Stadtbücherei Münster (D)

Eine Schönheit

Michael Guggenheimer

Bei der Vorbereitung der Reise nach Münster / Westfalen gelesen: «Wir sind eine der besten Bibliotheken in Deutschland und tragen wesentlich zur Attraktivität Münsters bei. Das soll so bleiben.» Man liest diesen ersten Satz des Leitbildes der Stadtbücherei Münster vor dem Besuch der Bibliothek und fragt sich, ob da nicht jemand masslos übertreibt.

Aussenansicht der beiden Gebäudeteile

Münster. Tage später. Man steht vor der Stadtbücherei, sieht ein ungewöhnliches lang gezogenes Gebäude, das aus zwei Teilen besteht und an ein Schiff erinnert. Verbunden werden beide Bauteile durch eine Brücke im ersten Obergeschoss, aber auch durch ein gemeinsames Untergeschoss. Man betritt das Haus, bleibt im Erdgeschoss stehen, wendet sich zurück zum Café mit dem passenden und charmanten Namen Café colibri, das im selben Gebäude untergebracht ist, und ist ratlos: «Wie soll ich bloss diese Architektur in Worte fassen?» Die außergewöhnliche Architektur verrät einem auf den ersten Blick nicht, dass hier ein Bibliotheksgebäude steht. Mit Bibliotheken assoziiert man eher kompakte rechteckige Bauten, Bücher-Lagerhäuser, nicht ein Ensemble, das in seiner Länge nach vorne strebt, eine leichte Kurve andeutet und durch dessen zwei Teile eine Fussgängerachse mit Namen „Bibliotheksgasse“ führt, und die in einer Sichtlinie zur gotischen Lambertuskirche hin verläuft. Moderne und Gotik gehen hier einen Dialog ein.

Die neue Stadtbücherei Münster, 1993 eröffnet. Wie kann es sein, dass die Bibliothek über 25 Jahre nach ihrer Eröffnung immer noch so neu, so modern aussieht? Und weshalb hat mir noch nie jemand von dieser architektonischen Perle etwas erzählt? Der Name der beiden Architekten muss unbedingt erwähnt werden, sie verdienen es: Die aus Münster stammende Julia Bolles-Wilson und ihr Gatte, der Australier Peter Wilson. Im holländischen Helmond soll eine weitere Bibliothek stehen, die die beiden entworfen haben. Da müssen wir noch hin!

Vor der Eröffnung des Neubaus der Stadtbücherei befand sich die Bibliothek im Nachbarhaus, wo sich heute die Niederländische Bibliothek befindet, man denkt an ein Haus in Vermeers Welt, wenn man von der Stadtbücherei hinüberschaut. Viel zu eng war dieses charmante Gebäude gewesen. Der Ausleihbetrieb an der neuen Adresse nahm unmittelbar nach der Eröffnung bereits rasant zu. Schon vier Jahre nach der Neueröffnung lag die Stadtbücherei mit ihren Ausleihzahlen 83 Prozent über dem Durchschnitt und landete auf Platz 1 der Bibliotheken der grossen Städte im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Im Bericht zum 25-jährigen Bestehen der Bibliothek heisst es: «Die Anforderungen an die Bibliothek änderten sich im Laufe des vergangenen Vierteljahrhunderts: Aus dem Ort der reinen Bücherausleihe und -aufbewahrung ist ein Ort des Lernens und ein Treffpunkt im Herzen der Stadt geworden.» In gewisser Weise distanziert sich die Stadtbücherei Münster seit ihrer Eröffnung deutlich von traditionellen Bibliothekskonzepten, weil der Bau eine Erlebnisarchitektur darstellt. Das erlebt man bereits im Eingangsbereich, wo eine elegante Wendeltreppe in die Höhe strebt und wo zwei halbrunde offene Räume, in denen Neuerscheinungen präsentiert und Literatur für Menschen, die erst vor kurzem in Münster oder in Deutschland angekommen sind, auf Leserinnen und Leser wartet. Eine Gruppe von Ausländern sitzt in einem der Halbrunde, die jungen Leute betreiben mit zwei Einheimischen Konversation in deutscher Sprache.

