Die Schönste, die Älteste
Michael Guggenheimer
«Wollen Sie noch mehr hören?», fragt Ivo Ledergerber. Und die Frauen und Männer, die er durch den Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen von einer Ausstellungsvitrine zur nächsten führt, sagen Ja. Man sieht dem Lyrikspezialisten und ehemaligen Lehrer seine achtzig Jahre nicht an. So lebendig erzählt er die Geschichte einer ausgestellten Handschrift, die für eine Gemeinschaft religiöser Frauen in St.Georgen geschrieben wurde, dass man nicht darauf kommen würde, dass er seit zwanzig Jahren Menschengruppen immer wieder die Geschichte der Klosterbibliothek und ihrer Schätze erzählt, die Architektur des prächtigen Barocksaals erläutert, auf die vielen Bücher hinweist, welche die Besonderheit des Saals mitprägen. Etwas mehr als 30 Minuten sollte seine Führung dauern und bereits dauert sie fast eine ganze Stunde. Voller Geschichten ist er, erläutert die grossen Deckengemälde, blendet zurück zur Gründungsgeschichte des Klosters, nennt Namen von Mönchen, die Dichter, Forscher, Musiker waren, erläutert anhand einer ausgestellten Handschrift glaubhaft, dass die Mönche des Klosters bereits im Mittelalter wussten, dass die Erde keine flache Scheibe sondern kugelförmig ist. Ivo Ledergerber öffnet eine hölzerne Säule und zeigt den Besuchern, die noch mehr erfahren wollen, den früheren handschriftlich auf Karten geführten Katalog der Buchbestände des barocken Saals. Etwa 170 000 Bücher und andere Medien würden in der Klosterbibliothek geführt, erzählt er, nicht nur alte Bücher, denn die Bestände der Bibliothek würden weiterwachsen.
Wir sind in der barocken Stiftsbibliothek St. Gallen, der ältesten Bibliothek der Schweiz, die Jahr für Jahr von mehr als 130 000 Gästen besucht wird. Karolingisch-ottonische Handschriften aus dem 8. bis 11. Jahrhundert bilden das Herzstück der Sammlung. Im Jahr 615 wurde das Kloster gegründet, noch vor dem Jahr 800 besass das Benediktinerkloster ein Skriptorium und eine Bibliothek. Buchmaler, Schreiber und Dichter wirkten im Kloster. Zwischen 1758 und 1767 liessen die Äbte den prunkvollen Barocksaal bauen und von Meistern aus der Bodenseeregion mit Deckengemälden und Stuck ausstatten. Der Intarsienboden aus Tannenholz, in dem vier grosse Sterne und rankenartige Schlingungen in Nussbaumholz eingelassen sind, darf nur in den grauen Filzpantoffeln begangen werden, die vor dem Saal, der die griechische Inschrift für «Seelenapotheke» trägt, bereit liegen. Schriftsteller Thomas Hürlimann hat in seinem Roman «Fräulein Stark», der in der Klosterbibliothek spielt, diese Pantoffeln in unvergesslicher Weise geschildert: Der Junge, der den Besucherinnen die Pantoffeln zuschiebt, schaut ihnen beim Anprobieren neugierig unter die Röcke.
Der Büchersaal der Stiftsbibliothek, kunstvoll geschmückt und in seinen Proportionen ausgewogen, wird als der schönste nicht-kirchliche Barockraum der Schweiz bezeichnet. Der Saal ist in der Form einer fünfjochigen Wandpfeilerhalle angelegt. Auf halber Höhe befindet sich rund um den Saal herum eine Galerie, in der Länge wechseln sich Bücherschränke und Fensternischen ab. Die Pfeiler sind in die Halle eingerückt und an den Ecken mit korinthischen Ziersäulen verstärkt. Zwischen solchen und flachen Pilastern stehen die Bücher in vergitterten Büchergestellen. Die Besucher der Bibliothek gleiten in ihren Filzpantoffeln von einer Vitrine zur nächsten, als hätten sie Schlittschuhe an, sie nähern sich den Büchergestellen, versuchen dort die Buchtitel zu lesen, eine andächtig- bewundernde Stimmung herrscht im Bibliothekssaal.
Ein nebenan liegender Lesesaal mit acht Arbeitsplätzen verfügt über eine Präsenzbibliothek mit den wichtigsten Nachschlagewerken und Kompendien. Hier können Theologie- und Kunstgeschichtsstudenten Handschriften im Original oder in digitalisierter Form konsultieren. Nicht nur die Bestände von früher werden in der Stiftsbibliothek geführt. Gesammelt wird noch heute zu Schwerpunkten wie Klostergeschichte, Mittelaltergeschichte, mittelalterliche Musikgeschichte.
