Kleine Kammern. Modern
Michael Guggenheimer
Es gibt Leute, die meinen, Bibliotheken seien im Zeitalter des Internets Institutionen von beschränkter Lebensdauer. Dass dem nicht so sein muss, beweist die Stadtbibliothek Aarau. In Aarau wird gezeigt, dass Bibliotheken mehr sind als Bauten mit Regalen, die voller Bücher sind. Und in Aarau kann man erleben, dass eine gut besuchte Bibliothek nicht in einem spektakulären Neubau untergebracht sein muss.
Am Rande der Altstadt und auf dem Weg vom Bahnhof zur Innenstadt befindet sich das denkmalgeschützte „Hübscherhaus“, das 1780 als Wohnhaus für den Handelsmann und späteren Stadtammann Johann David Frey erbaut wurde. Die ursprüngliche Zweckbestimmung als Wohnhaus ist noch heute in der Raumaufteilung sichtbar. Das kann hinderlich und als Chance für die Zweckbestimmung als Bibliothek sein. Wandelt man in den oberen Geschossen der Bibliothek von einem Raum zum nächsten, dann fällt einem die Kleinräumigkeit des ehemaligen vornehmen Bürgerhauses auf, in dem während mehreren Jahrzehnten Arzt- und Rechtsanwaltspraxen domiziliert waren. Das hat zur Folge, dass manche Räume etwas beengt wirken. Handkehrrum lassen sich diese Räume für je eine Sammelrichtung einrichten. Man kann sich so auf einen Teil der Sammlung konzentrieren, ohne sich von der Vielfalt der Sammelgebiete und Themen der Bibliothek ablenken zu lassen. In mehreren Räumen stehen noch schöne Kachelöfen.
Im modernen grossräumigen Kellergeschoss mit seinem breit ausladenden Tonnengewölbe – hier war einst das Restaurant Stadtkeller untergebracht – wurde das Kammersystem in lockerer Weise übernommen. Ganz unten im Haus befinden sich die Sach- und Fachbücher, während in den oberen Geschossen die Belletristik und die Kinder- und Jugendbücher auf die Literaturflaneure warten. Schön ist das Leitsystem: An den Sockeln sowie an den Stirnseiten der einzelnen Büchergestelle ist jeweils in grosser Schrift angegeben, welche Büchersparte in den Gestellen zu finden ist.
„Die Räumlichkeiten bieten sich für Veranstaltungen aller Art. Vermehrt wählen auch Externe das zentral gelegene Haus für die Durchführung ihrer Anlässe. Das ist positiv, weil dadurch viele Menschen in die Bibliothek kommen und nebenbei das attraktive Medienangebot kennen lernen“, heisst es im Bericht der Bibliothek für das Jahr 2017. Täglich gingen im Schnitt im selben Jahr 607 Personen ein und aus in der Bibliothek, fast 200 000 waren es über das ganze Jahr verteilt. Dass die Bibliothek so gut frequentiert wird, hat nicht nur mit dem Bücherangebot zu tun, sondern gewiss auch mit der Vielfalt an Angeboten. Neue Angebote wie ein „Bibliotheks-Generalabonnement“, eine „Flatrate für DVDs“, Leseförderungsprojekte mit Namen wie „Waldgeschichte“, „Buch und Essen“, die Filiale in der Badanstalt im Sommer, das an sieben Tagen der Woche geöffnete Bibliothekscafé mit Namen „Café littérarire“ sowie die Sonntagsöffnung in den Wintermonaten haben eine Zunahme von Besucherinnen und Besuchern zur Folge gehabt. Mit der Zunahme der Besucher und der Nachfrage ist die ursprünglich nur in einem Stockwerk untergebrachte Bibliothek mit den Jahren gewachsen und belegt heute alle Stockwerke der historischen Liegenschaft.
Wie innovativ die Crew der Stadtbibliothek ist, zeigen Angebote wie die „Bibliothek im Wartezimmer“: Ein von der Bibliothek zusammengestelltes Buchpaket verkürzt Eltern und Kindern die Wartezeit in Arztpraxen sinnvoll und regt zum Lesen und Vorlesen an. Die Stadtbibliothek übernimmt die regelmässige Wartung der Kiste. „Buch und Essen“, ein anderes Angebot, bietet die Möglichkeit, Feste im Bibliotheksgebäude durchzuführen. Dazu gehört auch eine Führung durch das Haus und anschliessend ein Essen vom kanadischen Gourmet-Koch Gregory Kilcullen. „Ein Gast, ein Buch“ heisst ein weiteres Sonntags-Winterangebot: Ein Gast spricht über sich und sein Leben. Sein Lieblingsbuch ist der Ausgangspunkt und führt wie ein roter Faden durch das Gespräch.
