Lesen mit Aussicht
Michael Guggenheimer
Fr. 230.- im Jahr? Das ist prohibitiv! Der das sagt, ist ein Büchersammler, Besitzer zweier privater Bibliotheken, der selber nur dann eine Bibliothek aufsucht, wenn es sich nicht umgehen lässt. Fr. 230.- im Jahr kostet nämlich die Mitgliedschaft bei der Museumsgesellschaft Zürich. Studenten zahlen allerdings nur Fr. 30.- im Jahr. Wer die Gebühr aufbringt, dem stehen im Herzen der Stadt am Limmatquai 60 eine 130 000 Bücher umfassende Bibliothek sowie ein schöner Lesesaal zur Verfügung, der an sieben Tagen die Woche zugänglich ist. Wunderbar ist die Präsentation von Neuerscheinungen im Bibliothekssaal: Die Bücher sind wie kleine Denkmäler aufgestellt, bilden eine kleine Installation. Man nimmt sie weg, schaut sie an und stellt sie wieder in aufrechter Position hin, getraut sich nicht sie einfach hinzulegen. Nicht minder anregend die vielen Zeitschriften und Tageszeitungen, die hier zur Lektüre aufliegen: 70 Zeitungen aus der ganzen Schweiz: von der ‚Aargauer Zeitung‘ bis zum ‚Grigione Italiano‘ , 30 ausländische Zeitungen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Grossbritannien und den USA: Vom ‚Canard enchaîné‘ bis zu ‚El Pais‘ sowie Zeitschriften aus allen Gebieten und in diversen Sprachen: von der ‚Annabelle‘ bis zu den ‚Kant-Studien‘ vom ‚Spiegel‘ bis zum ‚New Yorker‘ und zur „New York Review of Books“, von der ‚Schweizerischen Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge‘ bis zum ‚Harvard Mental Health Letter‘.
Für Studierende stehen ein Salon und im grossen Lesesaal der erste grosse Tisch zur Verfügung. Die schönsten Leseplätze an der Fensterfront mit Sicht auf den Lindenhof, auf die Limmat sowie auf den Hafenkran von Rostock stehen allerdings ausschliesslich den Vollzahlern zur Verfügung, die es sich auch gerne in den sechs Ledersesseln bequem machen dürfen. Aus dem Salon, in dem tagsüber bis zu dreissig Studenten an ihren Seminararbeiten sitzen, werden mehrmals im Monat abends alle Tische entfernt: Der Raum wird dann mit Stühlen bestückt und dient als Veranstaltungsraum für die Lesungen des Literaturhauses. Im Jahr 2000 wurde nämlich beschlossen, das Angebot der Museumsgesellschaft, Lesesaal und Bibliothek, um den Betrieb eines Literaturhauses zu erweitern, das in Zürich schon lange gefehlt hatte.
Im Jahr 1834 wurde die Museumsgesellschaft gegründet. Zu den Gründern gehörten Professoren der kurz vorher eröffneten Universität, die sich und anderen ein „Lese-Museum“ schaffen wollten. Ein wunderbarer Ort hat sich da erhalten. Denn zusätzlich zum Lesesaal weist das Haus noch ein Debattierzimmer im dritten Stockwerk auf sowie gleich nebenan eine Bücherausleihe, wo Belletristik in mehreren Sprachen geführt wird.
