Die Welt in Zofingen
Michael Guggenheimer
Kaum ist die Frankfurter Buchmesse vorbei, findet in der 11 000 Einwohner zählenden Kleinstadt Zofingen in der Schweiz ein kleines Literaturfestival statt, das mit der über 350 000 Besucher aufweisenden grössten Buchmesse der Welt zusammenhängt. Das jeweilige Gastland der Frankfurter Buchmesse ist nämlich eine Woche nach dem Gastspiel in Frankfurt Gast in Zofingen. So gross wie in Frankfurt kann der Auftritt in Zofingen allerdings nicht sein. Es ist eine Präsenz des Gastlands im Kleinen: Ein Fenster zur Literatur eines anderen Landes wird dann während eines Wochenendes geöffnet. „Die Zofinger Literaturtage sind dabei so etwas wie der ‚Chill-out-Room’ des wichtigsten Branchenevents der Welt. Nach den pulsierenden und zum Teil auch hektischen Messetagen in der deutschen Metropole geht es in der Stadt Zofingen um einiges ruhiger und entspannter zu“, meint Hans Ruedi Hottiger, Stadtpräsident von Zofingen.
Eine Gruppe von Literaturfreunden lädt seit dem Jahr 2006 Autoren aus dem Gastland der grossen Buchmesse zu Lesungen und Gesprächen nach Zofingen ein, stellt ein Programm zusammen und präsentiert Neuerscheinungen aus dem Gastland in deutscher Sprache. Und so anders als an den grossen Veranstaltungen in Frankfurt: In Zofingen kann man mit den Gastautoren nach der Lesung bei einem Glas oder sogar beim Essen zusammensitzen, sich unterhalten, Fragen stellen. Dazu nochmals der Stadtpräsident: „Hier kann man in fast intimem Rahmen der Literatur, Kultur und Sprache des Gastlandes begegnen. Dies auch darum, weil die Literatur in Zofingen auf wirklich enge Tuchfühlung zum interessierten Publikum geht“. Autoren aus Argentinien und Brasilien, aus Indonesien, Finnland, China und Russland waren schon in Zofingen zu Gast. Dieses Jahr waren die beiden Literaturregionen Niederlande und das belgische Flandern zu Gast in der grossen Stadt und in der Kleinstadt.
Die Stadtbibliothek Zofingen, im ehemaligen Lateinschulhaus untergebracht, war einer der Durchführungsorte der Literaturtage. Ein Saal im Hotel Zofingen ein anderer, ein weiterer die lokale Buchhandlung. Alle drei Orte sind in der Altstadt und in Gehdistanz voneinander entfernt. In der Buchhandlung sowie in der Stadtbibliothek liegen Bücher niederländischer Autoren auf, in der Bibliothek dieses Jahr zusätzlich eine „Literaturliste Niederlande und Flandern“. Gewissermassen ein Satellit ist das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg, wo drei Tage vor Beginn der Literaturtage eine abendliche „Kooperationsveranstaltung“ zum Thema „Was können wir von den Niederländerinnen und Niederländern lernen?“ stattgefunden hat. Die Leiterin der Kulturstiftung Pro Helvetia und eine Übersetzerin aus den Niederlanden verglichen im Gespräch die Literaturförderung in den beiden Ländern. Schade nur, dass jene Person, die das „holländische Modell“ vorstellte, weder in den Zahlen noch in der Vergabepolitik des niederländischen „Letterenfonds“ wirklich sattelfest war. Zuvor hatte die Schriftstellerin Lot Vekemans als Kostprobe zeitgenössischer holländischer Literatur ihren ersten Roman „Ein Brautkleid aus Warschau“ vorgestellt.
