Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich

Ort sozialer Themen

Michael Guggenheimer

Es ist eine Art Wiedersehen. Ein Wiedersehen mit einer veränderten Institution an einem neuen Ort. Ich kann mich noch so gut erinnern: Als Student sass ich häufig im obersten Stockwerk eines Eckhauses am Neumarkt und arbeitete mich durch Dossiers mit Zeitungsausschnitten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, um welche Themen es damals ging, aber gewiss nicht um Belletristik, eher um Strafreform, Sozialarbeit (sagte man damals nicht noch Gemeinwesenarbeit?), Pazifismus, Flüchtlinge und Nahost. Und ich sehe noch den Leiter der Institution vor mir: Miroslav Tucek hiess er. An die alte Tafel mit ihren goldenen Lettern auf schwarzem Grund kann ich mich nicht mehr erinnern. Am neuen Ort an der Stadelhoferstrasse hängt sie neben dem Auskunfts- und Ausleihschalter.

Haus des Sozialarchivs in der Nähe des Bahnhofs Stadelhofen

Ich schäme mich, es zugeben zu müssen: Seit 35 Jahren ist das Sozialarchiv am «neuen» Ort und ich war in all diesen Jahren nie dort. Und doch, im Haus war ich in den letzten Jahren immer wieder, im ersten Kellergeschoss, wo sich das Theater Stadelhofen befindet. Ich habe dort sogar Veranstaltungen organisiert und moderiert. Weshalb bloss habe ich erst jetzt das Sozialarchiv entdeckt? Weshalb bin ich nicht zum ersten Stockwerk hinauf? Dabei birgt die Bibliothek des Sozialarchivs Schätze zu Themen, die mich heute interessieren. Und zudem sind die schönen Arbeitsräume dieser Institution ein guter Arbeitsort, zentral gelegen. Ich steige die Holztreppe hinauf, schaue mir die Fotografien an, die im Treppenhaus die Geschichte des Sozialarchivs erzählen und befinde mich im ersten Stock, wo eine Menge Flyers auf aufliegen, die auf Veranstaltungen hinweisen. Ein langer Gang mit Ausstellungsvitrinen, in denen Bilder und Texte zu einem Thema zu sehen sind, welches im Archiv verfolgt wird. Dann die Auskunftstheke und gleich anschliessend der Zeitschriftenraum: Leseplätze auf einem bequemem Sofa und Clubstühlen sowie an breiten Arbeitstischen. Die «Republik», das Onlinemagazin, kann man hier an einem der Bildschirme auch dann lesen, wenn man selber nicht Abonnent ist. In den Gestellen 36 Tageszeitungen und 36 Zeitschriften in mehreren Sprachen. Die hier präsentierten Zeitschriften bilden allerdings nur einen Bruchteil der im Haus vorhandenen Periodika: Ein Monitor bei der Auskunfts- und Ausleihtheke weist 934 Zeitschriftentitel aus 13 thematischen Oberbereichen wie Migration, Minderheiten, Arbeit, Wirtschaft, Gesellschaft, Soziologie, die im Haus geführt werden. Und zu jeder Zeitschrift gibt es noch eine Beschreibung und Ortsangabe. Und nochmals staune ich über mich selbst: Weshalb habe ich diese Bibliothek und ihre Schätze so lange nicht aufgesucht?

Das Schweizerische Sozialarchiv ist gleichzeitig eine wissenschaftliche Bibliothek, ein historisches Archiv und eine aktualitätsbezogene Dokumentation. Thematische Schwerpunkte betreffen beispielsweise das Zusammenleben der Generationen, Geschlechterverhältnisse, Sozialpolitik, Gewerkschaften, Parteien, politische und soziale Bewegungen, Kommunikation, Umwelt, Verkehr. Die Sammlung umfasst Bücher, Zeitschriften, Archivalien, Handschriften, Plakate, Pins, Zeitungsausschnitte, Broschüren und Flugschriften, Ton- und Bilddokumente sowie elektronische Zeitschriften und eine digitale Pressedokumentation. Wie breit und wie gross die Bestände sind, ahnt man nicht, wenn man die Lese- und Arbeitsräume des Archivs anschaut. Denn beim Sozialarchiv handelt es sich nicht um eine Freihandbibliothek: Tief unter dem Gebäude im sehr grossen Kellerbereich befinden sich die Magazine. Eine kleine Transportbahn befördert jene Bücher, Dokumente und Dossiers nach oben zur Ausleihe. In den Arbeitsräumen herrscht konzentrierte Stille. Studierende sitzen hier, Bücher vor sich, aufgeklappte Laptops, unter der Woche sind fast alle Arbeitsplätzte belegt. Nicht alle, die hier arbeiten, gehen sozialen Themen nach. Manche bereiten Prüfungen vor, andere sind an einer Seminararbeit. Wer mit den Beständen des Hauses an einem Thema arbeitet, zu dem das Archiv Materialien sammelt, kann hier  einen Arbeitsplatz reservieren. Es sind schöne Arbeitsräume einer früher vornehmen und geräumigen Stadtwohnung. Stuckdecken, eine rote Textiltapete in einem der Räume. Es sind Räume, die geschmackvoll renoviert wurden.

