Pinkrus, Zürich

Nachbar Lenin

Michael Guggenheimer

Tag für Tag halten Passanten an der Spiegelgasse vor dem Haus Nr. 14 an. Eine Tafel an der Fassade besagt, dass hier der russische Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin vom 21. Februar 1916 bis 2. April 1917 gewohnt hat. Nicht nur Russen fotografieren das Haus, das in jedem Reiseführer für die Stadt Zürich Erwähnung findet. Was sie alle nicht wissen: Das Gebäude mit der Gedenktafel ist ein Nachfolgebau. Keines der Zimmer haben Lenin und seine Frau Nadeshda Krupskaja bewohnt.

Wer vor Lenins Zürcher Domizil steht und sich für Russland interessiert, sich die Zeit nimmt und die Spiegelgasse etwas weiter gegen den Neumarkt hinuntergeht, der sieht an der Ecke, dort wo die Strasse mit dem Namen Obere Zäune beginnt,  eine Tafel vom Geldtransferdienst Moneygram und gleich am selben Ort den Namen „Pinkrus“, der einzigen russischsprachigen Buchhandlung der Schweiz. 600 Kilometer weit entfernt liegt die nächste vergleichbare Buchhandlung in Paris. Der hohe Verkaufsraum der Buchhandlung Pinkrus hat einen schön gekachelten Fussboden. Es war nicht der unmittelbare Vorgängerladen, eine italienische Lederhandlung, die die farbigen Bodenfliesen hat legen lassen: Hier war einst der Schlachtraum einer Metzgerei. So stark seien die Gerüche des Wursterei- und Schlachtbetriebs gewesen, dass Lenin tagsüber die Fenster seiner kleinen Wohnung im Nebenhaus nicht habe öffnen können, erzählt Pinkrus-Besitzer Jules Hunsperger.

Die russische Buchhandlung in Zuerich ist bekannt - aus der ganzen Schweiz kommen Kundinnen und Kunden

Gudrun Lehmann aus Düsseldorf, Autorin  eines Standardwerks über Daniil Charms, kennt die Buchhandlung schon lange. Sie hat hier schon Bücher bestellt, steht aber heute zum allerersten Mal in der russischsprachigen Literaturinsel Zürichs. Weil ich das Bücherangebot von Pinkrus nicht beurteilen kann, wandert sie mit mir von einem Büchergestell zum nächsten, erklärt mir, welche Autoren hier vertreten sind. Gudrun Lehmann ist von der Breite de Angebots begeistert: Russische Gegenwartsliteratur, Krimis, Unterhaltungsliteratur, Neuerscheinungen der letzten Monate, Klassiker, Übersetzungen von Belletristik aus dem Deutschen und Englischen, Sachbücher zur Geographie und Politik. In keiner Buchhandlung in Deutschland hätte sie jemals ein so breites Angebot an russischen Büchern angetroffen.

Elena Seiler, ehemalige Radiologin aus Russland, die ihre Stelle als Medizinerin verloren hat, ist seit elf Jahren die sachkundige Beraterin bei Pinkrus. Es dauert eine Zeit bis sie zu erkennen gibt, dass sie ganz ordentlich deutsch spricht und sogar deutschsprachige Bücher, die es bei Pinkrus gibt, empfehlen kann. Das Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ der weißrussischen Schriftstellerin und Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch legt sie mir ans Herz. Besitzer Jules Hunsperger hat das Buch noch nicht gelesen, er ist zuständig für die Administration des Ladens, die Beratung überlässt er seiner Mitarbeiterin, die als zweites Buch Marina Lewyckas „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ anpreist. Hunsperger, der früher im linken Antiquariat von Theo Pinkus an der Froschaugasse gearbeitet hat, hat nach der Schliessung des Antiquariats den russischen Buchladen gegründet. An die 50 000 Russen schätzt er, leben heute in der Schweiz. Nicht alle seien leider seine potenziellen Kunden. Aber jeden Tag schauen Russen in seinem Laden vorbei. Slawisten, Übersetzer, russische Autoren wie Michail Schischkin, die in der Schweiz leben oder auf Durchreise seien, sind seine Kunden. Die Zahl der Kunden ohne Russischkenntnisse, die sich an der Spiegelgasse mit Büchern über Russland eindecken, habe in den letzten Jahren leider abgenommen.