Zudem finden jede Woche fremdsprachige Geschichtenstunden in neun Sprache statt. Kinder kommen unbegleitet oder mit ihren Eltern in die Bibliothek und eine Fachperson fremder Muttersprache erzählt aus Büchern der jeweiligen Muttersprache und stellt Bücher vor. Dass Kindergeburtstage nicht unbedingt in Materialschlachten in einer McDonald-Filiale stattfinden müssen, beweist ein Angebot, bei dem Geschichten, Spiele sowie Gebäck und Getränke kombiniert werden können.
„Sprachen lernen im Tandem“ nennt sich ein Angebot für Erwachsene: Im 2. Stock bei den Sprachkursbüchern findet sich eine Pinnwand mit Zetteln zum Ausfüllen. Da suchen Menschen, die eine Sprache erlernen wollen, Partner einer anderen Muttersprache. Wer eine Sprachpartnerin oder einen Sprachpartner gefunden hat, kann sich im Café littéraire oder in einem anderen Raum zu einem zweisprachigen gegenseitigen Privattreffen einfinden. „Lesementoring für Schulkinder“ heisst ein Angebot, bei dem sich ein fremdsprachiges Kind Woche für Woche zu einer bestimmten Zeit und jeweils mit derselben erwachsenen Person trifft: Die erwachsene Person liest mit einer Schülerin oder einem Schüler der Primarstufe ein Buch, um die Lesekompetenz des Kindes zu stärken und Freude am Lesen zu wecken. Diese Leseförderung, zu der auch Redetraining in deutscher Sprache gehört, findet ausserhalb des regulären Unterrichts statt. Zwanzig Lesementorinnen und –mentoren stehen für dieses Programm der Bibliothek zur Verfügung. Um Lesementorin und Lesementor zu werden, bietet die Bibliothek Erwachsenen Weiterbildungstage an, an denen sie Techniken zum gemeinsamen Lesen auffrischen können und Inputs zur didaktischen Arbeit mit Kindern erhalten.
Danach befragt, ob sie eine Lieblingsbibliothek (zusätzlich zur eigenen) nennen könne, nennt Bibliotheksleiterin Lilo Moser spontan die OBA. Bereits zweimal hat sie sich dieses riesige Bibliothek neben dem Amsterdamer Hauptbahnhof angeschaut, ein Mal sogar in Begleitung von Mitarbeiterinnen. Die OBA sei ihre Vorbildbibliothek, obschon sich Aarau kaum mit Amsterdam vergleichen lasse. „Wir versuchen das anzubieten, was unsere Besucher haben wollen. Die ausserschuliche Leseförderung und die Integration von Minderheiten sind uns zudem wichtig“, ergänzt Bibliotheksleiterin Moser. Fast hätten wir vergessen vor lauter Angeboten auf die Reichhaltigkeit der Bibliothek hinzuweisen. Und vor lauter Aktualität ist noch untergegangen, dass die Stadtbibliothek Aarau bereits im Jahar 1776 auf private Initiative hin gegründet wurde und somit zu den ältesten öffentlichen Bibliotheken der Schweiz gehört.
Stadtbibliothek Aarau
Graben 15
5001 Aarau
T: 062 824 50 11
www.stadtbibliothekaarau.ch
„E Reis ufere Geiss…“
Heinz Egger
Nicht jedem Haus widerfährt solches: 1968 wurde das 1782 gebaute Wohnhaus um 54 Meter verschoben! Das Haus hat auch davor eine wichtige Geschichte. Der Bauherr war ein Republikaner und engagierter Unterstützer des Umsturzes von 1798. Er war auch Grossrat und Stadtammann. Das klassizistische Gebäude mit quadratischem Grundriss trägt ein Walmdach, die Geschosse sind alle gleich gestaltet, die Fassade ist weiss und horizontal nicht gegliedert. Von der Kasinostrasse her schaut einen eine trutzige Fassade mit einem Krüppelwalmdach an. Eine Festung also? – Nein, aber Schätze enthält es trotzdem, denn seit der Verschiebung beherbergt das Haus die Stadtbibliothek.
Ein Rundgang im Haus zeigt, dass hier einst ein herrschaftliches Wohnhaus gebaut worden ist. Die Zimmer in den oberen Stockwerken haben schlichte, aber edle Kachelöfen. Die grossen Fenster spenden grosszügig Licht. Um die Zirkulation in der Bibliothek zu unterstützen, sind alle Zimmer mit Türen zum Nachbarraum versehen. So ist es möglich, durch die Zimmer ums Treppenhaus herumzugehen.
Im Untergeschoss und in den beiden oberen Stockwerken finden sich die Bücher, Film- und Tonträger. Alle Gestelle sind mit einem Band beschriftet, auf dem der Gestellinhalt fortlaufend wiederholt wird. Auf den Tablaren stehen schwarze Klötze mit der Dezimal-Einteilung des Bestandes rechts davon.
