Photobibliothek.ch, Diessenhofen

 

Fotobücher total

Michael Guggenheimer

Das ist die Geschichte von dem Mann, der auf dem Weg von seinem Schlafzimmer in sein grosses und spezialisiertes Bücherreich bloss eine Tür öffnen muss. Es ist die Geschichte von dem Mann, dessen verwinkelte Wohnung auch seine Bibliothek ist und dessen Bibliothek nicht einfach eine oder zwei oder drei Bücherregale aufweist. Ein ganzes Stockwerk, soweit der Blick reicht, Zimmer für Zimmer: überall volle Büchergestelle, Bücher dicht an dicht. Es ist die Geschichte von einem Mann, der seit 40 Jahren Bücher zur Fotografie und zur Fotogeschichte sowie zur künstlerischen Entwicklung der Fotografie sammelt. Andere mögen an die hundert Bücher zur Fotografie haben, wiederum andere mehrere hundert, Hans Rudolf Gabathuler lebt inmitten von mehreren tausend Büchern und Zeitschriften zu diesen Themenbereichen. Und während andere Privatpersonen, die eine echte und thematisch spezialisierte Fachbibliothek besitzen, den Standort einzelner Bände meistens in etwa kennen, vielleicht eine herkömmliche Kartei mit Titel und Autor führen, hat er seit Jahren alle seine Bücher und auch gleich noch eine Masse einzelner Zeitschriftenartikel im Computer erfasst. Sein Ziel ist ehrgeizig, hat er doch den Anspruch, „die Geschichte der Fotografie in ihrer Gesamtheit in Originaldokumenten darzustellen“. Im Sammelbereich 20. Jahrhundert liegt das Schwergewicht von Gabathulers Sammelleidenschaft auf der künstlerischen Entwicklung der Fotografie. In einer illustrierten Broschüre, die er interessierten Besuchern abgibt, stellt er 100 Highlights aus seiner Sammlung vor.

Sammler und Fotokenner Hans Rudolf Gabathuler wohnt im schmucken Städtchen Diessenhofen am Rhein. Von seiner Dachterrasse aus blickt er auf die Dächerlandschaft von Diessenhofen und hinüber nach Gailingen in Deutschland. Mehr zu sehen als vom Balkon aus gibt es im Innern seines Bücherreiches, das er in eigener Hände Arbeit eingerichtet hat. Da lassen sich die bedeutendsten Spuren der Fotogeschichte anschauen. Da sind einerseits die vielen Bücher, deren Umschlag eine Fotografie aufweist. Nicht einfach irgendeine Fotografie, handelt es sich doch zumeist um die Fotografien bekannter und berühmter Fotografen. Monografien einzelner Fotografen, die ohne Schutzumschlag sind, gibt es hier keine. Inhalt und Hülle bilden für Hans Rudolf Gabathuler eine wichtige ästhetische Einheit. Schweizer Fotografen? Sie sind alle in den Gestellen der Photobibliothek mit Büchern vertreten. Und zu jedem Buch, zu jedem Fotografen hat Sammler Gabathuler, ein wandelndes Lexikon zur Fotografie, etwas zu erzählen, als seien die Fotografen seine Freunde. Hört man ihm zu, dann wird einem klar: Sie sind seine Freunde, auch jene, die er nicht persönlich kennt.

Wohnzimmer mit vielen, vielen Büchern

Man geht den Büchergestellen entlang und macht Entdeckungen. Tom Gidal, einer der Pioniere des modernen Fotojournalismus, ist hier mit seinen Fotobüchern vertreten. Fotograf Gidal promovierte an der Universität in Basel über das Verhältnis von Bildberichterstattung und Presse, 1934 dokumenierte er den 13. Psychoanalytischen Kongress und arbeitete mit lichtstarken Kameras. Aber auch Erich Salomons Buch „Berühmte Zeitgenossen in unbewachten Augenblicken“ aus dem Jahr 1931 ist da: Salomon machte mit seiner legendären Ermanox an wichtigen politischen Konferenzen unbemerkt noch nie zuvor gesehene Aufnahmen ohne Stativ und ohne Blitzlicht. Man steht in der Photobibliothek, erwähnt den Namen irgendeines Fotografen und schon ist Hans Rudolf Gabathuler mit zwei oder drei Bildbänden zur Hand. Helmar Lerski? Da sind die Bilder des Fotografen aus dem Zürcher Quartier Sihlfeld, den es über Milwaukee nach Berlin zog. 1936 entstand seine Fotoserie Metamorphosen. Von einem einzigen jungen Mann fertigte er rund 140 fotografische Großaufnahmen des Gesichts an. Sammler Gabathuler bringt Lerskis berühmtestes Buch, in dem er Bewohner Palästinas in den 30er Jahren fotografierte und so zeigte, dass jüdische und arabische Bewohner Palästinas häufig nicht voneinander zu unterscheiden sind. Wie konnte es passieren, dass sich die Vertreter der beiden Völker so spinnefeind sind, fragt man sich beim Betrachten der Bilder. Und gleich ist auch Robert Capas „Death in the Making“ aus dem Jahr 1938 zur Hand. Sein Bild des von einer Gewehrkugel getroffenen sterbenden Soldaten wird oft als das „berühmteste Foto der Welt“ bezeichnet. Ob die Aufnahme gestellt ist, ist bis heute und nach vielen Essays immer noch nicht geklärt.