«Das Herzstück der Stiftsbibliothek bildet der einzigartige Bestand an Handschriften», sagt Stiftsbibliothekar Cornel Dora. «Nicht nur ihre Zahl ist beeindruckend, sondern vor allem die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Sammlung. So lässt sich aus heutiger Sicht das geistige und kulturelle Leben des Klosters vom Frühmittelalter bis 1805, dem Jahr der Aufhebung der Abtei, rekonstruieren». 2100 Handschriften aus der Zeit ab dem 8. Jahrhundert besitzt die Bibliothek, was sie zu einer der wichtigsten Mittelalterbibliotheken Europas macht. Es sind Bibelhandschriften, Andachtsbücher, Rechtsbücher, Ordensregeln, mathematische und philosophische Werke. Frühdrucke aus der Zeit bis 1520 ergänzen die Sammlung.
2000 Führungen pro Jahr finden in der Stiftsbibliothek statt. So gross ist das Interesse und so viele Besucher aus der ganzen Welt begeben sich nach St. Gallen, dass die Bibliothek und die Ausstellung im Gewölbekeller an sieben Tagen pro Woche offen sind. «Ja, sehr touristisch ist unsere Bibliothek», sagt Stiftsbibliothekar Dora. «Aber man darf nicht vergessen, unsere Bibliothek ist nicht ein Museum, sie ist eine Bibliothek, an der geforscht wird und die ihre Benutzer hat».
Als zwei Männer in schwarzer Kutte den barocken Saal betreten, begibt sich Dora zu ihnen: Demetrius Hryhorack, Bischof von Buchach in der Ukraine stattet der Bibliothek einen Besuch ab und wird vom Stiftsbibliothekar in den nebenan liegenden Lesesaal geführt, wo er sich ins offizielle Gästebuch mit einer schwungvoll hingesetzten Widmung einträgt. Im Ausstellungssaal am Klosterhof wird derweil die Ausstellung «Das Wunder der Überlieferung – Der St. Galler Klosterplan und Europa im frühen Mittelalter» vorbereitet. Neben der Forschungsarbeit anhand der Bestände der Bibliothek gilt es, den vielen Besuchern attraktive Ausstelljungen zu präsentieren, denn die Klosterbibliothek ist ein Touristenmagnet, was Ehre und Geld bringt, den Büchern im Bibliothekssaal angesichts der Feuchtigkeit, die diese Besucher mit sich bringen, aber nicht guttut. Die Benutzung der Handschriftensammlung hat in den letzten Jahren zugenommen, was heute für die wertvollen Objekte aber risikolos ist, da deren Konsultation anhand digitaler Kopien erfolgen kann. Die St. Galler Stiftsbibliothek sei ein wissenschaftliches Institut, erläutert Bibliothekar Dora, der gerne eine universitäre Anbindung der Bibliothek sähe, die mit der Biblioteca Capitolare von Verona, der Katharinenbibliothek auf der Halbinsel Sinai und der Bibliothek St. Peter in Salzburg zu den ältesten Bibliotheken der Welt gehöre.
Stiftsbibliothek St. Gallen
Klosterhof 6D
9000 St. Gallen
T: 071 227 34 16
Wahre Schatzkammer
Heinz Egger
Über der Tür steht „Psyches iatreion” – In die Bibliothek geht die Seele und sie wird dort Heilung erfahren. Es herrscht gedämpftes Licht. Der Boden knarrt bei jedem Schritt. Das Auge ist zuerst verwirrt. So viel Schmuckwerk, dunkles Holz. Und zahlreiche Besucherinnen und Besucher, die bedächtig in ihren Filzpantoffeln durch den langen Raum schlurfen und ein eigentliches Konzert im Boden auslösen.
Die Bücherschränke im Saal unten und auf der Galerie oben haben Türen. Im Saal sind sie bis hoch hinauf vergittert. Ich entdecke 20 Bände mit Korrespondenz von Napoleon I. Papierne Schilder auf den Büchern tragen Signaturen, allerdings keine Katalognummer, sondern ein Hinweis, wo das Buch in den vielen Regalen steht. Die Bücher sind alphabetisch eingeordnet. Über den Regalen sind in blauen, ins Holzwerk eingearbeiteten Feldern die Buchstaben angegeben. Doch, doch, alle Bücher hier seien ausleihbar, sagt Cornel Dora, der Leiter der Stiftsbibliothek. Allerdings muss man einen entsprechenden Forschungsauftrag vorweisen können.
Im Lesesaal, der von der letzten Türe vor der Bibliothek im Gang erreichbar ist, steht eine junge Frau. Sie hat Kunsthistorik studiert und arbeitet an der Masterarbeit über den Folchart-Psalter. Es ist ein unbeschreiblich schönes Buch, das von der grossen Kunstfertigkeit der mönchischen Schreibstube zeugt. Seine ältesten Teile gehen auf das 9. Jahrhundert zurück. Das Buch liegt auf einem Kissen, das es in weitem Winkel offen trägt. Die Studentin arbeitet ohne Handschuhe. Ich bin erstaunt. Ohne Handschuhe? Cornel Dora erklärt, dass das eine kommende und gehende Mode sei. Natürlich können Fett und Feuchtigkeit schädlich sein, aber Handschuhe rauben einem ein Stück weit die taktilen Fähigkeiten, was mindestens so schädlich für das Werk sein kann. Viele heikle Werke sind heute digitalisiert und auf e-codices öffentlich zugänglich. Die Nutzung vor Ort nimmt deshalb ab. Das schont die kostbaren Originale. Der Bestand der Bibliothek bis 1805 gehört zum Weltdokumentenerbe und ist eine weltweit einmalige Sammlung. Die St. Galler Bibliothek gehört mit Verona, dem Katharina-Kloster auf dem Sinai und Salzburg zu den ältesten christlichen Bibliotheken.