Etage der Belletristik, Arbeitsplätze, Konstruktion mit Streben und Stützen

Man geht durch die Stadtbücherei Münster und erinnert sich an die
holländische Bücherpyramide in der Stadt Spijkenisse, die einen ebenso fasziniert hat. An beiden Orten, in Spijkenisse wie in Münster, ist es die freie Höhe, die den Blick auf sich zieht. Welch’ ein Abwechslungsreichtum der Formen entfaltet sich da: Schräge Wände, hohe runde Stützpfeiler, weisse und hellbraune Wände, Erker, eine Wendeltreppe, ein Oberlicht, ein hoher Luftraum und Balustraden sowie Räume, die nicht nur rechteckig sind, prägen das Innere der Bibliothek. Die Lichtführung von oben und von den Seiten fällt auf. Unglaublich kreativ ist sie: Durch Lichtbänder im Dach und oberhalb der Wandregale gelangt Tageslicht ins Innere.

Das Foyer der Stadtbücherei ist als öffentlicher Raum gestaltet, wo sich der graue Außenbelag der Gasse fortsetzt, das Café colibri  weist den Charakter eines Straßencafés auf und kann besucht werden, ohne dass man die Bibliothek besucht, obschon es ein Teil der Bücherei bildet. Gleich neben dem Foyer mit seiner Auskunftsstelle befindet sich der Zeitungslesesaal. Er erinnert mit seiner Höhe über zwei Etagen, mit seinem Kamin, mit seinem großen Lesetisch in der Mitte, an Grandcafés in Holland mit ihren Leestafels. Man steigt die Treppen hinauf und staunt über die schönen Durchblicke nach oben und unten und beginnt die innere Organisation der Bibliothek zu verstehen. In einer Galerie eine lange Reihe von Bildschirmen, alle Plätze belegt, man sitzt nebeneinander und arbeitet an den Computern, kleine Trennwände verunmöglichen es, beim Nachbarn mitzulesen. Im Zeitschriftenbereich im selben Stockwerk an die 300 Zeitschriften, wer das Munzinger Archiv benutzen will, dem steht es digital zur Verfügung, eine Dienstleistung, um die man die Bibliotheksbenützer beneidet! Im ersten Stock ein Bereich für die herkömmliche Bibliothek mit eleganten Regalreihen, in denen Bücher thematisch gegliedert aufgestellt sind. Nirgendwo eine Enge, alles sehr schön präsentiert. Man nimmt die Bücher vom Regal, setzt sich hin, liest sich ein. In  den Bücherregalen  im ersten Stock die Belletristik und im zweiten Stockwerk die Sachbücher und beide Male Lesebereiche mit Arbeitsplätzen vom Sessel über Einzel- und Zweiertischen bis hin zu Arbeitstischen für Gruppen.

Die Zweiteilung des Bibliothekgebäudes erweist sich als eine konsequente Umsetzung des Raumprogramms. Dieses enthält zum einen Bereiche wie die Kinderbücherei (im Untergeschoss), den Informationsbereich mit Computerarbeitsplätzen. Von der Kinder- und Jugendbibliothek im Unterschoss ist im oberen Büchereiteil nichts zu hören, im Anbau herrscht konzentrierte Ruhe. Jugendliche arbeiten einzeln oder in Gruppen an ihren Seminararbeiten.

In der Flüsterzone

Besonders schön und still der Arbeitsbereich im zweiten Stockwerk gleich hinter dem Vorderteil des Bücherschiffs. Als eine «Arche des Wissens» haben Besucher die Bibliothek bezeichnet als einen Ort, an dem man die Tages- oder Wochenzeitung liest, Prüfungen vorbereitet, Seminararbeiten schreibt, Lesungen besucht, sich mit Freunden im Café trifft und anschliessend noch mit Lektüren eindeckt. Im Innern jenes Teils der Bibliothek, den man über eine Brücke erreicht, kommt wirklich das Gefühl auf, sich in einem Bücherboot zu befinden. So schön die Vielfalt des modernen Mobiliars. Ob nun die Stadtbücherei Münster «eine der besten Bibliotheken in Deutschland» ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Dass sie einer der schönsten Stadtbibliotheken ist, die ich kenne, kann ich unterschreiben!