Die politische Situation unter Putin und die nicht immer einfachen Reisebestimmungen in Russland macht Jules Hunsperger  dafür verantwortlich, dass das Interesse der Schweizer an Reisen durch Russland abgenommen hätten. Die Zeit, da Bücher aus Russland preiswert gewesen seien, sei vorbei. Und es werde zunehmend schwieriger, in Russland rechtzeitig auf Neuerscheinungen zu stossen, da der Buchmarkt regional und schlecht organisiert sei. Bekannte und Freunde in Russland würden für Pinkrus den Büchermarkt beobachten und auf Neuerscheinungen aufmerksam machen. Dass Pinkrus im schönen Ladenlokal im Herzen der Stadt an nicht billiger Lage untergebracht sei, sei der Stadtverwaltung Zürichs zu verdanken, der das Haus gehöre. Die Stadt hätte Interesse  daran gezeigt, den Buchladen nicht zu verlieren. Wie hoch die monatliche Miete beträgt, verrät Hunsperger nicht. Wladimir Iljitsch Lenin hat nebenan im Jahr 1917 bloss 24 Franken im Monat für seine enge Behausung zahlen müssen. Das jedenfalls ist bekannt.

(Nach einem Besitzerwechsel 2015 hiess Pinkrus ZenRus und ist an die Seidengasse 13 in Zürich gezogen. Und seit 2017 ist die Buchhandlung als ZentRus AG an der Bäckerstrasse 9 domiziliert. Seit Ende August 2019 ist ZentRus geschlossen und das Unternehmen in Liquidation. In die Räume von Pinkrus zog im Frühling 2017 die Buchhandlung „Never stop Reading“ ein.)

Pinkrus Russische Buchhandlung
Spiegelgasse 18
8001 Zürich
T: 044 262 22 66
www.pinkrus.ch

Keine Zeit oder doch?

Heinz Egger

Russische Literatur in Zuerich: erhaeltlich bei PinkRus

„Pinus“, oder so ähnlich tönte es aus dem Telefonhörer. Da nichts weiter folgte, begrüsste ich Unbekannt und stellte unser Projekt kurz vor. Ich kündigte an, dass wir gern der Buchhandlung einen Besuch abstatten, uns umsehen, Fotos machen und allenfalls ein paar Fragen stellen wollten. Da meldete sich die Gegenseite plötzlich: „Nein, das geht nicht!“ Ich schreckte etwas zurück und war unsicher, ob ich nach meinem Redeschwall auf Dialekt verstanden worden sei, denn ich hörte, dass eine Frau sprach, die nicht deutscher Zunge war. „Ich kann Sie nicht empfangen, ich habe keine Zeit. Gestern ist eine grosse Lieferung aus Russland angekommen. Material für Schulen, das ich auspacken muss und anderes mehr.“ Ich wiederholte, dass wir bloss hineinschauen wollten und nicht viel Zeit in Anspruch nähmen. „Nein, bitte nicht heute, kommen Sie in einer Woche vielleicht. Oder schreiben Sie Ihr Anliegen an juchu@pinkrus.ch.“ Sie buchstabierte mir die E-Mailadresse freundlicherweise nochmals. Dabei merke ich, dass der Reibelaut im ersten Wort ein H war. „Nein, wirklich, ich habe keine Minute physisch für Sie, wenn ich noch Kunden habe.“ Ich falle ihr ins Wort und wiederhole, dass auch wir als Kunden kämen und wenn möglich bei unserem Besuch auch etwas kaufen würden. Das stimmte die Gegenseite plötzlich freundlich. Ich glaubte, wenigstens ein Aufleuchten gespürt zu haben. „Ja gut, aber ich habe wenig Zeit.“

Wir treffen nach 14 Uhr an der Spiegelgasse 8 ein. Eine Dame in schwarzem Mantel steht zwischen den Gestellen, ganz hinten im Raum sitzt eine Frau an einem Pult und arbeitet. Ich gehe auf Sie zu und melde uns an. Sie heisst uns willkommen.