Anders als an den anderen Bibliotheken auf Stadtgebiet ist, dass hier mit Ausnahme der Sommerferienzeit zahlreiche literarische Veranstaltungen stattfinden. Zumeist sind es Lesungen: Eine Autorin oder ein Autor sitzt auf der kleinen Bühne im Salon, neben ihr oder ihm sitzt die Moderatorin oder der Moderator, vor ihnen bis zu 100 Zuhörende. Anderthalb Stunden dauert eine literarische Veranstaltung hier. Maximal zehn Minuten lang sollte die Einführung des Moderators sein, etwa dreissig Minuten lang wird vorgelesen, dann werden Fragen gestellt. Die Liste der Autorinnen und Autoren, die hier bereits aufgetreten sind, ist unendlich lang. Und die Zahl der Zuhörenden variiert von Lesung zu Lesung, wobei es manchmal ein Rätsel ist, weshalb gewisse Veranstaltungen, die zahlreiche Besucher verdient hätten, bloss von ganz wenigen Besuchern aufgesucht werden. Martin Mosebach etwa, Autor aus Frankfurt, sass hier bloss zwölf Zuhörenden gegenüber, wobei mindestens vier seiner Zuhörer Angestellte des Hauses waren. Es kann aber auch vorkommen, dass der Andrang so gross ist, dass die Veranstaltung in den Debattierclub per Video übertragen werden. Seit 2014 geht das Literaturhaus auch Kooperationen mit einem lange wenig geliebten Konkurrenten ein: Weil der Salon nur 100 Zuhörende fassen kann, können neuerdings Veranstaltungen des Literaturhauses im Kaufleuten stattfinden. Die früher vom Theater Neumarkt beherbergten Veranstaltungen der Reihe „Teppich“ gastieren neu ebenfalls am Limmatquai. Gemeinsame Veranstaltungen finden zudem mit der Tonhalle, mit dem Kunsthaus und mit der Fotostiftung Schweiz in Winterthur statt.
Zwei Kleinigkeiten sind noch anzufügen: Die Toiletten tragen hier nicht die Bezeichnungen „Damen“ oder „Herren“. Hier steht an den Türen: „Leser“ und „Leserin“. Und dann noch: Nach jeder Lesung des Literaturhauses findet im Lesesaal ein Apéro statt. Weisswein, Orangenjus und Mineralwasser werden hier angeboten. Und immer die gleichen Salzstengel und Chips. Endlich Zeit für einen Wechsel? Eine kleine Reise an andere Leseorte könnte da inspirativ wirken. In Wetzikon zum Beispiel gibt es bei der Camera lit. Obscura in der kalten Jahreszeit eine Suppe und ein Stück Brot!
Museumsgesellschaft und Literaturhaus
Limmatquai 62
8001 Zürich
T: 044 254 50 08
www.mug.ch
www.literaturhaus.ch
Oh nein!
Heinz Egger
Er wandte sich schon zum Gehen, als er sagte: „Ich empfehle dir, da Mitglied zu werden“. Einige Tage später, als Albert durch das Limmatquai flaniert, erinnert er sich an das Gespräch mit Paul. So hält er denn vor dem Haus, in dem die Museumsgesellschaft ihre Räume hat, an. Er schaut die Fassade hoch, sucht dann den Eingang. Er liegt etwas versteckt, zurückgesetzt zwischen zwei Geschäften. Eine Tafel mit den Ankündigungen der nächsten literarischen Veranstaltungen weist ihm den Weg.
Ob er da einfach so eintreten und sich etwas umsehen darf? Er zögert, tritt dann aber doch ein. Der Aufzug bringt ihn in den ersten Stock. Dort legt er den Mantel ab und betritt den Lesesaal. Geradeaus steht eine Theke. Eine Frau und ein Mann unterhalten sich dort mit gedämpften Stimmen. Er wendet sich nach rechts und ist überrascht: Ein sehr heller Raum ist es, zwei grosse Tische mit je acht Plätzen stehen da. Jeder davon ist besetzt. Da sitzen Leute jeden Alters. Sie haben Bücher vor sich, einige einen Laptop. An einem der Tische entlang der Fensterreihe ist ein Platz frei. Zielstrebig geht er darauf zu. Ein Herr liest Zeitung dort. Albert erkundigt sich, ob der Platz frei sei. Der Zeigungsleser hebt nur kurz den Kopf und nickt. Darauf packt Albert sein Notizheft aus, verstaut seinen Rucksack unter dem Stuhl und nimmt Platz.