Schätze in den Büchergestellen. Zum Beispiel in einer Vitrine alle Erstausgaben von Robert Franks richtungsweisendem Bildband „The Americans“, so auch die japanische Ausgabe. Franks Buch wurde von einer internationalen Runde von renommierten Fotohistorikern und Fotobuchpublizisten, zu der auch Gabathuler gehörte, als das bedeutendste Fotobuch aller Zeiten deklariert. Jakob Tuggeners Fotoband „Fabrik“ sei für ihn neben „The Americans“ das wichtigste Schweizer Fotobuch, sagt Gabathuler. Er bückt sich und zeigt in einem Regal die Sammlung aller Ausgaben der Zeitschrift Camera. Von der ersten Nummer im Jahr 1922 bis zur allerletzten vom Dezember 1981. Die bedeutende Zeitschrift, die in Luzern von Allen Porter redigiert und gestaltet wurde, hatte zu ihrer Glanzzeit eine Auflage von 50 000 Exemplaren. Lückenlos auch alle Bände der Zeitschrift „Das deutsche Lichtbild“, des weiteren alle Ausgaben der Kulturzeitschrift DU, die Fotografen und der Fotografie gewidmet sind. Die neuen Ausgaben der Zeitschriften „Fotogeschichte“, „Rundbrief Fotografie“ und „European Photography“ treffen hier immer noch regelmässig ein. Ebenfalls in einem der Gestelle alle die Silvabände von früher, aber nur solche, in die Bilder von Schweizer Fotografen von Hand eingeklebt wurden. Frühe Ausgaben der fotografisch hervorragenden der Zürcher Ilustrierten führt Gabathuler. Hermann Stauder ist ein Schweizer Fotograf, der in Diesenhofen vertreten ist. Er fotografierte Menschen auf dem Land. Gabathuler zeigt das Buch „Schweizer Volkstypen“, ein Buch voller Bilder von Menschen aus der Schweiz, Stauders Name aber ist im ganzen Buch nicht erwähnt. Weshalb dies so ist, bleibt ein Rätsel.

Hans Rudolf Gabathulers Photobibliothek wird von etwa 50 Personen im Jahr aufgesucht. Meistens sind es Fotohistoriker, die bei ihm vorbeischauen. Die Bibliothek ist eine reine Präsenzbibliothek, eine Ausleihe oder gar eine Fernausleihe sind nicht möglich. Kein Wunder, dass der Sammler von Fotobüchern auch fotografiert, heute zwar weniger als früher, In einer Vitrine sind seine eigenen Kameras zu sehen. Erst wenn man ihn dazu drängt, zeigt er schwarz-weisse Bilder, die er selber aufgenommen hat. Da wird deutlich: Dieser Mann weiss nicht nur alles über Fotografie, er macht auch hervorragende Bilder. Stolz ist der Privatbibliothekar über die beiden Bände von „Autopsie“ aus dem Steidl Verlag über deutschsprachige Fotobücher der Jahre 1918 bis 1945 mit einem Aufsatz, den er verfasst hat.

Bücher bis unters Dach an jeder Wand

Seine Sammlung einfach eine unter vielen? Keinesfalls! Hier die Einschätzung von Peter Pfrunder, Direktor der Fotostiftung Schweiz, über die Büchersammlung in Diessenhofen: „Hans Rudolf Gabathuler hat im richtigen Moment ein wenig beachtetes Kulturgut zu sammeln begonnen. Das Photobuch hat heute in der Forschung und Auseinandersetzung mit Fotografie einen wichtigen Stellenwert. Gabathulers Verdienst ist, dass er die wichtigsten Werke der Photobuchgeschichte zusammengetragen und auch erforscht hat. Seine Photobibliothek wird inzwischen international beachtet“.

