Stadtbibliothek am Mailänderplatz, Stuttgart

 

Schlaflos in Stuttgart

Michael Guggenheimer

Die Zeit des Buches sei vorbei. Den Satz liest man immer wieder. Ist das so? Nein, gewiss nicht. Neue Bibliotheken entstehen, moderne Büchertanker an attraktiven, gut erreichbaren Lagen in der Stadt. OBA Amsterdam, Unibibliothek Freiburg im Breisgau, die Bibliothek der Kunstakademie in Halle, die Juristische Bibliothek von Calatrava in Zürich, die Kantonsbibliothek Liestal im ehemaligen Weindepot oder die Kantonsbibliothek in der Hauptpost St.Gallen. Man könnte sich regelrecht auf „Bibliotourismus“ spezialisieren.

Nachts blau beleuchtetes Bibliothekshaus

Zum Beispiel Stuttgart, Mailänder Platz im neu entstehenden Europaviertel, nur eine Haltestelle mit der U-Bahn vom Hauptbahnhof entfernt. Ein grosser weisser Kubus, nachts blau erleuchtet. Entworfen hat das würfelförmige Gebäude der koreanische Architekt Eun Young Yi. Der erste Eindruck angesichts der Grösse des Gebäudes: Der Eingang zu diesem wuchtigen Bücherhaus ist eindeutig zu klein geraten. Hat man aber das Haus betreten und befindet man sich im „Herz“ genannten Lichthof, dann sieht man sofort: Die Stadtbibliothek Stuttgart ist ein offenes Gebäude mit Eingängen an allen vier Seiten des Kubus. Klar die Signaletik im Haus, einzig die Aufzüge scheinen dem Andrang der Benutzer nicht gerecht zu werden, manchmal kommt man zu Fuss schneller hinauf als mit dem Lift.

Alles ist hell, die Bücher geben die Farbe dazu

Acht Stockwerke voller Bücher. Jedes Stockwerk trägt einen Namen. Die Stockwerke heissen Musik, Kinder, Leben, Wissen, Welt, Literatur und Kunst. Und weil Verwaltung auch sein muss, heisst ein Stockwerk Direktion, Verwaltung. Grosszügig ist das Gebäude angelegt. Von den Treppen, welche die Stockwerke miteinander verbinden sowie von den Galerien ist der Blick frei: Die Farbe weiss dominiert und wird von den vielen farbigen Bücherrücken aufgelockert. Weiss die Böden, weiss die Wände, weiss die Büchergestelle. Bequeme Sitzgruppen in hellblau laden überall zum Sitzen ein, Arbeitsplätze auf jedem Stockwerk. Genial gut die Lösung des Kinder- und Jugendbereichs: Anders als in manchen anderen neuen Bibliotheken ist dieser Bereich architektonisch so angelegt, dass Kinderlärm, der in einer so grosszügig angelegten Kinderbibliothek unweigerlich ist, nicht zu jenen Stockwerken dringen kann, in denen Studierende konzentriert an der Arbeit sind.

Sechs Stockwerke weisen sogenannte Kabinette auf, Arbeitsräume für Lesende. Das Josephine-Lang-Kabinett, das Max-Horkheimer-Kabinett, ein Maria-von-Linden-Kabinett, das Jella-Lepman-Kabinett, dann noch das Carl Engelhorn-Kabinett und eines benannt nach Johannes-Poethen. Max Horkheimer? Klar. Den Mann kennt man, auch wenn man noch nie ein Buch von ihm gelesen hat. Aber wer sind die anderen? Es sind Namen von früher in einem Gebäude von heute. Das erste Stockwerk mit seinen Musikbüchern, Noten, CD’s sowie mit dem Klangstudio ist nach Josephine Lang benannt. Es macht Sinn. Denn Josephine Caroline Lang, im Jahr 1880 im fast benachbarten Tübingen gestorben, war eine deutsche Liedkomponistin. Max Horkheimer im dritten Obergeschoss: Hier befinden sich die Sachgebiete Philosophie, die Psychologie. Und Das vierte Obergeschoss? Maria von Linden legte als erste Württembergerin das Abitur am Stuttgarter Realgymnasium. Dank einer Sondergenehmigung des württembergischen Königs konnte sie 1892 das naturwissenschaftliche Studium an der Universität in Tübingen antreten. Sie war damit der erste weibliche Student dieser Universität und Württembergs. Auf „ihrem“ Stockwerk befinden sich Bücher aus den Sachbereichen Mathematik, Naturwissenschaften, Technik und Handwerk. Und was hat es mit Carl Engelhorn auf sich, an den im Stockwerk mit den Büchern zum Themenfeld „Welt“ erinnert wird? Und wer ist Johannes Poethen, dessen Name im Literaturstockwerk zu lesen ist? Wir befinden uns in einer riesigen Bibliothek, kein Problem der Frage nachzugehen: Lexika stehen hier in den Gestellen, Computer stehen auf den Tischen. Und Ja, man kann in Stuttgart sogar stunden- oder tageweise einen Laptop mieten!

