L’arbre des lettres, Paris. Kultur der poetischen Namen

Buchstabenbaum

Heinz Egger

Es giesst in Strömen und ein frischer Wind weht von der Bastille her durch die Rue du Faubourg Saint-Antoine. Aude rennt unter das schützende Dach des Arbre à Lettres. Nur kurz verweilt sie bei der Auslage mit den Büchern „Tout Paris en Cartes Postales“. 20 Bände dokumentieren mit Strassenszenen und Ansichten von Geschäften das Leben in den Quartieren in der Zeit von 1900 bis 1940. Die Photographes ambulants haben die Aufnahmen gemacht, sie sind zumeist unbekannte Künstler. Geschäftsbesitzer kauften ihnen die zu Postkarten vergrösserten Aufnahmen ab und verteilten sie an ihre Kunden.

Gern würde Aude als Kunststudentin länger hier stehen und blättern. Aber sie friert in ihren kurzen Hosen und dem dünnen, vom Regen durchnässten T-Shirt. So schlüpft sie durch die Türe und geht zielstrebig ganz nach hinten in der schlauchartigen Buchhandlung. Bei den Reiseführern sucht sie Griechenland. Sie nimmt mehrere Bücher aus dem Gestell. Dann zieht sie eines der Treppchen unter einem Tisch hervor und setzt sich darauf. Schnell ist sie in die Lektüre vertieft. Sie plant eine Reise. Mehrmals zählt sie die zur Verfügung stehenden Tage mit der rechten Hand durch. Tag eins ist der kleine Finger. Dann sitzt sie da und ist in sich versunken. Wohin wohl ihre Gedanken schweifen?

Schlauchartiger Raum zusammengesetzt aus mehreren Gebäudeteilen

Sie betrachtet wohl nicht den speziellen Raum der Buchhandlung. Vier Räume vier verschiedener Bauten sind zu einem langen Raum vereint. Der hinterste hat Tageslicht von oben. Eine grosse Klimaanlage im Dach schafft im Sommer etwas angenehmere Temperaturen. Hier befinden sich die Kunstbücher, die Bandes dessinées, Mode-, Koch- und die Reisebücher. Die Schildchen an den Tablaren sind klein, sehr klein.

Rechteckige rohe Holzstützen tragen die Decke des zweiten Raums. Die Decke ist verputzt, aber staubig und vergraut. Hier befinden sich auf der einen Seite die Littérature française, die Romans policiers und Science Fiction. Auf der anderen Seite gibt es Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Philosophie, Literaturkritik, Psychologie, Religion, Ernährung, Lebenshilfe, was mit Psychologie pratique angeschrieben ist, und Bücher zur Mutterschaft.

Auf grossen Tischen liegt aus, was aktuell ist. Manche Bücher tragen ein gelbes Band. Handschriftlich sind darauf Notizen, und rezensierende Hinweise der Buchhändlerinnen und Buchhändler verzeichnet. Einer hat seine Bänder mit einem witzigen Vogel unterzeichnet. Andere Bücher tragen ein bräunliches, gedrucktes Band mit dem Titel „L’arbre à lettres a choisi pour vous.“

Der dritte Raum ist eng. In der Mitte ragt ein breiter und raumlanger Pfeiler hoch. Er ist mit rotem Stoff bespannt. Ein schmaler Büchertisch läuft darum herum. Zwischen den Gestellen an den Wänden und dem Tisch findet gerade eine Person bequem Platz. Hier findet man Literatur aus aller Welt: Indien, Maghreb, Malaysia, China, Japan, Iran, Hebräisch und Jiddisch, Russland, Deutschland, Spanien, Angelsächsisch. Allerdings sind alle Werke französische Übersetzungen.

Im vierten Raum steht der Empfang mit der Kasse. An der Wand hinter der Theke glänzen dicke, schön gebundene Bücher aus Reihen und Gesamtausgaben. Bücher in Schubern. Camus, Flaubert, Duras, Cendrars, Jules Verne. Alles in Cellophan eingepackt. Es sieht so aus, als sei alles aus der gleichen Familie. Die gleich gestalteten, aber farblich fein nuancierten Buchrücken wirken wie ein Wandteppich.

Aude hat einen den Reiseführer ausgesucht und schlendert den Gestellen entlang. Bei der Türe, die seitlich aus dem zweiten Raum hinausführt, bleibt sie stehen. Sie schaut hinein und betritt schliesslich den Raum. Hell ist es. Grosse Fenster und eine Glastür, die einen wunderbaren Blick in einen begrünten Innenhof geben. Sie schaut sich um. Sie scheint den Raum gut zu kennen. Sie geht zu den Bilderbüchern und legt die Hand auf die grossen, schwarzen Registerkarten, die zwischen den Büchern stehen. Wo gibt es das schon, so viele Bilderbücher, geordnet nach den Zeichnern! Kazuo Iwamura, Tomi Ungerer, Mario Ramos, Anthony Browne …

Sie geht zur Kasse, bezahlt und tritt wieder aus dem Laden. Der Regen hat nachgelassen, aber der kalte Wind ist geblieben. Sie wendet sich nach rechts und eilt davon.

