Suite de la visite
Michael Guggenheimer
„Librairie l’étage“. „Die Buchhandlung im Obergeschoss“. So heisst der Buchladen. Das Etagengeschäft für Bücher an der Rue du Lac in Yverdon-les-Bains. Man könnte schon lange in Yverdon gelebt und die Buchhandlung verpasst haben. Gewiss, die Buchhandlung Payot an der Place Pestalozzi, der Platzhirsch am Ort mit den breiten Schaufenstern, fällt eher auf. Und Payot ist grösser. Dafür ist die „Librairie l’étage“ ein ganz besonderer, ein sehr spezieller Ort mit einer speziellen Atmosphäre. Ein etwas bescheiden wirkendes Schild an der Hausfassade macht darauf aufmerksam, dass sich in diesem Haus eine Buchhandlung befindet. Beim Hauseingang befindet sich ein Schaukasten mit belletristischen Neuerscheinungen. Noch bevor der dritte Band von Elena Ferrantes grossem mehrbändigen Roman in deutscher Sprache erschienen ist, ist hier der dritte Band in Französisch ausgestellt. An der Haustür ein Plakat mit der Aufschrift „Vous ne rêvez pas. Vous lisez“. Man geht durch einen langen engen Gang an beleuchteten Vitrinen mit Büchern entlang, kommt bei einer gewundenen Treppe an, steigt rechts zum ersten Stockwerk – und nicht zu den Wohnungen im Haus – hinauf, geht an einem Tisch vorbei, der mit vielen Veranstaltungsprospekten bedeckt ist, öffnet eine Türe und befindet sich an einem zauberhaften Ort, in dem alles etwas improvisiert aber auch liebevoll eingerichtet ist. So haben Buchhandlungen früher ausgesehen. Tische vollbeladen mit Büchern, man darf und soll etwas wühlen, man soll die Möglichkeit haben, das zu finden, was man gar nicht gesucht hat. Etwas ungewohnt für die Schweiz ist, dass der Raum unrenoviert ist. Ungewohnt und sympathisch in einem Land, in dem man häufig den Eindruck hat, so vieles sei überrenoviert. Ob das ein Unterschied ist zwischen der Deutschschweiz und der französischsprachigen Schweiz?
Das ist die Etagen-Buchhandlung, zwei Räume. Ein erster länglicher Raum mit der Verkaufstheke, hinter der sich ein kleiner Arbeitsraum befindet . Ein Durchgang auf der rechten Seite mit einer Aufschrift, die an Museumsbesuche erinnert. „Suite de la visite“ steht da geschrieben. „Fortsetzung des Rundgangs“ würde dies in einem Museum auf Deutsch heissen. Beim genauen Hinschauen bemerkt man, dass der zweite Raum im Nebenhaus liegt. Die Altstadthäuser sind gedrungen und eng.
Im ersten Raum etwas gedrängt die Kinder- und Jugendbücher, eine grosse Auswahl an Comics und Graphic Novels, die hier Bandes dessinées heissen, dann noch Reisebücher, Literatur zur Oekologie und Wanderbücher. Ganz vorne zu beiden Seiten der Verkaufstheke die Abholfächer, Ablageflächen für bestellte Bücher. Jeweils unter dem untersten Buch einer Beige von gleichen Büchern lugt ein weisser handgeschriebener Zettel heraus mit dem Namen des Lehrers, der das Buch als Klassensatz bestellt hat und darunter der Name des Autors und der Titel des Buchs. Professeur Schertenleib vom Gymnasium hat das Buch „Un juif tout à fait ordinaire“ von Charles Lewinsky bestellt. Noch wurden nicht alle Exemplare abgeholt. Professeur Martin Vogel hat für seine Klasse Bernhard Schlinks „La liseuse“ bestellt. Auch hier sind noch nicht alle Exemplare weg. Gleich daneben weitere Schullektüre: Moderne Klassiker. Franz Kafka, Heinrich Böll, Max Frisch und Dürrenmatt auf Deutsch. Ein Glück für die Betreiberinnen der Buchhandlung unter der Leitung von Céline Besson, dass die Lehrer des Gymnasiums hier ihre Klassensätze bestellen. Das bringt junge Leute in den ersten Stock dieser etwas versteckt liegenden Buchhandlung. Und das bringt Umsatz. Die Gymnasiasten betreten die Buchhandlung gehen schnurstracks auf die Theke zu, nennen den Titel des Buchs und den Namen des Lehrers, bezahlen das verlangte Buch und verlassen die Buchhandlung. „Wenn sie dann mehrmals hier gewesen sind, dann beginnen sie sich umzuschauen“, meint eine der drei Buchhändlerinnen, die darob staunt, dass man eine Buchhandlung so schnell wieder verlassen kann.