Im Parterre, gleich nach dem Eingang rechts ist die Selbst-Ausleihe eingerichtet, links der grosszügige Raum mit der Informationstheke und dieser Theke gegenüber an der Wand zum nächsten Raum ein langes Gestell mit Neuanschaffungen. Ich schaue mich darin etwas um und sehe kein Buch, das an den Solothurner Literaturtagen von Anfang Mai 2018 im Zentrum stand. Da mich Maja Gebhard vom Kundendienst fragt, ob ich etwas suche, kommen wir ins Gespräch. Ich suche die Bücher der Literaturtage, sage ich, beispielsweise jenes von Assaf Gavron oder von Najem Wali. Sie sei sicher, dass diese auf der Bestellliste seien oder sogar schon im Haus. Das Bibliotheksteam sei sehr darauf aus, die neuesten Bücher im Haus zu haben. Und darauf sei man auch stolz. Meine spätere Nachforschung im Katalog ergibt, dass sowohl die „Achtzehn Hiebe“ von Assaf Gavron wie „Saras Stunde“ von Najem Wali schon vorhanden sind. Vielleicht habe ich sie auf dem Streifzug durch die Bibliothek verpasst, auch wenn sie wahrscheinlich mit einem blauen, runden Einstecker gekennzeichnet sind. Und es fällt auf, wie viele der Bücher mit „Neu“ um Aufmerksamkeit werben.
Etwa 100’000 neue Titel erscheinen jährlich auf Deutsch. Wie geht die Bibliothek damit um? Maja Gebhard sagt, natürlich müsse man da stark auswählen. Einerseits sei das Bibliotheksteam damit betraut, aber auch die Nutzerinnen und Nutzer dürfen ihre Wünsche anbringen. Normalerweise werden diese Wünsche auch erfüllt. Ausser es handle sich um ein Werk, bei dem vorauszusehen sei, dass es möglicherweise nur sehr selten ausgelehnt werde. Und trotzdem. Die Bibliothek wurde 2000 umfassend renoviert und erweitert. Die Bestände wachsen aber so stark, dass man überall an Grenzen stosse. So lese ich im ersten Stock auf einem Gestell „Comics für Erwachsene“. Im Gestell befinden sich aber lauter Hörbücher. Die Comics mussten umziehen und befinden sich nun im Keller bei den Medien „Musik und Tanz“. 10% des Bestandes werde jährlich aussortiert, sagt Maja Gebhard. Das müssen Hunderte Medien sein. So viele sind es, dass an fünf Samstagen von Frühjahr bis Herbst vor der Bibliothek ein Flohmarkt stattfindet.
Im Raum, der an jenen mit der Informationstheke anschliesst, steht der Automat für die Rückgabe der Bücher. Er liest den RFID-Chip aus und bucht das Medium zurück. Neben dem Automaten können die zurückgebrachten Bücher und Medien in ein Gestell geschoben werden. Hier holen sie die Bibliothekarinnen ab, sortieren sie und verteilen sie mit Bücher-Rollis wieder in der Bibliothek. Viel Handarbeit bedeutet das und es ist eine physisch recht anstrengende Tätigkeit!
Der nächste Raum ist der Zeitschriftensaal. Zwei Fauteuils – einer orange, der andere schwarz-weiss gestreift – und ein Tisch mit bequemen Stühlen laden ein, mit der Lektüre gleich loszulegen. Wer es vorzieht, kann seine Lieblingszeitung oder -zeitschrift auch mit in den letzten Raum der Etage, ins Café littéraire mitnehmen und sie dort bei einem Kaffee und etwas Süssem lesen.
Im Café finden abends immer wieder Veranstaltungen statt. Buchpremièren, Lesungen. An diesem Abend sind Yael Inokai und Michael Fehr, beide mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet, zu Gast.
Dies ist nur einer der Wege, Publikum ins Haus zu locken. Im obersten Stock gibt es zwei Zimmer, in denen Veranstaltungen stattfinden. Am Tag unseres Besuchs sind es „Lesemonitoring für Schüler“ und „Geschichten auf Spanisch“. Im Zimmer zwei befindet sich auch ein Bibliotheksteil: fremdsprachige Bücher. Es gebe immer wieder Kundinnen und Kunden, die reklamierten, dass sie nicht an die Bücher kämen, sagt Maja Gebhard. Aber bei etwa zwei ausgeliehenen englischen Büchern pro Tag, sei das wohl zu verschmerzen.
Schon die ganz kleinen Kinder werden abgeholt. Sie werden zu „Gigampfe, Värsli stampfe“ eingeladen. Eine Postkarte zeigt vorne eine Schaukelpferd und auf der Rückseite die Daten der Veranstaltung. Monatlich und zusätzlich an sechs Sonntagen sind die Kleinsten zu einer Reise auf einer Geiss willkommen. Ja, die Bibliothek ist im Winterhalbjahr auch sonntags offen. Die Bibliothek sei eben auch ein Begegnungsort, ein Ort, an dem man nicht allein sein müsse, sagt Maja Gebhard. Alle Aktivitäten der Bibliothek sind auf der Website aufgeführt.