altes Schild der "Zentralstelle für Soziale Literatur"

«Das Schweizerische Sozialarchiv», so heisst es in der Beschreibung der Institution, «wurde 1906 vom Verein „Zentralstelle für soziale Literatur der Schweiz“ gegründet. Zweck der Zentralstelle sollte es sein, die „soziale Frage“ zu dokumentieren und „diese Sammlung allen Interessenten unentgeltlich zugänglich zu machen“. Unter der Leitung von Miroslav Tucek erlebte das Sozialarchiv ab 1968 einen wesentlichen Ausbau und wurde zu einer Institution mit gesamtschweizerischer und internationaler Ausstrahlung. Unter seiner Nachfolgerin Anita Ulrich schaffte das Sozialarchiv den Sprung ins Zeitalter der neuen Informationstechnologien.

Drei Abteilungen umfassen die Sammlungen des Sozialarchivs: Die Bibliothek, das Archiv und die Dokumentation. Die Abteilung Bibliothek sammelt und archiviert Bücher und Zeitschriften sowie Non-Books. Im Zentrum der Sammlung stehen der Wandel der sozialen Frage sowie die soziale Dimension wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen in der Schweiz. Die Archivabteilung sammelt Körperschaftsarchive traditioneller und neuer sozialer Bewegungen sowie private Dokumente von Aktivistinnen und Aktivisten solcher Bewegungen. Bei den traditionellen sozialen Bewegungen liegt der Sammelschwerpunkt auf der Arbeiterbewegung, insbesondere auf den politischen Parteien und deren Frauen- und Jugendorganisationen, auf den Gewerkschaften und auf den Arbeiter-Sport- und -Kulturorganisationen. Unter den neuen sozialen Bewegungen sind die Ökologiebewegung, die Solidaritätsbewegung, der Faire Handel, die Friedensbewegung sowie die Schwulen- und Lesbenbewegung zu nennen. Um die aktuellen sozialen Themen zeitnah zu dokumentieren, sammelt das Sozialarchiv auch Broschüren, Flugschriften und Flugblätter: Streitschriften, Pamphlete, Traktate, Aufrufe. Diese Dokumente sind in thematisch geordneten Sachdossiers abgelegt. Zusätzlich verfügt das Sozialarchiv über eine Zeitungsausschnittsammlung auf Papier, in der sich der soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Wandel in der Schweiz seit 1945 widerspiegelt. Für neuere Presseinformationen bietet das Sozialarchiv die elektronische Pressedokumentation PresseDox an. Somit kann der Pressediskurs in der Schweiz zu einem bestimmten politischen oder gesellschaftlichen Thema über einen längeren Zeitraum verfolgt werden. All das lese ich in den Unterlagen des Archivs. Und ich weiss, ich werde wiederkommen!

Schweizerisches Sozialarchiv
Stadelhoferstrasse 12
8001 Zürich
T: 043 268 87 50
www.sozialarchiv.ch

Der Sozialbauch

Heinz Egger

Wenn ich ans Sozialarchiv denke, so kommen da zuerst Erinnerungen hoch. Sie sind über vierzig Jahre alt. Damals, als ich als junger Student in den Sommersemesterferien an einer Geschichtsarbeit sass, besuchte ich das Archiv oft und stundenlang. Wenn ich mich richtig erinnere, drehte sich das Thema um die Revolution im Reisanbau in Indien. Neue, ertragreichere Sorten veränderten das Leben von Millionen Leuten. Ich ackerte Bücher durch und wälzte zu Büchern gebundene Zeitungsjahrgänge auf der Suche nach verwertbaren Artikeln zum Thema. – Damals lag das Schweizer Sozialarchiv noch am Neumarkt.

Und auch das war nicht der erste Ort, des Archivs. Wer heute zur Tür an der Stadelhoferstrasse geht und den ersten Tritt der Treppe erklimmt, entdeckt in Bildern und Texten, die über die Aussenwand des Treppenhauses laufen, bei jedem Schritt ein Stücklein des Werdegangs des Archivs. Vor über 100 Jahren begann der Zürcher Pfarrer Paul Pflüger, der auch der „rote Pfarrer” genannt wurde, eine Sammlung von Schriften und Büchern zur sozialen Frage. Dabei war auch er sehr aktiv und schrieb über fast jedes Thema, von Glaubensfragen, Prostitution, Alkoholismus, Militarismus, Wahlsystem, Wohnungs- und Bodenfragen bis zum Acht-Stunden-Tag. Denn er war überzeugt, dass nur über eine objektive und exakte Dokumentation die drängenden sozialen Fragen zu beantworten waren. Die „Zentralstelle für soziale Literatur”, wie er sein Werk nannte, wurde rasch bekannt. Sogar Lenin und Trotzki nutzten sie. Aber nicht nur sie. Pfarrer Pflüger erreichte, dass bis zu einem Drittel der Ausleihen von Arbeiterinnen und Arbeitern getätigt wurden. Ab den 1930er Jahren war der Lesesaal der Zentralstelle ein wichtiger Treffpunkt für Flüchtlinge. Es war einer der wenigen Orte auf dem Kontinent, wo auch antifaschistische Literatur zu finden war. 1942 erhielt die Institution ihren heutigen Namen. Da die Bestände im Krieg unversehrt blieben, konnte das Schweizer Sozialarchiv ausländischen Dokumentationsstellen beim Wiederaufbau helfen.