Nicht verpassen sollte man den zweiten Raum, auf den die Tafel „Suite de visite“ hingewiesen hat. Ein quadratischer Raum, er liegt im Nebengebäude, man sieht der niedrigen Decke, den etwas altersmüden Deckenbalken und den Wänden an, dass es sich um ein sehr altes Haus handelt. Ein gemütlicher Raum mit einem Sofa und einem alten Sessel, mit rechteckigen Tischen unterschiedlicher Grösse, einem Nachttisch in der Mitte des Raums, alle dicht beladen mit Büchern, an den Wänden volle Büchergestelle, manche aus dunklem Holz, andere aus Metall. Hier hat kein Designer mitgeplant, hier haben praktische Ueberlegungen eine Rolle gespielt und der Wunsch, das Geld primär in Literatur anzulegen, weshalb das Mobiliar etwas zusammengewürfelt wirkt. Die Büchergestelle sind dazu da, Bücher zu tragen, sie müssen nicht schön aussehen. An einer Wand stehen Klappstühle für die nächste Veranstaltung bereit. Hier ist die Belletristik ebenso zuhause wie die Politik, die Geschichte und die Kunst. Eine reiche, sehr persönliche, sehr literarische und gesellschaftlich engagierte Auswahl an Büchern, die die drei Buchhändlerinnen Sylviane Balka, Cyrielle Cordt-Möller und Céline Besson treffen. Alle ins Französische übersetzten Bücher der verfolgten türkischen Autorin Asli Erdogan liegen hier auf, man fühlt sich mit ihr verbunden, hat Lesungen organisiert, an denen über die Lage der Autoren und Journalisten in der Türkei gesprochen wurde.
Die Librairie l’étage bietet ihren Kunden ein Bücherabo an, es heisst „abonnement découverte“: für Fr. 150.- im Jahr zwölf Taschenbücher, jeden Monat ein Taschenbuch. Weshalb man ein solches Abo abschliessen soll? „Aus Neugierde und Lust auf Neues. Um Autoren kennenzulernen, von denen man noch nichts gelesen hat, deren Namen man bis anhin nicht kannte. Oder als Geschenk für jemanden, den man mag.“ Immer wieder ein rotes Herz aus Papier oder ein Notizzettel mit dem Namen einer der Buchhändlerinnen auf den Büchern, die sie besonders zur Lektüre empfehlen. So viele Bücher in diesem Raum, unter den Tischen liegen Schachteln mit Büchern, Nachschub für Leserinnen und Leser. „Arrêter de lire augmente les risques d’ennui mortel“ heisst es auf einem Plakat am Fester zum Hof. Sylviane Balka, die daran ist, neue Bücher auszupacken und einzuordnen, ist seit 15 Jahren mit dabei. Und Cyrielle Cordt-Moeller, Absolventin des Lehrgangs Literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Biel hat einen Roman geschrieben, der noch zuhause in der Schublade liegt. Wer weiss, eines Tages könnte ihre Kollegin den neuen Roman auf einen der Tische mit den Neuerscheinungen legen. Die Buchpremiere müsste dann gewiss im Etagengeschäft stattfinden.
Librairie l’étage
Rue du Lac 44
1400 Yverdon-les-Bains
T: 024 425 10 41
www.l-etage.ch
Sie träumen nicht …
Heinz Egger
„A l‘étage supérieur de ce wagon…“ tönt aus den Lautsprechern des Zuges auf der Heimfahrt von einem Ausflug. Nochmals steigen die Erinnerungen an einen begeisternden Besuch in der Librarie l‘étage in Yverdon-les-Bains hoch.
Ein geflochtener Korb mit Büchern lädt zum Schmökern ein. Soldes heisst es auf dem Schild im Korb. An der Wand ein gelbes Schild mit dem treppenartigen Pfeil nach rechts zum Eingang, darüber weiss, wieder wie eine Treppe gestaltet der Name der Buchhandlung: L‘étage. Ein Schaukasten in der Wand mit gelber Umrandung, in der oben mit Versalien Librairie steht, gefolgt von einem Pfeil.
Da muss doch nach so viel Hinweisen etwas dahinter stecken. Nach der Eingangstür folgt ein langer Gang mit einer ebenso langen Vitrine zur Linken. Die Bücher darin scheinen schon länger dort gestanden zu haben. Ist es Staub oder ist es verblichenes, farbiges Papier, das den Blick irritiert?
Am Ende des Gangs fällt Licht von oben herein. Eine enge, steile Treppe führt hinauf in die erste Etage, wo Plakate für kulturelle Veranstaltungen an der Wand kleben und ein hell erleuchteter Eingang die Buchhandlung ankündigen. „Vous ne rêvez pas…“ stand auf der Eingangstüre. Nein es ist kein Traum, nach der Ladentür öffnet sich ein breiter Raum. In der Tiefe die fast raumbreite Ladentheke. Ihre Front ist blau gestrichen, metallene Griffe prangen an den unzähligen Schubladen. Wozu dieser Korpus einmal gedient haben mag? Heute sind die meisten Schubladen leer. In einigen stehen Bücher in anderen Prospekte: „Servez-vous“ heisst da die Einladung, zuzugreifen.
Links und rechts davon liegen in Gestellen jene brochierten Bücher, die die Schülerinnen und Schüler in ihren Literaturstunden lesen, beispielsweise: „Doktor Pascal“ von Zola, „Caligula“ von Camus, „Die Schule der Frauen“ von Molière, ein Buch mit drei Erzählungen von Flaubert. – Es sind immer noch die gleichen Werke, wie zu meiner Jugendzeit.
