Rolex Learning Center EPFL, Lausanne

Hängende Bücherreiche

Michael Guggenheimer

Rolex Learning Center. So heisst eine Bibliothek in Lausanne, die gleichzeitig eine riesige Lese- und Lernlandschaft ist. Weshalb muss ein so grossartiger Bau den Namen einer Uhrenfirma tragen? Weshalb muss mehrmals im Gebäude eine hässliche grossformatige goldene Standuhr der Marke Rolex zu sehen sein? Klar, hier wird dem Hauptsponsor einer neuen Lese- und Arbeitslandschaft ein Gefallen getan. Es sind Fragen, die sich stellen und die bald angesichts der Besonderheit des Gebäudes in den Hintergrund treten.

Schon das ist besonders: Die Bibliothek, um die es geht, liegt nicht im Stadtzentrum, sondern im Westen der Stadt in einem Entwicklungsgebiet, in dem sich Uni und Technische Universität mit je einem eigenen Campus angesiedelt haben. Man geht von der S-Bahn Haltestelle EPFL der Linie M1 im Stadtteil Ecublens über eine Passerelle zu den Bauten des Westschweizer Sitzes der Eidgenössischen Technischen Hochschule, die hier Ecole Polytechnique Fédérale (EPFL) heisst, passiert eine Anzahl grosser Gebäude aus den 70er Jahren, mit denen man sich nicht anfreunden kann und die einen an architektonisch misslungene Universitätsbauten in Konstanz oder Bochum erinnern. Auf einmal nimmt man einen langgestreckten Bau aus Beton und Glas wahr, der in architektonischer und ästhetischer Sicht eine Besonderheit darstellt. Wie haben die Ingenieure bloss diesen Bau mit seinen 19’000 Quadratmetern statisch hinkriegen können, fragt man sich. Und wie sind die japanische Architektin Kazuyo Sejima und ihr Kollege Ryūe Nishizawa vom Büro SANAA auf die Idee gekommen, einen so langen, so geschwungenen, in der Luft an manchen Stellen hängenden, so eleganten Bau zu entwerfen? Als das Rolex Learning Center im Jahr 2010 eröffnet wurde, erhielten die beiden den Prizker Preis, die weltweit die angesehenste Auszeichnung für zeitgenössische Architektur.

Auf eine einzige horizontale Ebene ist dieser wellenartig geschwungene Bau reduziert worden. Eine sehr grosse Bibliothek, eine Buchhandlung, eine Cafeteria, ein Restaurant, Büroräume, ein Konferenzsaal, grosszügig dimensionierte Ruhezonen und sogar eine – etwas verlassen wirkende – Bankfiliale befinden sich auf dieser Ebene, die durchgehend rollstuhlgängig ist. Vornehmlich aber ist dieser Baukomplex ein Lernzentrum, ein Ort, an dem Semester- und andere Arbeiten verfasst werden. Treppen finden sich hier keine, einzig zur Garage führt eine kurze Treppe. Leichte Steigungen sind da zu überwinden, die manchmal durch meandrierende Pfade sanft bewältigt werden können. Wie Bodenwellen wirken diese Erhöhungen, sie sind auch fliessende Übergänge zwischen den einzelnen Bereichen dieser Architekturlandschaft, unter der eine grosse Parkgarage, ein Büchermagazin und technische Räume untergebracht sind.

Aus dem von den Architekten entworfenen riesigen pavillonartigen Bau mit 166×121m Seitenlänge ragen14 runde Patios mit Durchmessern von 7 bis 50 m, die von oben wie ausgestanzt aussehen. Als Laie fragt man sich nochmals, wie die Ingenieure und Bauleute die Kurven, die schiefen Ebenen und Dächer berechnen und dann konstruieren konnten. So gekonnt sind die Fensterflächen dieses Gebäudekomplexes konstruiert, dass in jedem Bereich helles Licht herrscht und Fotografen auch wegen der weissen Wände und des grauen Filzteppichbelags, der die ganze Anlage durchzieht, ihre Probleme beim Aufnehmen haben, weil hier so viel Gegenlicht und Helligkeit herrschen. Doch was soll’s, die Sorgen der Fotografen sind unwichtig angesichts der Genialität dieses Baus, der an jedem Tag von 7 Uhr früh bis Mitternacht offen und in dem Enge und Weite, hohe und niedrige Bereiche miteinander besondere Beziehungen eingehen.