Stadtbücherei Münster
Alter Steinweg 11
48143 Münster
T: +49 2 514 92 42 42
www.stadt-muenster.de/buecherei/startseite.html

So aussen, so innen

Heinz Egger

Ein Blick auf den Stadtplan offenbart den komplexen Grundriss der Stadtbücherei Münster. Auf dem Grundstück „Auf der Asche” liegt am Strässchen „Asche” und am „Alten Steinweg” ein zweiteiliges Gebäude: vereinfacht gesagt, ein schmales Kreissegment und ein abgewinkeltes Rechteck. Diese einfachen Formen werden durch Anbauten mit dreieckigen und runden Grundrissen ergänzt. Dreidimensional hat der Segment-Bau zwei Stockwerke und auf dem Dach einen Lichtfänger in der Höhe eines weiteren Stockwerks. Beim Rechteckbau bildet eine zwei Stockwerke hohe Halle das Hauptvolumen. Darüber ragen zwei weitere Stockwerke. Die beiden Gebäude verbindet eine überdachte Passerelle im ersten Stock. Blickt man von der Mauritzstrasse her in die schmale Büchereigasse zwischen den Gebäuden, ergibt sich ein beeindruckender Blick auf die spätgotische St. Lamberti-Kirche. Die Architektur stammt von Julia Bolles und Peter Wilson.

Im kurzen, abgewinkelten Teil des Rechteckbaus liegt das Café Colibri. Das „Co” im Namen ist rot abgesetzt, „libri” weiss geschrieben. Es ist ein empfehlenswerter Ort um vor dem Gang in die Bibliothek oder natürlich danach, quasi „con libri” sich dort niederzulassen und es sich gut gehen zu lassen bei feinem Kuchen und Kaffee. Für warme Tage lädt auch die grosse Terrasse ein, sich hinzusetzen. Das Café ist über den Haupteingang durch eine weisse Skulptur erreichbar. Gleich zur Linken liegt es.

Vom Eingang geradeaus und dann links, angrenzend an das Kaffee, befindet sich der hohe, grosszügige Zeitungslesesaal. Tische stehen da, der Wand entlang liegen in zahlreichen Fächern lokale, nationale und internationale Zeitungen auf. Dieser Ort dient auch als Veranstaltungsort. Dann gibt wohl das Cheminée in der einen Wand den Rahmen für Lesungen, und verbreitet sicher eine wohlig warme Stimmung im sonst nüchternen Saal.

Vom Eingang geradeaus rechts stehen Besucherinnen und Besuchern Schliessfächer und eine Garderobe zur Verfügung. Rucksäcke und Taschen sind in der Bücherei nicht erwünscht.

Ergeschoss, Blick zum Eingang, Info-Theke

Nach rechts führt der Weg durch elektronische Schranken in den Bereich der Bibliothek. Der Blick wird unweigerlich nach oben geführt. Wie in einer Kathedrale. Licht fliesst von hoch oben herein. Es ist hell, blendet aber nicht. Gedämpft und weich nimmt der Raum einen auf.

Ausleihe und Rückgabe der Medien ist automatisiert. Medien können von aussen auch ausserhalb der Öffnungszeiten zurückgegeben werden. Die Bibliothek ist grosszügig offen, werktags von 10 bis 19 Uhr und am Samstag von 10 bis 18 Uhr. Wer eingeschriebenes Mitglied der Bücherei ist, kann auch am Montag hineingehen, Bücher holen und zurückgeben. Allerdings, so steht es auf der Website, findet dann keine Beratung statt und es können keine Ausweise bezogen werden.

Beratung wird schon kurz nach dem Eingang an der langen, u-förmigen Theke angeboten. Sie wird rege genutzt. Mir fällt auf, dass eine Frau mit Kopftuch dort steht und Auskunft gibt. So funktioniert Integration, denke ich, während ich aus der ersten dreieckigen Nische mit den Neuanschaffungen und „Bestsellern” hinaustrete und nach links weitergehe, um die zweite solche Nische zu besuchen. Sie ist dem Thema „Deutsch als Fremdsprache” gewidmet. Zwischen zwei schwarzen Deckenstrahlern hängt ein Plakat. Darauf steht auf Arabisch, Englisch, Französisch und Deutsch „In Deutschland ankommen”. Mit Büchern, Filmen und Spielen wird hier Ankommenshilfe geleistet. Medien unter dem Stichwort „Hintergründe” richten sich aber nicht an jene, die einwandern, sondern an die Ansässigen: Dabei geht es um Gründe zur Flucht, Religion oder Recht. Eindrücklich. An einem Tisch sitzen vier junge Frauen und diskutieren eifrig. Sie nutzen die Bibliothek als Arbeitsraum.

