte Bücher rasch den Lesern liefert“, sagt Mike Märki, Leiter der Speicherbibliothek.
Am Anfang stand die im Stadtzentrum stehende Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, die im bestehenden Gebäude im Sentimattquartier keine Bücher mehr aufnehmen konnte. Ueli Niederer, bis vor kurzem Direktor der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern und Kenner der internationalen Bibliothekslandschaft, war der Mann, der das Projekt initiierte. Niederer, beschäftigt sich seit Jahren mit den unterschiedlichen Systemen von Bibliotheken und der Lagerung von Büchern. Und ein solches teilautomatisiertes System sah er in Büron nahe der Autobahn A2 gelegen, vor. Seine Vision war es, dass sich Bibliotheken verschiedener Kantone zusammenschliessen und ihre Bestände zusammenlegen. Somit könnten Synergien für Lagerung, Revision, Datenbankerfassung und für den Kurierdienst der Bücher an die einzelnen Bibliotheken geschaffen werden. In derselben Lage wie die Luzerner Bibliothek war die Zentralbibliothek Zürich. Sie konnte und kann nämlich nicht mehr in die Breite und auch nicht in die Tiefe oder Höhe wachsen. Die Speicherbibliothek ist gewissermassen das etwas weiter gelegene Aussenlager. Bibliotheksbenützer in Luzern oder Zürich, die weniger häufig gefragte Publikationen konsultieren wollen, merken gar nicht, dass eine Publikation im Dorf Büron gelagert wird. Sie bestellen ihre Bücher, die sie am darauffolgenden Tag abholen können. Jeden Tag fährt nämlich ein Kurier im Lieferwagen mit den bestellten Büchern zu den Partnerbibliotheken in Luzern, Zürich, Basel und St.Gallen.
Die Speicherbibliothek ist auf den ersten Blick nichts anderes als ein Hochregallager, welches den Platz zum Verstauen effizient nutzt. Roboter transportieren in den sechs engen, 70 Meter langen und knapp 15 Meter hohen Gassen die 110’000 grauen Plastikbehälter an ihren Platz und holen sie an eine Sortierstelle unten im Gebäude, wenn sie an einer der Partnerbibliotheken gebraucht werden. Dass Besucher den inneren Bereich des Hochregallagers nicht betreten dürfen, hat einen praktischen Grund: In der Lagerhalle der neuen Speicherbibliothek herrschen Verhältnisse wie etwa auf dem Gipfel der Eigers: Nur gerade 13,3 Prozent Sauerstoff hat die Luft. Damit sichert sich die Bibliothek vor Brandgefahr ab. Denn bei so sauerstoffarmer Luft kann sich Papier nicht entzünden. Zutritt zum Lager haben nur Personen, die einen speziellem Gesundheitscheck bestanden haben. Der Brandschutz ist aber nicht die einzige Besonderheit der Bibliothek. Sie ist auch automatisiert. Roboter bringen die Bücher in grauen Plastikboxen von und zu den Regalen. Und weil von jeder Publikation Aufbewahrungsregal, Stockwerk und Box in einem Datensystem vermerkt sind, ist es möglich, dass ein Buch, das der Universität St.Gallen gehört, gut nachbarschaftlich zwischen Büchern der Zentralbibliothek Zürich gelagert ist.
Kooperative Speicherbibliothek Schweiz
Grabmattenstrasse 15
6233 Büron
T: 041 932 00 00
www.speicherbibliothek.ch
Ausgelagert
Heinz Egger
Darf ich vorstellen: „Voltaire“. Georg Brandes hat mich geschrieben, erschienen bin ich bei E. Reiss in Berlin 1923. Ich kann es immer noch kaum fassen. So etwas, das hätte ich nie gedacht. Immerhin bin ich 94 Jahre alt und habe schon Jahrzehnte im dritten Untergeschoss der Zentralbibliothek Zürich gestanden. Plötzlich wurde ich aus dem Gestell geholt und mit anderen zusammen in einen Wagen gepackt. Endlich, dachte ich, wieder an die Luft. Aber dem war nur teilweise so. Eine dicke Folie wurde knarzend um den Wagen geschlagen. Das Licht wurde wieder ganz trüb.
Der weitere Weg ist mir völlig rätselhaft. Aus der Bibliothek hinaus, kurz grelles Licht, dann in einen Lastwagen hinein. Festgezurrt reisten wir. Ziel unbekannt. Wie viele Kollegen an Bord waren, weiss ich nicht. Wir hatten ja keine Sicht.