Alles ist geschwungen; Arbeitsplätze für Studierende

Gerade diese Offenheit, in der nirgendwo Zwischenwände gebaut wurden, aber die Räume fast unmerklich durch die hügelartige Anordnung der einzelnen Bereiche getrennt sind, schafft Landschaften, die jeweils für sich dastehen und unterschiedlich möbliert sind. Die Namensgebung Learning Center macht deutlich, worin sich diese Bibliothek von anderen unterscheidet. Etwa 200 Tische, grosse und kleine runde, grosse und kleine rechteckige, sind über die ganze Anlage verteilt. Rund 900 Studenten können hier arbeiten. Zwischendrin je nach Fakultät oder Wissenschaftsbereich befinden sich die Bücherregale. Das Gros der 500 000 Bücher dieser Bibliothek aber ist nicht im Lesebereich zu sehen. Wer sich mit Maschinenbau befasst, kann dort arbeiten, wo die Architekturabteilung ihre Bücher hat, hier sind keine Institutsgrenzen zu erkennen. Die spezielle Innenarchitektur zielt darauf ab, den interdisziplinären Dialog und informelle Begegnungen zu fördern sowie Barrieren abzubauen. In geschlossenen Glaskabinen können sich Gruppen von Studierenden zum gemeinsamen Arbeiten zurückziehen, die Geräusche der Cafeteria und des Restaurants sind im so weitläufigen Bereich nicht zu hören. Gewöhnungsbedürftig bleibt die Tatsache, dass kein Raum im Learning Center rechteckig ist oder Kanten hat, kein Ort eine geschlossene Geborgenheit bietet: Überall scheint der Raum weiterzugehen, in den nächsten zu fliessen. In mehreren Regionen des Learning Centers stehen grosse grell farbige Kissen zur Verfügung, die man sich zu einer Art Liege zusammenstellen und wo man sich hinlegen und dösen kann, manche Studierende schlafen sogar ein, um sich nach einem Kurzschlaf wieder an ihren Arbeitstisch zu begeben. Orte der Arbeit und der Konzentration oder auch des Teamworks wechseln sich hier ab mit Ruhebereichen. Schmuck am Bau ist hier mit Ausnahme der etwas penetranten Rolexuhren nicht zu sehen. Und auch Pflanzen sucht man hier vergeblich, kann aber das Grün der Landschaft und die Weite des Genfersees sowie das französische Ufer gut sehen.

Rolex Learning Center EPFL
Station 20
1015 Lausanne
T: 021 693 42 37
http://rolexlearningcenter.epfl.ch/

 

Grau auf Grau

Heinz Egger

Dicke Betonschalen mit kreisrunden Ausschnitten als Grundlage des Gebäudes

Die Sonne brennt nieder. Ich stehe unter einer dicken Betondecke, die sich elegant wie eine aufsteigende Blase über mir wölbt. Es ist angenehm kühl unter dem grauen „Himmel“. Quadratische Flächen der Schalung, dunkle Spuren von Fahrzeugrädern, helle von Rost fallen mir auf. Nur aus der Luft ist zu erkennen, dass das Gebäude eigentlich rechteckig ist und in der Landschaft liegt wie ein fliegender, sanft gewellter Teppich. Der 2010 eröffnete Bau war ein beton-logistisches Meisterwerk, weil die Wellenteile in einem Guss hergestellt werden mussten. Darüber befindet sich das Gebäude, dessen Dach den Rundungen seiner Böden folgt.

Als ich eintrete, werde ich von viel Licht und grosszügiger Weite empfangen. Decken und Metallstützen sind weiss, die Möbel ebenso. Ein hellgrauer Nadelfilz überzieht den überall geschwungenen Boden. Durch das Gebäude zu gehen, gleicht der Wanderung durch ein hügeliges Land.

Im Haus gibt es drei Orte, die Verpflegung und Getränke anbieten, einen Empfang in der Nähe des Eingangs, einen Ruhebereich mit farbigen Kissen, eine Buchhandlung, ein Karriere-Beratungszentrum, Räume für die Alumni, ein Ableger einer Grossbank, die Presses Polytechniques et Universitaires Romandes (PPUR), den Personalized Counsel for Teachers (CRAFT) und natürlich die Hochschulbibliothek. Diese nimmt den grössten Raum ein. Im Untergeschoss findet sich die Infrastruktur wie Toiletten, Schliessfächer und eine ausgedehnte Tiefgarage.

Ich gehe zur Buchhandlung, die mich überrascht. Nicht nur wegen ihrer Grösse, sondern auch wegen ihren Möbeln und dem sehr breiten Angebot ist sie bemerkenswert. Entsprechend dem Gebäude sind die Bücherauslagen in runden Gestellen untergebracht. Halbkreise und Dreiviertelkreise in variierter Grösse sind es. So ergeben sich teilweise wie Innenräume. Das Angebot reicht von der Zeitung über ausgesuchte und dem universitären Umfeld angepasste Zeitschriften, Romanen, Comics, Kochbüchern, Architekturbüchern bis zu wissenschaftlichen Werken beispielsweise zu Chemie, Physik, Mathematik und Informatik. Aber es gibt für die Studierenden auch Papeteriewaren vom Kugelschreiber und farbigen Filzschstiften bis zu diversen Notizbüchern und -blöcken. Die Buchhandlung werde von allen benutzt, sagen mir die beiden Frauen an der Kasse. Da kämen alle Studierenden, die Angestellten und gar Leute aus der Stadt vorbei. Und Touristen.

