Inmitten der Altstadt
Michael Guggenheimer
Man müsste pensioniert sein. Man sollte regelmässig Zeit haben für einen Besuch bei ihr. Man müsste sich vornehmen, jeden Tag zu ihr an die Zähringerstrasse Ecke Häringstrasse zu gehen. Gemeint ist jene Strassenecke, wo knapp bekleidete Brasilianerinnen, Ungarinnen und Filipina auf dem Gehsteig stehen und männliche Passanten mal ein Angebot zuflüstern, mal herausfordernd anschauen und Erlebnisse in einem der Zimmer im Haus nebenan versprechen. Die Pestalozzi Bibliothek Zürich Altstadt (PBZ) gleich nebenan auf der anderen Seite der Häringstrasse ist es, die man regelmässig aufsuchen können sollte. Wo gibt es das sonst noch in Zürich: Sechzig tagesaktuelle Zeitungen und 120 Zeitschriften stehen hier in einem hellen Leseraum im ersten Stockwerk zur Auswahl. Von A bis Z sind die Zeitschriften in einem langen Gestell an einer Wand geordnet. Vom deutschen Magazin „Abenteuer und Reisen“ bis zur etwas biederen Seniorenzeitschrift „Zeitlupe“.
Zweiertische im selben Raum laden zum Ausbreiten der Zeitungen und zum Lesen ein. Auf einem Balkon im Hinterhof des Bibliothekgebäudes, wo Tische und Stühle stehen, kann man es sich bei schönem Wetter gemütlich machen und unter einem Sonnenschirm Kaffee trinken und in einer der vielen Zeitungen oder Zeitschriften oder in einem Buch lesen. Den ganzen Tag lang. Auf zwei Stockwerken ist die grösste Freihandbibliothek der Stadt Zürich untergebracht. Ein Stockwerk ist der Belletristik vorbehalten, ein Stockwerk führt Sachbücher. Nicht nur deutschsprachige Bücher werden hier angeboten, englische, französische, italienische Bücher warten hier auf Leser. Und im Untergeschoss befindet sich die reich bestückte Abteilung mit Kinder- und Jugendbüchern.
Dass die PBZ nicht jene etwas müffelige Gemeindebibliothek ist, wie sie früher einst war, hat auch mit der Innenarchitektur zu tun. Wer die Halle im Erdgeschoss betritt, in der man die Bücher am Counter (ein herkömmlicher Schalter ist das wirklich nicht) abgibt oder beim Abholen zeigt, der befindet sich in einem grosszügig und hell gestalteten modernen Raum mit elektronischen Katalogstationen, in denen die Bücher aller 15 Standorte dieser Bibliothek abgerufen werden können. Die Pestalozzibibliothek ist nämlich vernetzt mit vierzehn weiteren Quartier- oder Stadtkreisfilialen, die über die ganze Stadt verteilt sind. Manche dieser Bibliotheksfilialen sind auf die sprachspezifischen Wünsche ihrer Benützer ausgerichtet: In der Bibliothek Hardau im Stadtteil Sihlfeld etwa, wo viele Ausländer wohnen, sind ganze Büchergestelle mit Literatur für Leser aus dem Balkan oder aus Sri Lanka in Albanisch, Kroatisch, und Singhalesisch vorhanden.
Wie in einem Einkaufszentrum liegen im Eingangsbereich der PBZ Altstadt graue Plastikkörbe, kleine und grosse, mit denen man auf Wanderschaft durch die Büchergestelle gehen kann, die Titel tragen wie „Fremde Welten“, „Love and Sex“ oder „Fantasy, Science Fiction, Grusel“. Wer eine Reise plant, dem stehen in mehreren langen Gestellen Reiseführer, Landkarten, Reiseroutenbeschreibungen für Radfahrer sowie Wanderbücher zur Verfügung. Wer hier Bücher ausleiht kann je nach gewählter Jahreskarte bis zu 25 Bücher auf einmal mit nach Hause nehmen. 90 000 Bücher, DVD’s und CD’s stehen bei der Pestalozzibibliothek an der Zähringerstrasse zur Auswahl.
Ein wunderbarer Leseort ist das: Die Räume sind weiss gestrichen, die breite Fensterfront zur Zähringerstrasse hin lässt viel Licht ins Haus hinein. Der ganzen strassenseitigen Front im ersten und im zweiten Stockwerk entlang steht eine lange Tischplatte den Lesenden zur Verfügung. Studenten arbeiten hier, Menschen, die keiner taglangen bezahlten Arbeit nachgehen, sitzen hier und lesen. In der Leselounge im ersten Stockwerk kann man sich so gemütlich einrichten, dass mitunter ein Leser auch über die Lektüre eines Romans einnickt und leise zu schnarchen beginnt.
Anstelle von Bildern sind übers ganze Haus verteilt witzige Sätze in schwarz auf weiss zu sehen, die alle mit Büchern und mit dem Lesen zu tun haben. Schriftsteller Jürg Halter hat diese witzig hintersinnigen Sätze kreiert. Im Treppenaufgang zum ersten Stock steht der folgende Satz: „Nun stehen Sie also in einer Bibliothek. Wenn ich mir die Frage erlauben darf: Wo um alles in der Welt fangen Sie jetzt bloss an?“. Die Nähe zum körpernahen Gewerbe ist übrigens nicht nur auf der Strasse vor der Bibliothek erlebbar. Wer in der Pestalozzi Bibliothek sein Handy oder Laptop einschaltet und sich im Netz einloggen möchte, dem bieten sich zunächst gleich zwei wLan-möglichkeiten an mit der Bezeichnung „intim-sex-shop 1“ und „intim-sex-shop 2“.