„Vous ne rêvez pas, vous lisez“ geht der Spruch von der Türe im Parterre wieder durch den Kopf. Und in der Tat finde ich mich alsbald mit einem Buch in der Hand wieder: „S‘enfuir“. Es ist die wahre Geschichte der Entführung von Christophe André, wie sie 1997 in Inguschetien geschehen ist. Der Zeichner Guy Delisle hat sie aufgeschrieben und gezeichnet. Blau, Grau, Braun, Schwarz und Weiss sind die düsteren Begleiter im Buch.
Gleich beim Eingang zur Linken ist eine grössere Sammlung von Graphic Novels ausgestellt. Da sind die Westschweizer uns einiges voraus. Die „Bandes dessinées“, kurz „bédé“ genannt, haben ihren festen Platz.
Aus „La petite bédéthèque des savoirs“ steht da die Geschichte der Prostitution, geschrieben von Laurent de Sutter, gezeichnet von Agnès Maupré. Und daneben „Le Tatouage“ von Jérôme Pierrat, gezeichnet von Alfred. Die wachsende Reihe, die verschiedenste Themen aufnimmt, umfasst etwa 16 Bände.
Gleich nach den „Bédés“ steht ein Sofa, das mit einem orangen Tuch bedeckt ist. Es nimmt den Ton von orange gestrichenen Säulen und der Türumrandung auf. Etwas durchgesessen ist die Sitzgelegenheit, aber das stört mich nicht. Ich kehre noch mehrmals zum Sofa zurück. Ich entdecke wunderbare Bücher für Kinder und Jugendliche. Eines erklärt die Dinge der Welt. Da ist gezeichnet und benannt, was unter der Erde, auf der Erde und in der Luft ist – aber nicht nur Lebendiges, sondern auch Technisches. Ein herrliches Buch, das zum Erzählen einlädt und dem Kind aber auch die Möglichkeit bietet, selber seinen Wissensdurst zu löschen. Dann ein Buch mit dem poetischen Titel „La Mélodie des Tuyaux“. Auf dem Titelbild sitzen ein Mädchen und ein Junge, der Gitarre spielt, auf einem hohen Rohr. Die Illustrationen von Benjamin Lacombe sind begleitet von einer CD, auf der Olivia Ruiz die Musikgeschichte liest und vier Lieder dazu erklingen.
Geradezu verliebt habe ich mich in eine Reihe von Büchlein für die ganz Kleinen. Auf der Rückseite steht: ein Bild, ein Wort, ein Klang. Das Büchlein mit sechs Vögeln in ihrem Lebensraum haben es mir besonders angetan. Einfache, aber klare Zeichnungen von Marion Billet und dazu die Möglichkeit durch Berühren einer metallenen Fläche den Vogel zu hören: Die Amsel flötet im Geäst, die Taube gurrt auf dem Dach, die Meise singt im Strauch. Hier ist ein Eldorado für junge Leseratten. Hier lernen sie das Buch lieben, bestimmt.
Ich muss mich richtiggehend von den Büchern des ersten Raums losreissen, um auch noch den anderen Teil der Buchhandlung zu sehen. Durch einen Türrahmen gelangt man in eine Art verglaste Veranda eines anderen Hauses. Zur Linken eine kleine Teeküche, geradeaus in einer Nische die zahlreichen Kochbücher. Hier ist Tageslicht. Dieses dringt kaum in den grossen nach rechts erreichbaren Raum. Da ist ein Türrahmen und ein quadratisches Fenster. Dieser grosse Raum liegt in zwei Gebäudeteilen, wie der Bodenbelag und die kleine Stufe verraten.
Auch in diesem Raum steht ein schönes, altes Sofa. Daneben steht ein Nachttischchen mit brauner Marmorplatte, darauf zwei dicke Bücher mit Schuber. Das eine stammt aus dem Taschen-Verlag und handelt von der modernen Kunst, das andere aus dem Citadelle-Verlag von jener des 19. Jahrhunderts. Auf dem Salontisch vor dem Sofa liegt ein grünes Buch mit durchbrochenem Umschlag. Durch die ausgestanzten Formen leuchten gelbe Buchstaben auf schwarzem Grund. Der Buchtitel: Livres animés. Gaëlle Pelachaud behandelt darin unter dem Untertitel „zwischen Papier und Bildschirm“ die Geschichte und die Techniken der „bewegten“ Bücher, also Werken, in denen sich nicht nur blättern lässt, sondern auch etwas bewegen, beispielsweise eine Scheibe zu drehen ist oder beim Öffnen der Seiten sich etwas dreidimensional entfaltet. Sie zeigt mit vielen Bildern auch eigentümliche Kreationen und die Perspektiven solcher Bücher.
Mit diesen drei der Kunst gewidmeten Büchern in der Hand, wäre ein Nachmittag sicher schnell vorüber. Und dabei stehen noch so viele andere in diesem Raum!
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