Photobibliothek.ch
Hans Rudolf Gabathuler
Hauptstrasse 17
8253 Diessenhofen
E-Mail: info@photobibliothek.ch
www.photobibliothek.ch

 

 

Mehr als Fotogeschichte

Heinz Egger

Die Aussicht ist wunderbar. Zwei weitere Giebelreihen, deren Ziegel rot in allerhand Schattierungen leuchten, dann ein Rebhang, Häuser, Wald, der weite Himmel. Man könnte fast die Hand ausstrecken und sie schon auf deutschem Gebiet wissen, so nah ist alles. Nach links versperrt der Kirchturm die Sicht in die Weite, nach rechts ein Quergiebel. So bietet sich die Sicht vom kleinen Balkon der Wohnung von Hans Rudolf Gabathuler in Diessenhofen. Sie liegt unter dem Dach im vierten Stock und ist der Ort einer unerhörten Privatbibliothek. Hans Rudolf Gabathuler lebt buchstäblich zwischen seinen 10 000 Zeitschriften, 7 500 Büchern, Tausenden Fotos und unzähligen Objekten. Und, was sonst in Privatbliotheken nicht üblich ist, jedes Stück seiner Sammlung ist in einer Datenbank erfasst. Die Bücher tragen äusserlich keine Signatur. Diese befindet sich hinten im Buch. Es ist eine Angabe über die Grösse des Buches und die ersten Buchstaben des Hauptautors. Die Gestelle sind einfache Holzgestelle des schwedischen Möbelhauses. Darin sind die Bücher nach Grössen (Sedez, Oktav, Quart, Folio) und alphabetisch eingeordnet. Kein Besucher – und von denen empfängt er um die 50 pro Jahr – dürfe an seine Bücher, sonst finde er nichts mehr, sagt Hans Rudolf Gabathuler dezidiert.

Arbeitstisch, Bibliothek im Wohnzimmer

Sein Anspruch ist, alles im Original zu besitzen. Da schon zur Zeit des Beginns der Sammlung vor mehr als 40 Jahren Originalabzüge von Fotos für ihn zu teuer waren, kam er auf das Fotobuch. Hier zählt die Erstausgabe. So liegen in einer Vitrine „The Americans“ von Robert Frank in der französischen und deutschen Erstausgabe, die englische ist aus der zweiten Auflage. Er hat alles gesammelt, was zur Geschichte der Fotografie gehört. Dazu gehören auch Werke über die Camera Obscura, Optik und Chemie, die die Grundlagen für die Fotografie legten. So liegt auf einem grossen Tisch ein schweres Buch von etwa 1651. Es ist dort aufgeschlagen, wo zwei Illustrationen die Anwendung von Linsen zur Projektion illustrieren. Und auch die Ankündigung der Erfindung von Daguerre hat er im Original: Eine Zeitungsseite der Gazette de France vom 6. Januar 1839 enthält den Bericht eines Journalisten über die Erfindung. Da es gelang, von den Metallplatten von Daguerre Druckplatten zu erstellen, erschienen bereits 1842/1843 zwei Bände mit Daguerrotypien. Der zweite Band enthält die weltweit ersten Drucke nach Originalfotografien. Hans Rudolf Gabathuler besitzt beide Bände.

Bücher bis unters Dach, fotografische Apparate

Die gesamte Sammlung befindet sich in seiner Wohnung. Über die weichen, schönen Teppiche führt Hans Rudolf Gabathuler den Besucher zuerst in ein kleines Kämmerchen. Dort lagern vorwiegend Zeitschriften.

Mit Stolz zeigt Hans Rudolf Gabathuler die erste Ausgabe des Fotoreportagen-Magazins „Life“, das am 23. November 1936 erschienen ist. Die Titelgeschichte fotografierte Margaret Bourke-White. Die Namen von Fotografen kommen dem Sammler leicht über die Lippen, als hätte er sie alle selbst gekannt. Niépce, Daguerre, Talbot, Jean Gabarel, Hermann Stauder, Jakob Tuggener, Max Seidel, Tim und Sonia Gidal, Henri Cartier-Bresson …

Seine Zeitschriftensammlung enthält alle Ausgaben der Zeitschrift „Camera“, die zwischen 1922 und 1981 erschien. Alle „Du“ und Magazine vom Tagesanzeiger zum Thema Fotografie lagern in seinen Archivschachteln. Weitere Titel sind „Fotogeschichte“, „Rundbriefe Fotografie“.

