Im „Dreieck“
Michael Guggenheimer
„Dreieck“ heissen die Häuser im Strassendreieck zwischen Grüngasse, Zweierstrasse und Ankerstrasse im Volksmund. Eine noch dichtere Ansammlung von Bücherorten auf so enger Fläche gibt es wohl kaum in Zürich. Da ist an der Zweierstrasse 50 die moderne Filiale der Pestalozzibibliothek Zürich (PBZ), ein guter Ort, um sich Lektüren zu besorgen. An der Ankerstrasse, auf der anderen Seite des Dreiecks befinden sich eine gemütliche griechische Kneipe sowie die Buchhandlung „Paranoia City“. Besitzer der Buchhandlung ist der Chinesisch sprechende Buchhändler Thomas Geiger. Geiger verkauft aber mehr als nur Bücher. „Paranoia City – Buch & Wein“ heisst sein Laden.
Ich weiss nicht, ob es einen anderen Ort in Zürich gibt, in dem Wein aus Georgien verkauft wird. Ebenso gewiss ist, dass es kein anderes Buchgeschäft auf Stadtgebiet gibt, in dem so viele Bücher zu China, Tibet sowie zur asiatischen Heilkunde erhältlich sind. Doch der Reihe nach. Paranoia City gegründet hat eine Gruppe von Kommunarden im Jahr 1975. Mehrfach musste das Buchgeschäft umziehen. Von der Schwanengasse in der Altstadt an die Stauffacherstrasse, von dort an die Jakobstrasse, um dann wieder an die Anwandstrasse, von dort weiter an die Bäckerstrasse gleich beim Stauffacher. Als dann die Mietpreise an der Bäckerstrasse zu steigen begannen und Önologin und Buchhändlerin Rosemarie Feller ihr Geschäft „Buch und Wein“ an der Ankerstrasse aufgeben wollte, entschied sich Thomas Geiger, mittlerweile der letzte Mohikaner jener Gründergruppe, mit seinen Büchern in die Lokalität von „Buch und Wein“ umzuziehen, um das Konzept von Rosmarie Feller zu übernehmen.
Man weiss nicht, worauf man mehr eingehen soll: Auf die Weinflaschen oder auf die Bücher. Denn beide werden hier mit gleicher Kompetenz angeboten. Die Bücher stammen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Dann auch noch aus den USA und England. Und die Weine tragen Herkunftsbezeichnungen aus der Schweiz, Frankreich, Österreich, Italien, Spanien und Portugal. Und eben auch noch aus Georgien. Deutschland, Verlagsort und Leseort guter Rieslinge, ist hier allerdings nur mit Gedrucktem vertreten. Geiger ist spezialisiert im Weinbereich auf Traubensorten, nicht auf Regionen. 20 bis 30 Degustationen führt er im Jahr durch. So viele Lesungen allerdings finden hier nicht statt. Ein Drittel des Umsatzes mache er mit Wein, sagt Geiger, der auch Verleger ist. Das Buch „Wo-Wo-Wonige“, das er im Jahr 2005 herausgegeben und Jonas Vögeli gestaltet hat, hat für seine Gestaltung höchste Auszeichnungen in der Schweiz und in Deutschland erhalten. Bevor der Autor mit dem Pseudonym P.M. sich einem anderen Verlag zugewandt hat, hat P.M. seine Bücher bei Thomas Geiger verlegt. „Auch wenn der gute alte Laden veraltet und dem Internet Platz macht, setzen wir auf richtige Bücher und reine Weine – es muss nicht Amazon oder Denner sein. Richtige Bücher sind zum Anfassen, zum drin schmökern, keine Downloads für den e-reader.“, sagt der Buchhändler. Geigers Paranoia City liegt abseits des Passantenstroms. Das ist ein Handicap und ein Gewinn zugleich. Mehr Kunden täten dem Geschäft gut. Die Ruhe einer Quartierstrasse gibt aber die Möglichkeit, mit dem Buchhändler ins Gespräch zu kommen, sich Titel empfehlen zu lassen und einen Wein zu kosten. „Halten Sie dem altmodischen Laden die Stange!“, ruft Geiger auf seiner Homepage. Und wir sagen: „Ja, das machen wir! Gerne!“. Viel Belletristik, ausgesuchte Designbücher, Titel zu den sonst selten gesehenen Themen RAF, Brigate Rosse, Anarchie, Frauen und Gender finden sich hier. Und was auch noch erwähnt werden muss: Hier kann sich der Kunde sein Geschenkpapier aus einer Auswahl von mehreren schönen Mustern auswählen, locker somit mit acht verschieden eingepackten Büchern die Buchhandlung verlassen. Das macht dem Sinologen kein anderer Buchhändler in Zürich so schnell nach.