Galeriesaal

Man lasse die Namen, die auf einem grossen Info-Bildschirm zu lesen sind und schaue sich um. Im Erdgeschoss Literatur über Stuttgart. Das ist gut so, denn das Haus ist schon kurz nach seiner Eröffnung zu einem wahren Magnet für Touristen- und Fotografen geworden. Man kann sich hier hinsetzen, über Stuttgart, über die Umgebung der Stadt und über die Bibliothek in Bildbänden, Stadtführern, Prospekten und am Bildschirm lesen. Fremdsprachige Zeitungen aus dem Ausland? Pas de problème in diesem Bücherbau. Und dass die Bibliothek sich an alle Bewohner der Stadt richtet, wird klar, wenn man an Bücherregale vorbeizieht in denen Bücher in Türkisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, Italienisch, Französisch, Englisch, Arabisch, Chinesisch und sogar in Sorbisch darauf warten, mit nach Hause genommen zu werden.

Diskret die Herren von einer Industriebewachungsfirma im Haus: Ein moderat uniformierter Herr mit dem Namensschild Max macht darauf aufmerksam, dass das Fotografieren im Haus zwar erlaubt sei, aber eine Bewilligung dennoch eingeholt werden müsse. „Personen bitte nur so fotografieren, dass man sie nicht erkennt“. Ein „Skriptorium“ benannter Bereich im Erdgeschoss ermöglicht Recherchen im Internet und den Zugriff auf eine internationale Pressedatenbank. Grossartig! Bemerkenswert die vielen Flyers zur Bibliotheksbenutzung und zu den 17 Stadtteilbibliotheken Stuttgarts. Aber es gibt nicht nur Bücher im Haus: Im Erdgeschoss auf 16 Bildschirmen zur Zeit unseres Besuchs eine Videoinstallation mit dem Titel “Die Biblioskopin“ von Katharina Wibmer. Gewagte, spannende Videos von Menschen in ungewohnten Situationen in der Bibliothek. Und noch mehr Werke der bildenden Kunst im Würfelhaus: Besonders erwähnenswert die „Graphothek“ im achten Stockwerk neben dem Café „Lesbar“: Hier kann man ein gerahmtes Bild genauso wie ein Buch ausleihen und nach Hause nehmen. 2600 Originalwerke weist die „Graphothek“ auf: Zeichnungen, Radierungen, Fotografien, Collagen und Aquarelle von deutschen und ausländischen Künstlern. Einzig das Café „Lesbar“ passt nicht ganz zum Bücherhaus und müsste sein Angebot verfeinern. Ein Besuch der zuständigen Person im Café der neuen Bibliothek im Postgebäude in St.Gallen könnte nicht schaden. Besonderes aber auch im ersten Obergeschoss auf der Ebene Musik. Hier besteht die Möglichkeit, im Klangstudio eigene Schallplatten zu digitalisieren. Hier kann man aber auch gedruckte Noten scannen und anschliessend transkribieren oder mit einem Spezialprogramm weitere Instrumente hinzuzufügen.

Bibliothek als Begegnungs- und Bildungsort. Ausserordentlich reich das Veranstaltungsprogramm der Stadtbibliothek: Architekturführungen durch das Haus, Vorträge, Lesungen, Lesungen in leichter Sprache, Literaturgespräche, Debatten zu aktuellen Fragen und zu Neuerscheinungen. Demnächst in Stuttgart? Unbedingt die Stadtbibliothek aufsuchen! Nicht vergessen: Oberhalb des Cafés unter freiem Himmel die Rundsicht über die Stadt! Und dann noch: „Die Bibliothek für Schlaflose“ im EG Foyer.