L’arbre à lettres
62, rue du Fb. Saint-Antoine
75012 Paris
T: 0033 1 53 33 83 23
www.arbrealettres.com

Schöne Namen

Michael Guggenheimer

Seit einigen Jahren sammle ich systematisch Namen französischer Buchhandlungen. Ich kenne kein anderes Land, in dem man so schönen, so phantasievollen Namen von Buchhandlungen begegnen kann. Ich habe da meine Lieblinge. Zum Beispiel den Namen „Le Passeur de l’Isle“ in Isle sur la Sorgue. Oder die „Librairie au brouillon de culture“ in Caen.

Buchhandlungsschild: le passeur de l'isle

Irgendwann in Paris, es sind Jahre her, habe ich damit begonnen, Namen von Buchhandlungen aufzuschreiben, die Schilder mit den Namen zu fotografieren. Ich sammle wohlklingende Namen von französischen Buchhandlungen. Und weil Frankreich zu gross ist für eine Reise zu den schönsten Namen von Buchhandlungen, habe ich Freunde darum gebeten, mir Namen zu sammeln. Seither kommen in der Ferienzeit schöne Namen bei mir an. Sei es als SMS-Mitteilungen, auf der Rückseite einer Ansichtskarte oder als Handybild mit einem Gruss. Dann sind es meistens die Namenstafel oder ein Bild vom Schaufenster. Ich habe mittlerweile eine ganze Galerie solcher Bilder mit schönen, mit wunderschönen Namen von Buchhandlungen.

Und wirklich, es gibt keine schöneren Namen von Buchhandlungen als in Frankreich. Ich kann mich nicht entscheiden, welcher Name mein Lieblingsname ist. Hier eine Liste meiner Lieblinge: Die „Librairie Anecdotes“ in Limoges, in Lorient „L’imaginaire“ oder „La Mèmoire du Monde“ in Avignon. In Paris „L’attrappe coeur“, in Toulouse „Ombres blanches“, in Albi die „Librairie Transparence“, in Nîmes die „Librairie Aux Lettres de mon Moulin“. „Les Champs de Coton“ heisst eine Buchhandlung in Nevers, sie liegt an der Ecke zum Boulevard Saint-Exupéry.

Wie viel schöner, wie viel phantasievoller Namen französischer Buchhandlungen sind. Bei uns heissen die Buchhandlungen so oft nach einem Platz, nach dem Gründer, nach dem Besitzer: Buchhandlung am Quellenplatz, Buchhandlung Riedl, Buchhandlung Dom, Buchhandlung Rösslitor, Volkshaus Buchhandlung, Hirschmatt Buchhandlung oder Buchhandlung am Kronenplatz. Zugegeben, manchmal trifft man auch im deutschsprachigen Raum auf überraschende Namen von Buchhandlungen: „Land in Sicht“, „Welteneleser“, „Ypsilon“ und Die Wendeltreppe“ heissen Buchhandlungen in Frankfurt.

Wie kommt es, dass Buchhandlungen in Frankreich so viel phantasievolle, so schön klingende Namen haben? Liegt es an der Sprache? Liegt es an einer spielerischen Phantasie? Ich weiss es nicht. „Plein Ciel“ heisst eine Buchhandlung in Thionville, „Le Furet du Nord“ findet sich in Thionville. An die „Librairie Vents du Sud“ in Aix kann ich mich noch gut erinnern. In Paris habe ich die Namenvielfalt noch gar nicht ausgeschöpft: „Arts et Métiers“, „Librairie du Moniteur“, „Aux Amateurs du Livre“, „Le Divan“. Was „Lexisnexis“ wohl heisst? Und gibt es schon eine Buchhandlung mit dem Namen „Texterix“ für die vielen Buchhandlungen, die auf wunderbaren BD’s spezialisiert sind, die in Frankreich gezeichnet und geschrieben werden? „Le Rameau d’Or“ heisst eine Buchhandlung in Lyon. In Clermond-Ferrand habe ich vor Jahren den schönen Namen „Librairie les Volcans d’Auveregne“ notiert. „Le Verger des Muses“ bietet in Corbeil Essonne Bücher an.

Buchhandlungsschild: Lignes Noires

Und die kleine und sympathische Buchhandlung „Lignes Noires“ in Avignon hat leider vor einem Jahr dicht gemacht, der Name wäre immer noch zu haben.

 

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