Knappe 100 000 Franken stehen den Zofingern für ihre Literaturtage zur Verfügung. Stadt und Kanton sowie die beiden grossen Industrieunternehmen am Ort sind die Hauptsponsoren des Trägervereins, denen sich jeweils weitere Gönner anschliessen. Programmleiter ist Autor Markus Kirchhofer. Mit den Niederländern und Flamen als Gäste hat er dieses Jahr seine ersten Literaturtage absolviert. Jede Lesung leitet er mit fünf Sätzen aus dem Buch des jeweiligen Gastautors ein. Es sind Sätze, die einen Kern des Buches aufweisen. Präsident des Trägervereins ist Buchhändler Claudius Mattmann. Seine Buchhandlung ist gleichzeitig Ticketschalter und Durchführungsort einer Lesung.
Während der Hotelsaal, in dem drei Lesungen stattfanden, etwas nüchtern wirkt, strahlt die Stimmung in der Bibliothek und im Buchladen Wärme aus. Gerard van Gemert, dessen Vater „fast Mitglied der niederländischen Nationalelf“ geworden ist, tritt in der Stadtbibliothek auf. Er ist Autor von vierzig Jugendbüchern, in denen es immer wieder um Fussball geht. Die Haupthelden seiner Bücher sind die beiden Jungens Stijn und Storm, sein umfangreichster Jugendroman handelt von einem jüdischen Jungen in Amsterdam zur Zeit der deutschen Besetzung der Niederlande. Und natürlich ist der Junge ein Fussballfan. Van Gemert hat einen Fussball dabei. Und ein Trikot der holländischen Nationalelf. Und er kann eine Stunde lang witzig über seinen Werdegang und über sein Schreiben erzählen. Es muss nicht immer eine Lesung sein.
Ebenso wie Lot Vekemans und Gerbrand Bakker spricht van Gemert fliesend Deutsch, muss nur selten ein Wort in der Fremdsprache suchen. Vekemans, Autorin von Theaterstücken, die im deutschsprachigen Raum zum zeitgenössischen Repertoire vieler Theater gehören, hat gerade wegen der vielen Auftritte in Deutschland gezielt Deutsch gelernt. Im Dezember wird ihr Stück „Judas“ am Theater am Neumarkt in Zürich gespielt. Gerbrand Bakker, besonders mit seinem Buch „Oben ist es still“ bekannt geworden, hat neben seinem Wohnsitz in Amsterdam einen in der Eifel, weshalb auch er regelmässig Deutsch spricht. Sie stellt ihren ersten Roman vor, er seine zum Teil sehr persönlichen Reflexionen zu seinem Leben und Schreiben. Rund 60 Zuhörer finden sich zu jeder Lesung ein, bei einer etwas lang geratenen Präsentation seiner Comic-Biografie des Malers Hieronymus Bosch spricht Autor und Zeichner Marcel Ruijters Holländisch, was einen Klang Niederlande in den Hotelsaal bringt. Marja Clement, die zum Thema „Die niederländische Sprache – gestern, heute, morgen“ spricht, belässt es bei einer Einführung, die die Unterschiede zwischen dem Flämischen und dem Niederländischen leider ebenso auslässt wie die Einflüsse der Einwanderer aus den ehemaligen niederländischen Kolonien auf die Sprache Hollands.
2017 ist Frankreich Gastland an der Frankfurter Buchmesse. Vom 27. Bis zum 29. Oktober werden dann Autoren aus Frankreich in Zofingen lesen und diskutieren. Schade nur, dass auch im kommenden Jahr just am selben Wochenende das Zürcher Literaturfestival „Zürich liest“ stattfindet. Oder doch nicht? Denn wenn die Zürcher in Zürich mit Literatur beschäftigt sind, dann bleiben die Literaturtage Zofingen so wunderbar überschaubar und intim, was eine ihrer Stärken ist. Einzig etwas wäre noch verbesserungsfähig: Snacks und Getränke an den Leseorten wären nicht schlecht.