Paranoia City Buch & Wein
Ankerstrasse 12
8004 Zürich
T: 044 241 37 05
www.paranoiacity.ch
Verfolgungswahn?
Heinz Egger
Es war ein sonniger Nachmittag. In der Buchhandlung Paranoia City liess ich mich von der Auslage gefangen nehmen, stöberte in Büchern und führte meine Augen über die vielen schönen Weinflaschen. Ich hatte alle Sinne im Einsatz, auch den Geschmackssinn bei einem Glas Grünem Veltliner im kleinen Garten neben der Buchhandlung. Auch der Buchhändler nahm einen Kaffee draussen. Wir sprachen viel über Bücher, den Wein und das Leben allgemein.
Und jetzt stelle ich fest, dass die Erinnerung ganz schwach ist. Was war denn genau zu lesen, was genau wurde besprochen und wie eigentlich schmeckte der Wein? Was ging in der Buchhandlung vor, während ich da war? Alles nur vage Fetzen, ohne klaren Zugriff darauf. Einfach nicht festzumachen. Hat mich die Stadt Paranoia vereinnahmt, mich aus dem Verstand gerückt, ja verrückt gemacht? Mich verfolgt das Bild des Dementen! Und das Bild einer Erscheinung:
Ich war ganz ruhig, ruhte völlig in mir und war fast auf Traumreise. Ich sass an einem der runden Metalltischchen und blätterte in einem Buch über die Vespa-Kultur in Indonesien. So viel Fantasie, so viel geniales Recycling, so viel Lebensfreude sprudelte mir da entgegen (mehr auf: vespaextrem.com). Und Bubenträume quollen hoch: Wir fanden einst einen alten Motorradmotor im Bachbett oberhalb des Dorfes. Wir schleppten ihn nach Hause und waren ganz sicher, dass wir ihn wieder zum Leben erwecken würden. Wir werkten stundenlang daran und lernten dabei einiges über sein Innenleben und seine Funktionsweise. Und wir malten uns schon aus, wie wir den Motor einsetzen wollten …
Ich war da also ganz versunken, als sich etwas in meinen Augenwinkel drängte, was mich irritierte und seither verfolgt hat: ein geringeltes Kleid. Weiss, orange, violett und schwarz, jeder Ring bloss etwa zwei Zentimeter hoch. Ich riss meine Augen hoch, gewahrte einen enormen Schwangerschaftsbauch, eine lindengrüne Jacke, lange, fädige, blonde Haare und schliesslich eine riesige, dunkelrandige Brille, die – so schien es mir – das ganze Gesicht bedeckte.
Wie eine Elfe glitt die Farbenpracht zuerst zu den Neuerscheinungen, umrundete das sicher zwei Meter hohe, runde Gestell. Dann schob sie sich weiter an mir vorbei zu den Postkarten, griff nach einer und baute sich darauf an der Theke auf.
Man kannte sich. Der Buchhändler grüsste und sagte: „Ja, dein Buch ist gekommen“. Er holt es aus dem Gestell und legte es neben die Kasse. Sie legt ihre Karte dazu. „Machen wir das 37 Franken“. Der Nadeldrucker der Kasse sang sein kurzes, scharfes Lied. Sie bezahlte und sagte kaum hörbar: „Wunderbar, merci.“ „Tschüss.“ „Ciao“. Dann hörte ich ihre Schritte: Die Flip-Flops klatschen an ihre Füsse mit Socken ohne Zehenteil.