Stadtbibliothek am Mailänderplatz
Mailänder Platz 1
70173 Stuttgart
T: 0049 711 216 91100
www1.stuttgart.de/stadtbibliothek

 

Unbeschreiblich!

Heinz Egger

Raus aus der U-Bahnstation im Menschenstrom. Da erwartet mich zuerst eine Baustelle – eines jener tiefen Löcher, die zum Bau des neuen Bahnhofs gegraben werden. Ich stehe in der Londoner Strasse und sehe in kurzer Distanz einen weissen Kubus, der folgerichtig über der obersten Etage mit „Library“ beschriftet ist. Es gibt sicher noch mehr Sprachen, denn die Stadtbibliothek liegt am Mailänder Platz …

Das acht Stockwerke hohe Gebäude ist ein Solitär, kompakt, fast weiss, stark gegliedert durch senkrechte und waagrechte Balken, die die Fläche in neun mal neun Quadrate aufteilen. Diese sind mit Glasbausteinen ausgefüllt und haben in der Mitte eine rechteckige Öffnung, die den Blick hinter die Fassade frei gibt, wo Glas glänzt. In der Umgebung steht ausschliesslich neue Architektur. Es ist ein eigentliches Neubauviertel. Der Eingang in den Kubus, beschriftet mit „Stadtbibliothek“ gibt sich geradezu bescheiden. Lautlos gehen die gläserne Schiebetüren auf und ich stehe in der Schleuse.

Dass in diesem Gebäude viel Technik eingebaut ist, zeigt sich schon dort. Es gibt einen 24-Stunden-Rückgabe-Automaten. Nach der nächsten Schiebetür halte ich spontan an, denn der erste Eindruck des Innenraums ist schlicht überwältigend. Alles ist weiss und wirkt unglaublich grosszügig.

Gleich beim Eingang lädt links ein Korpus ein, Prospekte über die Bibliothek, aber auch über Veranstaltungen in der Stadtbibliothek und der Universität zu nehmen. Dann folgen drei Stationen für die Medienrückgabe. Was zurückgebracht wird, landet im Bauch einer grossen Maschine. Diese erkennt die Bücher an ihrem Chip, schiebt sie in adressierte blaue Kunststoffbehälter, die dann auf Rollen fortfahren, ihrem Ziel entgegen. Alles läuft vollautomatisch. Einzig das Zurückstellen in die Gestelle muss von Menschen ausgeführt werden.

Fast jedermann – jedenfalls alle mit Taschen – steuern den Keller mit den Garderoben an. Es ist nicht erlaubt, eigene, grössere Taschen mitzuführen. Ja, und auch wenn die Architektur einen überwältigt, ist das Fotografieren nicht einfach erlaubt, ausser man tue das mit einem Handy. Das sagt uns der nette Wachmann am Eingang. Handybilder seien zu schlecht, so die Meinung des koreanischen Architekten Eun Young Yi, der genau über Veröffentlichungen von Aufnahmen sein Werks Bescheid wissen wolle. Und der Wächter eilt davon, um ein entsprechendes Formular für uns zu holen, nachdem wir erklärt hatten, warum wir hier seien. Eigentlich müssten sich Leute, die professionelle Fotos für eine Veröffentlichung aufnehmen wollen, eine Woche vorher anmelden. In Kürze klebt an unserem Revers ein Etikett, das uns als Fotografen ausweist.

Blick ins Herz der Bibliothek mit dem blauen Brunnen in der Mitte am Boden

Zuerst, ziehen nicht die Bücher an, sondern der drei Stockwerke hohe Raum, das Herz des Hauses. Den Boden bedecken neun grosse Platten. In der Mitte fliesst ein kleiner Brunnen mit blauem Licht. Folgt man den Strahlen nach oben, entdeckt man in der Decke das Gegenstück aus Glasbausteinen, die ebenfalls blau leuchten. Die Fenster zu den Stockwerken sind schmal und hoch, sie betonen die Vertikale. Vom zentralen Raum aus ist gut erkennbar, dass die Bibliothek nach allen Himmelsrichtungen Eingänge besitzt.