Verein Literaturtage Zofingen
Kirchplatz 14
4800 Zofingen
T: 062 751 13 05
www.literaturtagezofingen.ch
Chill-out-Room
Heinz Egger
Der zweite Tag der Zofinger Literaturtage beginnt ganz familiär. Man trifft sich in der Buchhandlung Mattman am Kirchplatz 14. In den heimeligen, von Holz und niedrigen Decken geprägten Räumen gibt es Kaffee und Gipfeli – und natürlich jede Menge Bücher. Das Literaturfestival wird im Anmeldebrief des Gönnervereins als Chill-out-Room der Frankfurter Buchmesse beworben. Deshalb liegen viele der in Frankfurt präsentierten Titel der Ehrengäste Niederlande und Flandern auf. Nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Niederländisch. Und gerade diese Sprache hören die Gäste schon am frühen Morgen, einerseits von den Autorinnen und Autoren, andererseits von den aus Zug, Aarau und anderswo hergereisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den Literaturtagen.
Es herrscht ein natürliches Beieinander und Nebeneinander. Auch die Leute des Organisationskomitees sind da. Mir fällt auf, dass auch einige junge Leute ein Namensschildchen tragen. Und die Projektleiterin, Johanna Bucheli, schmunzelt, als sie sagt: „Ja, die Jungen drücken nach.“ Und die gemeinte Jana Faes strahlt. Sie ist in der Administration tätig. Sie verkauft mir auch die Eintrittskarten zu den Veranstaltungen: eine hübsch herbstlich gestaltete Visitenkarte. Und was treibt Jana Faes an, in der Organisation mitzuwirken? Die Literatur und das Buch – wie könnte es anders sein.
Zum neunten Mal gehen dieses Jahr die Literaturtage über die Bühne. Und sie bringen erneut die Gastnation der Frankfurter Buchmesse nach Zofingen. Das Logo der Messe als Partnerin prangt auf der Rückseite der Eintrittskarte. Die dreitägige Veranstaltung steht unter dem Patronat der Botschaft des Königreichs der Niederlande.
Die ersten drei Veranstaltungen des Samstags finden in der Stadtbibliothek statt. Die Bibliothek ist in der ehemaligen Lateinschule eingerichtet und wurde 1693 gegründet. Dass da alte Bestände vorhanden sind wird niemand bezweifeln. Dass darunter aber Perlen der niederländischen Druckkunst aus dem „Goldenen Zeitalter“ im 17. Jahrhundert sind, zeigt Cécile Vilas, die Bibliotheksleiterin. Vor ihr auf dem Tisch liegen alte Bücher. Riesig sind die Gegensätze in der Grösse: Da liegt ein mächtiger Band mit einer Kartensammlung neben taschenbuchgrossen, dicken Büchlein. Während die einen Drucker, wie die Familie Plantin oder Blau auf allerhöchste Qualität bedacht waren, versuchten andere, wie die Familie Elsevir, das Buch in handlichen Formaten breiteren Schichten zugänglich zu machen.
Die Bibliothek hat für die Literaturtage im Eingangsbereich eine schöne Anzahl Bücher zu den Niederlanden ausgestellt und eine umfangreiche Liste von verfügbaren Medien für Jung und Alt zum Thema zusammengestellt.
Die niederländische Sprache, so wird hin und wieder gesagt, sei unseren Dialekten nahe. Dass dem nicht so ist, erläutert Marja Clement, Dozentin an der Universität Amsterdam, mit Beispielen und Informationen zur Sprachgeschichte. Den Titel der Veranstaltung „Die niederländische Sprache – gestern, heute, morgen“ erfüllt sie allerdings erst durch eine Zuhörerfrage: Wie wird sich die Sprache weiterentwickeln? Für Marja Clement ist klar, dass die Vereinfachung der Sprache weitergehen werde. Englisch ist da schon einiges weiter. Getrieben werde der Prozess unter anderem durch die Migration.
Das Publikum ist seit der ersten Veranstaltung deutlich angewachsen. Es ist ein sehr interessiertes Publikum und hat eifrig Fragen gestellt. Das ist so anders als das, was ich sonst bei solchen Veranstaltungen erlebt habe. Ich selber bin nach dem „Dauerlauf“ seit den frühen Morgenstunden etwas müde und hungrig. Ich gehe hinaus an die frische Luft, setze mich zum Mittagessen hin und ergänze meine Notizen. – Gerard van Gemert, der erste Autor des Nachmittags, und Markus Kirchhofer, der Programmleiter der Literaturtage Zofingen und Moderator von Gemert, mögen mir das verzeihen.