Galerie mit den Arbeitsstationen

Überall in der Bibliothek gibt es die Möglichkeit zu arbeiten. Nicht nur bietet die Bücherei zwei grosse Sitzungszimmer, die man als Mitglied mieten kann, sondern auch 20 PC-Arbeitsplätze mit Internet- und Druckerzugang, Office- und Bildbearbeitungsapplikationen. Mehrere Stationen haben auch einen Scanner. Diese Arbeitsplätze befinden sich auf einer Art Galerie, dem ersten Stock in der grossen Halle.

Am Ende des Rechteckbaus stehen die Gestelle mit den Filmen. Daneben liegt eine Ecke mit Zeitschriften und bequemen Sitzgelegenheiten. Eine überschlagsmässige Rechnung sagt mir, dass hier über 230 Zeitschriften aufliegen! Das ist wohl angemessen bei einem Medienbestand von gut 227’000 Ende 2018. In den Leistungsdaten der Bibliothek finden sich grosse Zahlen: fast 1.56 Millionen Ausleihen, fast 785 000 Besuche. Auf die Einwohner von Münster heruntergerechnet, sind die Zahlen allerdings klein: 5 Besuche und 2.5 Ausleihen pro Person. Auch hier scheint gemessen an der Einwohnerzahl der Besuch durch Kinder sehr häufig zu sein. Auch hier kommen die jungen Leute nach der obligatorischen Schulzeit kaum mehr in die Bibliothek. Manche, so sagt eine Bibliotheksassistentin, kommen erst wieder, wenn sie eigene Kinder haben.

Dabei ist gerade diese Bibliothek ein Ort, an den man sich schon wegen der wunderbaren Architektur gern hinbegibt und der zudem ein unermessliches Angebot vorweist. Und alles ist sehr verführerisch ausgestellt. Wer beispielsweise schnell ein gutes Buch, sei es Belletristik, Sachbuch oder Kinder- und Jugendbuch holen möchte, der findet immer ein Gestell mit dem Hinweis „Preisgekrönt”.

Was in diesen Gestellen eingereiht ist, erklärt mir eine Bibliotheksassistentin, die im Untergeschoss einen grossen Wagen mit unzähligen Büchern durch den weitläufigen Bereich der Kinderbücher schiebt und die Medien zurück an ihren Ort stellt. „Preisgekrönt” heisst, dass eine Institution das Medium ausgezeichnet hat. Das funktioniere bei den Erwachsenen sehr gut. Es gebe Besucherinnen und Besucher, die nur solche Bücher beziegen. Bei den Kindern hingegen, sei es schwieriger. Man wisse nicht so recht, ob die Eltern mit dem Wort „preisgekrönt” auch anspruchsvoll oder gar schwierig verbinden. So mische man denn auch einige Bücher dazu, die auf Short-Lists gestanden haben.

Die Bibliothek ist top-modern ausgerüstet. Bei den Kinderbüchern gibt es Tablets, für die Jugendlichen einen Gaming-Raum und für Musikinteressierte einen Musikraum mit Flügel.

Um etwas Ruhe nach dem Streifzug durch die Musiknoten, Sachbücher und die Belletristik zu finden und meine Eindrücke niederzuschreiben, ziehe ich mich in die Flüsterzone zurück. Es ist ein recht enger Raum mit zwei schmalen Zugängen im zweiten Stock der Spitze des „Segmentbaus”. Helle Holztische mit einer Lampe und Steckdosen stehen da. Fast alle sind besetzt. Nur das Klappern der Tastaturen ist zu hören. Eine Oase der Ruhe. Umgeben von Literatur zu Kunst und Design und Reisebüchern hänge ich der Frage nach, was wohl alles in den Gestellen mit der Aufschrift „Bewährte Unterhaltung” und „Moderne Unterhaltung” versammelt sein könnte.

Die Stadtbücherei, die schon weit über 100 Jahre mit sehr wechselvoller Geschichte existiert, zeigt in ihrer komplexen architektonischen Hülle und den abwechslungsreichen Sichten im Innern, was sie beherbergt: einen Kosmos, ein breites Angebot für ein ebensolches Publikum jeden Alters.

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