PBZ Pestalozzibibliothek Altstadt
Zähringerstrasse 17
8001 Zürich
T: 044 204 96 90
http://www.pbz.ch/
„… mir chömed dänn wider.“
Heinz Egger
Milly tritt durch die Tür. Ein feines Lächeln huscht über ihr Gesicht. Weshalb? Vor ihr liegt die fast leere Abteilung „Kinder und Jugendbücher“ der Pestalozzibibliothek in der Altstadt. Sie freut sich, es wird ruhig sein. Sie ist erfahrene Lehrerin und sucht ein neues Vorlesebuch für ihre zweite Primarklasse. Sie hat den Lift ins Untergeschoss benutzt, weil sie einen Einkaufswagen dabei hat. Ein Lauchstängel ragt vorwitzig aus dem Wagen heraus. Sie stellt ihn neben einen der kleinen Tische, kramt ihren Notizblock aus der Tasche und setzt sich in einen der kleinen Stühle. Sie hat ihren Tisch so gewählt, dass sie die Szenerie überblicken kann.
Sie ist nicht allein: Da sitzt eine asiatisch anmutende Frau an einem der Tische. Vor ihr liegen Bilderbücher. Sie ist daran, einen Drachen aus einem der Bücher abzuzeichnen. Sie tut es mit einem der Farbstifte, die in einem Becher auf dem Tisch stehen. Sie hat Übung: Sie setzt den Stift aufs Papier und führt ihn schwungvoll, leicht und mit wenig Druck. Ihr vielleicht fünfjähriger Sohn schaut zu. „So ein schönes Bild“, denkt Milly.
In der Ecke neben der Tür, durch den Milly hereingekommen ist, liegen grosse Kissen am Boden, darauf kleine. Ein Mädchen, es ist wohl die vielleicht achtjährige Tochter der zeichnenden Mutter, hat es sich dort bequem gemacht. Sie hat ihre Beine angewinkelt. Sie dienen ihr so als Auflage für das Buch, in dem sie liest. Immer wieder tippt sie mit dem Zeigefinger auf den Steg zwischen den Gläsern ihrer Brille, um sie zurechtzurücken. Oder aus der Spannung heraus, welche die Lektüre erregt? Milly freut sich auch an dieser Szene. „Wie schön wäre es, aus meinen Schülerinnen und Schülern richtige Leseratten zu machen“, denkt sie.
Inzwischen hat die Mutter ihre Zeichnung beendet. Es ist eine Vorlage zum Ausmalen für ihren Sohn. Er hat nun das Blatt vor sich und malt eifrig. Er ist sehr konzentriert, sein Kopf ist ganz tief über dem Blatt. Er bewegt seine Lippen unablässig vor und zurück, während er den Farbstift in schnellen Bewegungen übers Papier führt. Schabende Geräusche des Stifts auf harter Unterlage und das Klicken der Farbstiftspitze beim Sprung vom Papier auf die Tischplatte erfüllen den Raum. Wieder denkt Milly an ihre Klasse, an die unterschiedlichen Schülerinnen und Schüler. Sie wünscht sich, dass auch im Klassenzimmer solche Momente möglich werden: Alle sind ruhig, ganz in ihrer Arbeit versunken.
Sie reisst sich von den Betrachtungen los. Ihr Ziel ist ja, ein Vorlesebuch zu finden. Sie steht auf und schaut sich um. Die Abteilung hat vier Gestellreihen. Die Vierte ist allerdings mit Eltern angeschrieben: Da findet sich viel Theoretisches über Kinder, Jugend, Aufklärung und Erziehung. Das Vorlesebuch wird sich am ehesten in der ersten Reihe finden. Am Schildchen „Lerne Lesen“ geht sie vorbei, diese Bücher eignen sich nicht so zum Vorlesen, für „Fremdsprachen“ ist es etwas zu früh. Beim Stichwort „Vorlesebücher“ bleibt sie stehen und beginnt zu suchen. „Dreimal täglich pusten, Geschichten zum Gesundwerden“ von Erwin Grosche nimmt sie heraus. Das wird sich weniger dafür eignen, regelmässig daraus vorzulesen, aber bei Gelegenheit könnte die eine oder andere Geschichte passen. Bei „Märchen, Sagen, Verse“ fällt ihr ein sehr schön gestalteter Band mit den schönsten Geschichten aus tausendundeiner Nacht, erzählt von Urs Widmer, auf. Bei den Klassikern steht auf einem Ausstellungsständer Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Sie packt das Buch und kehrt zu ihrem Tischchen zurück. Lesend und blätternd vergisst sie die Zeit. Eigene Kindheitserinnerungen kommen hoch: die Abenteuer von Jim Knopf, gespielt von der Augsburger Puppenkiste, die damals noch schwarzweiss über den Fernsehbildschirm flimmerten.
Männer mit Bücherkisten auf Wägelchen stossen die Tür vom Lift her auf und schieben die Last in den Raum. Der einzige genügend breite Weg zum Abstellraum führt an Millys Tisch vorbei. Sie muss aufstehen. Dabei schaut sie auf die Uhr und erschrickt. Sie muss sich beeilen, ihr Zug fährt bald. Sie steckt die beiden Bücher rasch zurück ins Gestell, rafft ihre Sachen zusammen und bricht auf. Dabei sieht sie, dass mehr Leute gekommen sind. Ein Gesprächsstück klingt in ihr noch nach, als sie ihren Einkaufswagen wieder durch die Türe schiebt. „Mami, das sind so härzigi Büechli.“ – „Du häsch rächt, aber chumm jetz, mir chömed dänn wider.“