Ich sehe die Bibliothek gegenüber der Buchhandlung, aber ich kann sie von da aus nicht erreichen. Die Wege sind mit Seilen abgesperrt. So begebe ich mich auf Wanderschaft über die Hügel und Täler zum Eingang auf der anderen Seite. So komme ich auf die Kuppel mit den Kissen, wo ein paar Studentinnen und Studenten sich schlafend erholen, passiere die Rückwand des Hörsaals, dann die Kiosk-Bar und die Empfangstheke. Überall stehen Tische mit Lampen. Viele sind besetzt. Oft sitzen auch mehrere Studierende an einem Tisch und Besprechen etwas. Auf keinem Tisch fehlt der Laptop und Stapel von Büchern und Papier. Trotzdem herrscht Ruhe. Schritte schluckt der Boden, Worte verhallen trocken an den Decken. Schliesslich folge ich einem Zickzackweglein hinauf zum Eingang der Bibliothek. Dies nicht ohne immer wieder hinunterzuschauen und zu betrachten, wie sich das Bild des Innenraumes verändert.

Der Bibliotheksseingang ist gesichert. Kein Buch soll die Bibliothek verlassen, ohne dass es korrekt als ausgeliehen registriert ist. Der Bestand ist immens. Er ist aufgeteilt in die Bereiche: Einseignement, Arts et Architecture, Revues, Sciences et Société, Sciences et Techniques. Letzterer ist in einem rechteckigen, langen Raum mit eigenen Zugangstüren untergebracht.

Ich gehe hinein und setze mich an einen der runden Tische im Eingangsbereich. Ich spüre, wie die Müdigkeit nach all dem Gesehenen mich schwer auf den Stuhl drückt. Ich nehme Notizen auf und sehe mich drauf noch etwas in den Büchergestellen um. Finde ich etwas zu Robotik in den silbergrauen Gestellen? Nein, aber solche über Big Data und die Auswertung der Datenberge. Im Untergeschoss wären noch die Monographien, die Bestände der Bibiliothèque Centrale, die Periodika, Diplomarbeiten und weiteres. Ich mag aber nicht mehr weitere Büchergestelle ablaufen.

Als ich auf dem Weg zurück zur Kiosk-Bar bin, merke ich plötzlich, dass ich meinen silberfarbenen Tabletcomputer nicht mehr habe. Oh je, wo habe ich den liegen gelassen? Ich habe mehrere Bücher aus den Gestellen genommen, um kurz den Inhalt zu sehen. Dafür habe ich den Computer jeweils abgelegt. Ich gehe zurück und wandere zwischen den Gestellen hin und her. Es wird doch nicht schwer sein, meinen Weg nochmals abzuschreiten. Ich glaube zu wissen, wo ich das Tablet für ein Foto hingelegt habe. Dank Fotos finde ich die Bücher wieder, aber nicht mein Schreibgerät. Ich beginne nochmals, zwischen den Gestellen, hin und her zu wandern. Nichts da. Die Tablare scheinen mein Gerät verschluckt zu haben. Ich werde nervös. Ich spreche einen jungen Mann an und erzähle ihm von meinem „Leid“. En français. Er fragt sofort, was für ein Thema denn zuletzt auf meiner Wanderung gewesen sei, dann nach dem vorletzten. Ich beginne meine Tour nochmals im Kopf abzuwickeln. Alles ist französisch oder englisch angeschrieben. Ach, was waren denn die Titel auf den Gestellen? Ich zeige ihm ein Buchseite, dessen Inhalt ich fotografiert habe. Er lacht, das sei etwas schwierig. Aber oben links auf dem Blatt steht: Text Analysis. Das ist der Schlüssel. Er weist mir sehr schnell den Weg zur Gestellreihe. Ich werfe einen Blick hinein. Und ich sehe eine Ecke des Geräts über den Tablarrand herausragen. Uff, bin ich erleichtert! Und für die Hilfe dankbar. Wie hätte ich das Gerät orten können? Es hat ja keine Verbindung zum Internet, ich bin nirgends eingeloggt auf dem öffentlichen Netz der Anlage. Auch keinen Handy-Empfang hat es! Und wenn jemand mehr als dreimal den Code falsch eingibt, dann ist alles weg, gelöscht. Auch diese Notizen.

 

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