Einige enge Kurven und eine kurze Rückwärtsfahrt deuteten an, dass das Ziel nah war. Und richtig, alsbald wurde der Verschlag geöffnet. Mein Wagen wurde hinausgezerrt, ratterte über eine Rampe und landete in einem Haus. Es war ganz neu, es roch nach frischem Beton. Etwas unsanft war die Ankunft, andere Gestelle wurde an meines herangeschoben, ja gedrückt. Erschütterungen noch und noch. Wieviele Bücher angeliefert worden sind? 12‘000 vielleicht?
Stundenlanges Warten im gedämpften Licht. Keine Ahnung, was kommen wird. Immerhin war ich in angenehmer Gesellschaft. Links von mir ein gebildeter, etwas dicklicher Herr, rechts von mir ein spindeldürrer Lyriker. Ich überragte alle.
Immer ist etwas Lärm um uns herum. Wagen werden gerückt. So kommt denn auch meiner wieder in Bewegung. Die Folie wird aufgeschnitten. Endlich Licht, wenigstens künstliches. Behandschuhte Hände nehmen mich behutsam vom Wagen und legen mich auf ein Förderband. Zuerst kitzeln mich Kunststoffstreifen, dann, wie eklig, erfassen mich rotierende Pinsel aus Rosshaar und streichen intensiv über den Rücken, den Schnitt und meine Deckel. Dazu tost ein wütender Wind. Immerhin bin ich wieder ganz entstaubt, als ich unter Kunststoffstreifen hindurch aus der Maschine befördert werde.
Wieder Wartezeit. Und dann verliere ich meinen Namen, meine Signatur wird wertlos. Bloss noch ein Strichcode bin ich, eine Nummer, die verbunden ist mit der Nummer meines künftigen Behälters. An der Packstation trennen sich die Wege. Graue Behälter in zwei Grössen rollen heran. Weil ich gross bin, komme ich in einen höheren Kasten. „Beep“ ertönt. Auf dem Bildschirm erscheint ein Plan der Kiste: fünf Felder. Mein Platz ist in Feld zwei. Eingeklemmt zwischen einem nach altem Leder riechenden Schmöker und einem nach frischem Leim duftenden Leineneinband harre ich der Dinge.
Ein Ruck und unser Behälter beginnt zu fahren, ein leichtes Holpern über die Rollen der Förderanlage, Seitwärtsbewegung auf Gummibändern, dann wieder die Rollen. Plötzlich ein abrupter Stopp. Hinter uns schliesst sich eine Türe. Dann geht vorne eine auf. Ich ringe plötzlich nach Atem. Da ist kaum Sauerstoff, eine Kerze würde bestimmt erlöschen! Ich fühle mich wie auf 4000 Metern Höhe. Wir landen auf einem Roboter. Zwei Kisten nimmt er auf, dann setzt er sich in Bewegung. In gemächlichem Schritttempo gleiten wir zwischen den Hochregalen durch. Gut 14 Meter ragen sie hoch, knapp 70 Meter lang sind sie. Das Lager ist fast 20 Meter breit. Die Temperatur ist angenehm, etwa 22 Grad. Es ist mit etwa 45% Luftfeuchtigkeit trocken. Keine Gefahr also, dereinst zu (er-)grauen.
Stopp. Wie in einem Lift fahren wir höher und höher. Ich weiss nicht in welche Etage. Zwei Behälter passen in der Tiefe ins Gestell. Meiner ist der vordere, mit furchterregendem Blick in die Tiefe. Das Regalbediengerät entfernt sich, das Summen des Elektromotors wird schwächer.
Ich suche das Gespräch mit dem Ledernen. Ich bin überrascht, nun neben einem Katholiken zu stehen. Er stammt aus der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern. Der frisch Geleimte hatte seinen Platz in der Zentralbibliothek Solothurn. Nach und nach wird klar, dass auch aus der Universitätsbibliothek Basel, der Universitätsbibliothek St. Gallen und aus der Hauptbibliothek der Universität Zürich Bücher da sind.
Ruhig ist es nie in dem riesigen Raum, immer ist Bewegung in der Halle. Auch mein Behälter wird wieder abgeholt. Bloss zwei Minuten dauert es, bis wir durch die Schleuse wieder auf den Rollen zu den Konfektionierungsplätzen gelangen. Ob ich „Ausgang“ bekomme? Leider nicht. Der Lederne wird herausgehoben. An seiner Stelle stecken flinke Hände einen dicken Schaumstoffklotz. Da kann ich mich wenigstens an etwas Weiches anlehnen. Wir fahren gleich wieder zurück an unseren Standplatz.
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