Im Erdgeschoss finden sich die Zeitungen, Gebührenautomaten und die Bibliothek für Schlaflose, aus der zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Auswahl an Medien bezogen werden kann. Auf freistehenden Bildschirmen wird für die nächsten Angebote Werbung gemacht: Codebrakers – eine Fortsetzung eines Kryptographie-Workshops.

An einer Wand stellen Touch-Screens Daten zur Energie des Hauses dar. Heizung und Kühlung erfolgen mit 94 Erdsonden und auf dem Dach produzieren Photovoltaikmodule, die im Laufe des Tages der Sonne nachgeführt werden, Strom.

Ich erklimme Etage für Etage über die Treppen. Immer gehe ich in die Bibliotheksräume hinein und umrunde den Herzraum. Jede Etage ist einem Thema gewidmet: Musik, Kinder, Leben, Wissen, Welt, Literatur, Direktion und Verwaltung, schliesslich im achten Stock Kunst. Während im Erdgeschoss eine Anzahl PCs als Skriptorium zur Recherche bereitstehen, gibt es auf den Stockwerken nur PCs zur Katalogsuche, an denen man stehen muss. Wer aber einen portablen Rechner braucht, kann ihn auf jedem Stockwerk mit seiner Mitgliedskarte beziehen. Überall gibt es Arbeitsplätze. Sie sind teils in verglasten Räumen, aber auch eingebaut in die Büchergestelle. Einige sind wohl zur Lärmdämmung gepolstert. Kaum einer der Plätze ist frei. Überall Studierende.

Auf jedem der ersten drei Stockwerke gibt es beim Eingang einen Tisch, teils mit Vitrine, auf dem etwas zum Etagen-Thema ausgestellt ist. Es ist eine Einladung, die Abteilung zu besuchen und zu nutzen. Bei der Musik etwa liegen CDs, die mit bedrucktem Notenpapier eingepackt sind. Sie sind eine Einladung für ein Blind-Date: ausleihen, daheim auspacken und sich durch den Inhalt überraschen lassen.

Farbe gibt es einzig im zweiten Stock, wo alles für Kinder und Jugendliche zu finden ist. Blau, gelb, lindengrün, hellgrau. Farbige Sitzpolster und Teppiche an Boden und Wänden bilden Inseln, in die man sich zurückziehen kann.

Auf jeder der ersten Etagen gibt es einen Bereich, der Studiolo genannt wird. In einem oder mehreren Gestellen ist da zu einem bestimmten Thema Literatur zusammengetragen. Im dritten Stock beispielsweise zur Psychologie. Unter anderem ist da eine Lehrbuchsammlung angelegt.

Im vierten Stock erwartet mich wieder eine architektonische Überraschung. Eine grosse, strahlend weisse, von oben beleuchtete Halle. Sie wird Galeriesaal genant. Galerien ziehen sich rings um den Raum, Treppen mit filigranen Geländern führen von Stock zu Stock. Ich fühle mich richtig klein in diesem Wissenstempel.

Im Innenraum der vierten Etage gibt es Spannendes zu entdecken, beispielsweise einen Einblick in die Literaturszene in Stuttgart. Da stehen in einer Gästebibliothek Bücher mit Widmungen von Autoren, die in den vergangenen 20 Jahren in der Bibliothek zu Gast waren.

Graphothek - Original-Bilder zum Ausleihen

Während ich weiter Etage für Etage höher steige, zieht es meinen Blick immer wieder hinunter. Es ist äusserst faszinierend, wie die Ansicht je nach Blickwinkel ändert. Schliesslich finde ich im achten Stock, was ich noch nie in einer Bibliothek angetroffen habe: eine Graphothek. Kunst zum Ausleihen – und zwar alles Originale, gerahmt. Und für den Transport stehen auch entsprechende Verpackungen zur Verfügungen. Ein Kleber verkündet stolz, dass es dieses Angebot bereits 40 Jahre gibt.

Ich setze mich ins Café LesBar und verschnaufe bei Kaffee und Kuchen. Es gibt in diesem Buchort so viel, dass es kaum beschrieben werden kann. Ich sah so viele Titel, schoss unzählige Fotos und bin begeistert. Das nüchterne Weiss und der immer spürbare quadratische Grundriss treten zurück, um den Büchern und Medien die Hauptrolle zu überlassen.

Als ich die Bibliothek verlasse, senkt sich die Nacht langsam herab. Kühl und distanziert ist der Kubus nun in blaues Licht gehüllt.

 

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