Besonders wichtig für die Entwicklung war die Anerkennung als Hilfsdienst durch den Bund 1974. Dank der vom Bund gesprochenen Gelder konnte damals auch der erste Archivar eingestellt werden.

Der erste Sitz der Zentralstelle war am Seilergraben, wo sie in einer Zweizimmerwohnung der Stadt eingerichtet war. Ab 1919 war sie an der Predigergasse, ab 1957 am Neumarkt und ab 1984 an der Stadelhoferstrasse.

In der langen Zeit hat sich ein riesiger Schatz an Büchern angesammelt. Es ist eine Bibliothek von über 140 000 Büchern zusammengekommen. Dabei wurde nicht nur über die Schweiz, sondern auch die internationale Literatur gesammelt. Dabei gibt es 1600 Titel laufender Periodika. Für ein möglichst vollständiges Bild, werden auch extrem linke, rechte und der alternativen Szene zugehörige Schriften zusammengetragen.

Seit 1945 werden auch systematisch Zeitungsausschnitte gesammelt. Sie stammen vorwiegend aus der Schweizer Tagespresse. Weit über eine Million davon sind zugänglich. Ausserdem beherbergt das Archiv eine wertvolle Sammlung von Kleinschriften, etwa Flugblättern, Abstimmungs- und Wahlkampagnen, Demonstrationsaufrufen, Traktaten und Programmen. Heute lagern auch die Akten von über 300 Körperschaften, wie Gewerkschaften, Kultur- und Sportbewegung, Sozialdemokratische Partei der Schweiz, Archive der Neuen Linken, Frauen- Jugend-, Friedens-, Umwelt-, Alternativ- und Homosexuellenbewegung, und von über 70 Personen in den Compactus-Anlagen.

Seit 2003 werden auch Fotos, Filme, Videos und Tonaufnahmen gesammelt. Diese Materialien zu erhalten und zugänglich zu halten ist eine grosse Herausforderung und es bedarf auch neuartiger Erschliessungskonzepte. Die Digitalisierung ist eines davon. Das Sozialarchiv ist längst national und international vernetzt. Recherchen können heute bequem von daheim aus gestartet werden, da die Institution am Nebis-Katalog angeschlossen ist. Wer Zugriff auf die elektronischen Zeitungsarchive braucht, findet ihn im Zeitschriftenlesesaal an einer Recherchestation. Damit ist das heutige Archiv eine Fundgrube nicht nur für historische Recherchen,  sondern auch für aktuelle Themen.

Arbeitsräume im Sozialarchiv

Historische Nachforschungen habe ich ja damals auch betrieben. Und auch heute sitzen in den beiden Arbeitsräumen an langen Tischen junge Leute in ihre Dokumente vertieft. Die einen sitzen unter einer goldverzierten Stuckdecke vor seidenen, purpurroten Tapeten, die anderen in einem hellen Raum unter weisser Stuckdecke. Auch hier ist die Luft wie damals schwer, verbraucht und ruft nach einem offenen Fenster. Neu sind nur die Laptops, in die eifrig Notizen getippt werden. Ob alle an sozialen Themen arbeiten? Wohl kaum. Wer aber eine entsprechende Arbeit schreibt, kann sich einen Platz reservieren lassen.

Reiche Auswahl an verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften

Im Zeitschriftenlesesaal stecken in schwarzen Kästen den Wänden entlang Dutzende Zeitschriften und Zeitungen von A wie „Afrika-Bulletin” bis Z wie „Zeitlupe”. Darunter gibt es eine russische Zeitung, deren Kopfteil mit einem Porträt von Lenin geschmückt ist, die „Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift” oder „Streit”, eine feministische Rechtszeitschrift.

Wer allerdings auf die Bestände zugreifen will, muss zuerst aus einem Recherche-PC herausholen, was es im Sozialarchiv gibt. Alle Bestände lagern nämlich tief unter dem Boden in einem speziellen, befestigten Betongeschoss. Die Bestellung gibt man an der Theke ab und innerhalb von etwa einer halben Stunde sind die Bücher aus dem Bauch da.

Die Bücherbahn vom Keller zur Theke des Sozialarchivs

Ein System mit fahrenden schwarzen Koffern fördert sie nach oben. Das System sei etwas in die Jahre gekommen, sagt Diego Bernhard an der Info-Theke, und auch mit regelmässigem Service gebe es hin und wieder Störungen. Aber die Kolleginnen und Kollegen kennen die Anlage so gut, dass sie diese auch selber wieder flott machen können.