Auch das erste Fotobuch, noch mit von Hand eingeklebten Fotos besitzt er. Auf einem Gestell stehen einige Bände Silva-Bücher. – Diese Bücher sind heute meist in Brockenhäusern gelandet und obsolet geworden. Nicht für Hans Rudolf Gabathuler. Einige Fotografen auch aus der Schweiz haben Bilder für diese Fotobücher geliefert und teilweise so ihre Karriere begründet. Namen wie Werner Lüthy, Herbert Hartmann, Michael Wolgensinger und Eduard Gübelin fallen.

Natürlich hat Hans Rudolf Gabathuler selbst auch fotografiert. Sein erste Kamera, eine „Bilora“, bekam er von seinem Vater geschenkt. Heute tritt das Selber-Fotografieren zugunsten der Sammlertätigkeit zurück. In seinen Vitrinen finden sich alle Meilensteine der Entwicklung der Fotografie. Dazu gehören von der Camera obscura bis zur ersten digitalen Kamera auch Belichtungsmesser.

Hans Rudolf Gabathuler mit Buch aus dem Malik-Verlag

Seine ganz besondere Liebe gilt aber dem Schutzumschlag des Buches. Solche Umschläge wurden schon ab 1829 hergestellt. Sie sind Werbeträger, erzählen aber auch die Geschichte der Gestaltung. Ab 1907 gibt es Umschläge mit Fotos, damals noch aufgeklebt. Der Inhalt des Buches muss überhaupt nichts mit Fotografie zu tun haben. Es zählt der Umschlag. Viele Titel gehören zur Trivialliteratur, zu Abenteuerromanen und Sachbüchern. Im Verlag Malik, Berlin, erschienen zahlreiche Bücher mit fotografischen Umschlägen. John Heartfield hat sie meist fotografiert. Dabei finden sich wahre Trouvaillen. So wurden wegen einer Klage der abgebildeten Familie deren Köpfe einfach als Nullen herausgestanzt. In einem anderen Fall eine Whiskey-Flasche eines bekannten Herstellers nach einer Klage durch den Text des Gerichtsurteils überklebt. Der Name des Brenners ist darin immer noch erkennbar. Bei einem weiteren Buch deckt der Schutzumschlag die bitterböse Fotomontage von John Heartfield ab. Hitler sitzt als Affe auf der Erdkugel. Das Buch „Und sie bewegt sich doch“ erschien 1942 im Verlag „Freie Deutsche Jugend“ in London.

Die umfangreiche Sammlung enthält auch wesentliche Werke zum Film. So stehen die Bände „The Horse in Motion“, „Animal in Motion“ und „The Human Figure in Motion“ von Eadweard Muybridge im einem Gestell. Muybridge wurde bekannt durch seine Fotostudien der Bewegung, die auch aneinandergereiht wie ein kleiner Film angesehen werden können. Er nutzte dazu mehrere Kameras, die nacheinander ausgelöst wurden. Der Vater des Dokumentar- und ethnografischen Films,  Robert Joseph Flaherty, ist mit dem Buch „My Eskimo Friends – Nanook of the North“ vertreten. Der Film „Nanook of the North“ machte Flaherty 1922 berühmt.

Hans Rudolf Gabathuler schätzt dass auf der Welt etwa 100 Leute wie er zum Thema Fotografie sammeln. Bekannt wurde er durch seine Website, die er 2007 aufschaltete. Sie bildet einen Ausschnitt aus seiner Sammlung ab. Viele Artikel und Erklärungen ergänzen Bilder und Cover-Abbildungen. Sie ist eine wahre Fundgrube für Foto-Interessierte!

Die Bestände sind derart gross und umfassend, dass Hans Rudolf Gabathuler heute von Museen für Beiträge angefragt wird. Dazu gehört beispielsweise das Fotomuseum in Winterthur, das Kunsthaus Zug oder das Kunsthaus Baden-Baden. Er schrieb auch Beiträge in verschiedenen Publikationen, beispielsweise in „Autopsie – Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945“, Band 2, herausgegeben von Manfred Heiting und Roland Jaeger. Doch, im ersten Band ist er auch vertreten, aber nur durch Bilder aus seiner Sammlung.