Eine Bibliothek gab es wohl schon zur Gründungszeit des Klosters, eigene Schriften aus dem Scriptorium tauchen aber erst ab etwa 760 auf.
Cornel Dora ist ein profunder Kenner seiner Anlage. Gerne holt er im Bibliothekssaal weit aus und erzählt aus seinem reichen Wissen. Was zuerst als viel Schmuck aussieht hat, ein klares Konzept und erzählt die Bedeutung von Spiritualität und Wissen zur Zeit des Barock. Das zentrale Bild der Decke stellt die Wahrheit dar. Der Boden, dessen Holzbelag mehrere Sterne zeigt, ist das irdische Abbild davon – nur noch ein Schein. Die Stiftsbibliothek ist eines der letzten Werke der berühmten süddeutschen Barockkünstler. Diese haben sich hier nochmals vereinigt, um das Schönste und Beste zu geben – gegen den aufkommenden Historismus. Einige der Künstler seien während der Ausführung der Arbeiten zwischen 1758 und 1762 gestorben. Sehr schön sehe man das beim Wechsel in den Stukkaturarbeiten von Gigl. Der Sohn hat das nicht vollendete Werk seines Vater fortgeführt. Seine Arbeiten im Handschriftenraum im ersten Stock an der Stirnseite der Bibliothek gehören aber schon einer neuen Epoche an.
Handschriften: Davon gibt es in der Bibliothek eine grosse Menge, die eine Zeit von mehr als 1000 Jahren umfassen. Die frühesten stammen auf dem fünften und sechsten Jahrhundert. In St. Gallen wird eine der weltweit grössten Sammlungen irischer Handschriften aufbewahrt. Für Cornel Dora ist klar, dass der Heilige Gallus der Gründer des Klosters war. Die Gründung war um 615. Es gab damals ein Oratorium und eine Hütte für 12 Mönche. Der Ort war eine Pioniersiedlung unter alemannischer Herrschaft. Als die Alemannen ihre Herrschaft an die aufsteigenden Franken unter den Karolingern verloren, wurde St. Gallen zum „Rückzugskloster“ und erhielt von vielen Adligen Ländereien. In St. Gallen lagert die grösste Sammlung karolingischer Archivalien.
Die Handschriften sind heute im Keller untergebracht. Dies hat eine lange Vorgeschichte. Im Zuge der Rückerstattung von Schriften, die die Zürcher im Zweiten Villmerger-Krieg von 1712 geraubt hatten, wurden die eigenen zusammen mit den zurückgegebenen in den Keller verfrachtet. Zürich machte dies zur Bedingung, denn der Handschriftenraum sei zu unsicher. Weit gefehlt, meint dazu Cornel Dora. Messungen hätten ergeben, dass zwar die Temperatur im Laufe des Jahres im nicht klimatisierten Raum ansteige, die relative Luftfeuchtigkeit sich aber überhaupt nicht ändere. Man habe im 18. Jahrhundert eben noch gewusst, wie man solche Räume zu bauen habe, ergänzt er lächelnd und sagt, dass der Keller auch kein sicherer Ort sei: Wassereinbrüche und allgemein Feuchtigkeit vom umgebenden Erdreich sammeln sich eben dort. Die Bibliothek ist völlig unbeheizt. Alle Materialien im Raum machen die Temperaturschwankungen, die sehr langsam vor sich gehen, seit Hunderten von Jahren klaglos mit.
Die Zürcher haben im Villmerger-Krieg auch den Erd- und Himmelsglobus mitgenommen. Dieser steht heute im Landesmuseum. In St. Gallen strahlt derweil als Geschenk zur Beilegung des „Kulturgüterstreits” zwischen Zürich und St. Gallen eine originalgetreue Replik des Kunstwerks. Seine leuchtenden Farben wirken fast ein wenig fremd in dem grossen, an Brauntönen reichen Saal.
Ob diese Bibliothek noch wächst? Diese Frage beantwortet Cornel Dora klar mit Ja. Allerdings sind es wenige Schriften und Dokumente, die dazukommen. Voraussetzung ist immer, dass sie in St. Gallen entstanden sind. So kaufte kürzlich die Gottfried-Keller-Stiftung einen Holzschnitt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zurück, den der St. Galler Mönch Gallus Kemli (1417-1481) damals mit rund 50 weiteren gesammelt hatte, zurück und übergab ihn der Stiftsbibliothek.