Ein unbeschreibliches Gefühl beschleicht mich: Ich gehe Gestellen entlang, in denen unzählige Bücher, Musik-CDs und Film-DVDs stehen. Ich studiere die farbigen Titelbilder, verstehe aber nicht, worum es geht. Kyrillische Schriftzeichen, russische Sprache überall. Ich stelle mir vor, in Russland zu stehen – völlig fremd, verloren, ohne Orientierung. Mich schaudert.

Zum Glück gibt es auch an einer Wand ein Gestell mit ins Deutsche übersetzter russischer Literatur. An einer Seite klebt ein Frauenporträt. Es ist ein älteres Foto, leicht unscharf. Etwas traurige, grosse Augen schauen mich an. Ein hauchfeines Lächeln in den Mundwinkeln passt zum pfiffigen Pagenschnitt. Darunter ein Zitat: Man soll nur die Bücher schreiben, an deren Nichtvorhandensein man leidet. Es stammt von Marina Zwetajewa.

Diesen Namen, aber auch jenen des Büchleins, das ich für mich ausgesucht habe, hatte ich noch nie gehört: Ljudmila Petruschewskaja. „Es war einmal eine Frau, die ihren Mann nicht sonderlich liebte“ ist eine Sammlung russischer Schauergeschichten.

Als es ums Bezahlen geht, kommt die Frau vom Arbeitstisch an die Kasse, die vorne beim Eingang steht. Ich erlaube mir dann doch noch, ein paar Fragen zu stellen. Ob sie alle russischen Bücher im Laden selbst gelesen habe. Sie bejaht und sagt stolz, sie habe alles, was eine russische Buchhandlung an neuen Texten anbiete ebenfalls im Haus. Wie sie denn an das Wissen über neue Bücher herankomme, möchte ich wissen. Sie fuhr früher immer selbst an Messen. Heute verzichtet sie darauf. Sie habe ihre „Spione“ – sie zeigt dabei selbst Anführungszeichen – in Moskau. Ob sie denn auch Bücher auf Deutsch lese? „Nein, das ist zu anstrengend für mich. Ich habe viel zu lange und es ermüdet mich so“, sagt sie. Was sie von Schischkin halte, der in der Schweiz als Autor lebt, frage ich weiter. Sie windet sich etwas und sucht zu erklären, wie Schischkin Liebe darstelle. Sie verstehe ihn nicht, sie sei zu wenig intellektuell, sagt sie schliesslich. Da sei doch Nabokov ganz anders. Eiligen Schritts geht sie zum Gestell mit den deutschen Büchern, sucht und zieht ein schmales Taschenbuch heraus. Sie hält mir Maschenka hin und schwärmt von der Schönheit dieser Geschichte. Ich lasse mich überreden und lege auch dieses Büchlein zu meinem Einkauf. Sie freut sich und sagt, wenn ich alles gelesen habe, solle ich einfach wieder kommen. Ich lerne erst im Nachhinein, dass Nabokov zwar Russe war, aber nie auf Russisch Bücher veröffentlicht hat.

Unser Gespräch geht weiter. Sie gestikuliert und kommt ins Feuer. Ich erfahre, dass sie Wissenschaftlerin sei und im Sternzeichen Jungfrau, nämlich am 31. August, geboren. Auch ihren Vornamen erfahre ich „Jelena“. Ich wiederhole den Namen, sie korrigiert meine Aussprache, bis der Anlaut des Namens richtig klingt. Es ist etwas zwischen „Jelena“ und „Jälena“. – Ja, wenn ich es so sage, dann dürfe ich „Jelena“ sagen, sonst lieber Elena, wie der Name geschrieben wird und auch hier gebräuchlich ist.

Wie lange wir wohl geredet haben? Waren die Bücher der Sendung von gestern alle schon erledigt? – Ach ja, ich war in diesem Moment Kunde und für die hat „Jelena“ immer Zeit.

One thought on “Pinkrus, Zürich

  1. Eckstein Elena

    Kurzes Kommentar: erst ab 1940 (seiner Emigration) schrieb Nabokov fast nicht mehr auf Russisch (ausser „Andere Ufer“). Vorher aber – seine Gedichte, Erzählungen, 8 Romane etc. (darunter auch „Maschenka“) schrieb er (und veröffentlichte seine Bücher) selbstverständlich auf Russisch.

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