Gestärkt bin ich dann bereit, in die Welt von Hieronymus Bosch einzutauchen, respektive in die Bilderwelten von Marcel Ruijters, der das Leben von Hieronymus Bosch als Comic gezeichnet hat. Die Anfrage, so etwas zum 500. Todestag von Hieronymus Bosch zu machen, habe er schnell mit Ja beantwortet, vielleicht etwas zu schnell, wie er bei den Recherchearbeiten herausgefunden habe. Marcel Rujiters gibt auf Niederländisch, übersetzt durch den Moderator Michael van Orsouw, einen faszinierenden Einblick in seine Arbeitsweise und wie er die vielen Lücken im Lebenslauf von Hieronymus Bosch mit Fantasie und dem Studium von Boschs Werken geschlossen hat. – Wer seinen Comic ganz verstehen will, muss eine Menge über die Bilder von Hieronymus Bosch und die Symbolik wissen! Ja schade, das Werk ist auf Deutsch bereits vergriffen.
Es ist warm geworden im gut besetzten Saal des Hotels Zofingen. So strömen die Gäste rasch hinaus. Ganz am Rand der vordersten Sitzreihe bleibt eine schwarz gekleidete Frau, sie hat ihre Beine ausgestreckt übereinander geschlagen und schaut sinnend vor sich hin. Es nimmt niemand Notiz von ihr. Dabei ist sie die Hauptperson der nächsten Lesung: Lot Vekemans. Sie wird von Martin Zingg moderiert. Eigentlich ist Lot Vekemans als Theaterautorin bekannt. Eben wird eines ihrer Stücke in New York aufgeführt werden. Sie reist hin zu Premiere – aber nur als Zuschauerin, wie sie betont. Und wie kommt sie dazu, einen Roman zu schreiben? Während der Arbeit an einem Stück für eine Theatertruppe steht sie an. Sie weiss nicht weiter und beginnt für sich in Prosa zu schreiben, warum eine der Personen nicht mehr reden will. Wer dieses Prosastück zu lesen bekommt, bekräftigt Lot Vekemans darin, daraus einen Roman zu entwickeln: Ein Brautkleid aus Warschau.
Die Begrüssung zu jeder Veranstaltung übernimmt Markus Kirchhofer. Er hält sich kurz, er stellt den Moderator vor und liest fünf Sätze aus dem vorzustellenden Werk. Sätze, die ihn beeindruckt haben. Und zum Schluss überreicht er der Autorin oder dem Autor und dem Moderator ein kleines Geschenk gemäss dem Thema der Frankfurter Buchmesse „Was uns verbindet“. Eine Verbindung Schweiz-Holland ist der Käse. So erhalten die Autoren ein „Racletteöfeli“ für eine Person und Käse, die Moderatoren eine Packung Fondue-Käse.
Der wohl bekannteste zeitgenössische niederländische Autor Gerbrand Bakker, dessen Roman „Oben ist es still“ in 32 Sprachen übersetzt worden ist, sitzt als nächster mit Hans Ulrich Probst am Tisch. Von ihm ist eben „Jasper und sein Knecht“ auf Deutsch erschienen. Dieses Buch ist kein Roman, auch kein Tagebuch. Gerbrand Bakker sinniert über sich und die Schriftstellerei. Grundlage sind Aufzeichnungen der vergangenen Jahre. Schonungslos offen berichtet Gerbrand Bakker über sich. Seine knackige, präzise, aber auch gezielt einfache Sprache übte Gerbrand Bakker als Untertitelsetzer für Filme. Da geht es immer darum, das Wesentliche hinüberzubringen.
Das Publikum honoriert alle Lesungen mit Fragen und ausgiebigem Applaus. Und auch für die Veranstaltungen am Abend wird der Kreis der Teilnehmenden kaum kleiner. Den langen Tag beschliesst eine Führung mit einem Nachtwächter durch die historische Altstadt mit Anekdoten und skurrilen Geschichten.
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