Er fühlt sich etwas fremd in dem hohen Raum. Die Bilder an der langen Wand wirken düster trotz der Sonne, die durch die Fenster scheint. Sie müssen uralt sein. Ihre Farben sind stumpf unter stark vergilbtem Vernis. Er erkennt Landschaften, aber keine Details. Blinde Fenster zu einem Schattenreich, denkt er.
Unter den Bildern stehen Regale mit Büchern: Lexika und Handbücher sind es, fein säuberlich geordnet nach Kategorien: Bibliografie und Buchwesen, Enzyklopädien, Biografien, Wörterbücher kann er von seinem Platz aus entziffern.
Eine Zeitung raschelt. Das fällt auf, denn im Raum herrscht konzentrierte Stille. Regelmässig kommen und gehen Leute. Alles läuft ganz leise ab. Kein Wort fällt.
Der Mann vis-à-vis von Albert stützt beide Arme auf der Tischplatte auf, während er liest. Die grossformatige Süddeutsche Zeitung liegt offen vor ihm. Sie bedeckt die ganze Tischbreite.
Links von Albert sitzt eine ältere Dame vor einem eleganten Laptop. Sie hat den Rechtschreibe- und den Synonymwörter-Duden neben sich. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet. Unter dem Rock schauen hellblau bestrumpfte Beine hervor.
Albert schreibt einige Notizen in sein Heft, um wenigstens so zu tun, als würde er arbeiten.Dann sucht er die Bibliothek im 3. Stock auf. Beim Ausgang aus dem Lesesaal wirft er einen Blick auf die grosse Zeitungsablage: Fast jede Deutschschweizer Zeitung liegt da auf. Auch die Südostschweiz für Heimwehbündner, wie Albert einer ist.
Als er aus dem Aufzug tritt, sticht ihm Tabakrauch in die Nase. In der Tat ist das Debattierzimmer ein Raucherraum. Vier jüngere Leute sind da. Zwei Frauen rauchen am offenen Fenster, zwei Männer schauen auf dem Handy einen Film und lachen.
Im Raum der Bibliothek fällt Albert zuerst der grosse Zettelkatalog auf, der vom Fenster her wie ein Raumteiler wirkt. Albert setzt sich an den Tisch neben dem Katalog und sieht sich um: Den Wänden entlang ziehen sich raumhohe Büchergestelle. Bis auf Kopfhöhe sind es moderne Bücher. Er entdeckt da beispielsweise „Die Filmerzählerin“ von Hernán Rivera Letelier. Darüber stehen dicke, alte Bände mit handbeschrifteten Rückenschildern:„Aus fremden Zungen“ bildet eine ganze Reihe. Es sind Bücher aus dem Ende des 19. Jahrhunderts.
Albert wird den Eindruck nicht los, sich in einer musealen, ja fast verstaubten Umgebung zu befinden. Aber das erklärt doch den Namen des Hauses noch nicht. Er fragt die junge Bibliothekarin. Sie erklärt, dass die Gesellschaft 1834 als Lesegesellschaft gegründet worden sei. Damals habe Museum eben noch Studierstube bedeutet …
Albert wirft einen Blick auf den Katalogcomputer und staunt: Da gibt es Zugriff auf über 20 verschiedene Kataloge! Ihm fallen die Zentralbibliothek und die Pestalozzibibliothek auf. Wer hier sucht, der müsste fündig werden.
Er hat genug gesehen. Er fährt wieder hinunter zum Lesesaal. Als er ihn betritt, läutet ein Mobiltelefon. Er erschrickt. Ist es seines? Er beschleunigt seine Schritte, greift nach dem Rucksack, kramt das Telefon hervor, das inzwischen verstummt ist. Und er erschrickt ein zweites Mal: zwei entgangene Anrufe zeigt das Gerät an. Röte schiesst ihm in den Kopf. Schnell packt er seine Sachen und eilt aus dem Raum.