Gägewelt bücherladen
Michael Guggenheimer
Man muss schon aufpassen in Appenzell, dass man nicht in die Vorurteilsfalle gerät. Mit dem Halbkanton Appenzell Innerrhoden verbinden sich Vorstellungen von konservativ und heimattümelndem Handwerk, von Alpaufzug und kräftigem Appenzeller Käse. Die Vorurteile verfestigen sich, wenn man durch den Hauptort des Kantons flaniert. Bilder vom Alpaufzug in den Schaufenstern, Gürtel mit Kühen aus beschlagenem Messing, geschnitzte Holzfiguren von Bauern in Trachten, Tischsets mit bäuerlichen Motiven werden hier angeboten. Die Zuckersäckchen im Restaurant sind mit Sätzen im lokalen Dialekt bedruckt, unter dem fettgedruckten Satz „Jetz hescht aber em Muul en wackere Schopf ggee“ steht die hochdeutsche Übersetzung. Deutsche Tagestouristen versuchen die Mundartsätze auszusprechen, vor den Schaufenstern stehen die Touristen aus China und den USA, es ist alles so putzig hier im Ort, alles etwas eng, wo die Konditorei Landsgmeend-Chrempfli und ein Gebäck mit dem Namen Appenzeller Blässli anbietet.
Dafür, dass in Appenzell doch nicht alles so eng ist, stehen Namen wie Roman Signer, der aus Appenzell stammende Künstler mit Ausstellungen von Deutschland über Japan bis zu den USA oder Schriftstellerin Dorothee Elmiger, die hier aufgewachsen ist und deren Bücher alles andere als provinziell sind. Oder die Galeristin, Verlegerin und Kulturvermittlerin Agathe Nisple mit ihren Ausstellungsprojekten und Editionen. Man schlendert durch Appenzell und staunt am Ende eines Gangs durch die Ortschaft über ein etwas baufällig wirkendes Haus in gelben Holzschindeln, auf dem in weissen Buchstaben das Wort „bücherladen“ steht und unter etwas baufälligen Fensterläden auf der anderen strassenseitigen Hausfront in Grossbuchstaben rot auf gelb „Buchhandlung“. Welch’ ein Szenenwechsel! Im Schaufenster bereits Kunst- und Sachbücher, die die weite Welt ins Tal der Alpaufzüge bringen. „Bücher laden ein“ steht in geschwungener Schrift auf einem Schaufenster. Man betritt den Laden und stellt fest, dass hier nichts mehr putzig ist. Waren nebenan noch niedliche Ansichtskarten mit Appenzeller Bläss und gemalten Alpenszenen zu sehen, werden hier in einer Kartonschachtel Landschaftsfotografien in professionellem Schwarz-Weiss verkauft, die der Fotograf Mäddel Fuchs gemacht hat. Oder auch eine Serie von Ansichtskarten im Sonderformat in verhaltenen Farben: grün der Boden, braun das Vieh, bergig die Landschaft, 6 Motive in nebliger Landschaft, Fotos von Barbara Brühlisauer in der Qualität einer Kunstedition. So schön, dass man sie ebenso wie die Fotografien von Mäddel Fuchs eher auf- und ausstellen als verschicken möchte. Das Appenzellerland in anderer Umsetzung. Und daneben die Welt: Buchhändlerin Melina Cajochen empfiehlt den Kunden William Boyds Roman „Die Fotografin“, ihre Kollegin Magdalena Hegglin den alles andere als leicht zu lesenden vielschichtigen Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“ von David Grossman und Carol Forster, Besitzerin des Bücherladens, legt ihren Kunden Michael Köhlmeiers „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ ans Herz. Cajochen und Hegglin sind Quereinsteigerinnen, die Literatur studiert haben. Sie beide und Carol Forster – man spürt es im Gespräch – sind leidenschaftliche Leserinnen.
Der Bücherladen besteht aus zwei niedrigen Räumen. Im vorderen Ladenraum die Belletristik und die Kunst. Die Büchergestelle sind nicht angeschrieben, die Kunden, die den Weg hierher finden, sind engagierte Leserinnen und Leser aus den beiden Halbkantonen Innerrhoden und Ausserrhoden, zudem Passanten, denen es so ergeht wie dem Schreibenden: Man befindet sich im Bücherladen und staunt über die Titel in einer Umgebung, die man eher mit Landwirtschaft, Wanderausflügen und konservativem Abstimmungsverhalten in Verbindung brachte. Der vordere Raum wirkt wie ein Lese-Wohnzimmer mit seinen beiden roten Lesersesseln und den Leselampen. Man setzt sich hin, blättert im Buch „Agrarische Religiosität. Landbevölkerung und traditioneller Katholizismus in der voralpinen Schweiz 1945 – 1960“, von Peter Hersche, das man noch nie zuvor gesehen hat und schaut erstaunt auf, als da eine Gruppe von zwanzig Kindern plötzlich aus dem Nebenraum kommt, alle angeregt im Gespräch. Im stimmungsvollen Gewölbekeller unter dem Laden hat gerade eine Märchenstunde mit Melina Cajochen stattgefunden. Jeden ersten Mittwoch im Monat finden sich hier Kinder zur Erzählstunde ein. Die Eltern, die sie bringen und holen, verweilen eine Zeitlang im Laden, den sie nicht selten mit einem Buch verlassen. „Der bücherladen wurde 1992 von Carol Forster als einzige Buchhandlung im Kanton Appenzell Innerrhoden eröffnet. In den Jahren hat sich der bücherladen zu einem Treffpunkt entwickelt, der Literatur- und Bücherbegeisterte inspiriert und verbindet.“, heisst es auf der Homepage des bücherladens. Die Mittwochnachmittage im Gewölbekeller sind ein Hinweis für das Engagements der Buchhändlerinnen. Eine Art Klub mit Namen „Bücherfreunde“ zeugt von der Verbundenheit der Stammkunden mit dem Laden: 74 Mitglieder zählt der Klub, dessen Mitglieder mit ihrem jährlichen Beitrag die Durchführung von Lesungen ermöglichen oder die Installation einer neuen Beleuchtung im Laden. Wer Bücherfreund ist, profitiert von einem gestaffelten Bonussystem beim Bücherkauf und wird einmal im Jahr zu einem Abend eingeladen, an dem Bücher vorgestellt, die Lage im Buchhandel erörtert und guter Wein serviert wird.
Unten im Kellerbereich stehen vier breite Tablare voller Bücher, die nicht zum Verkauf bestimmt sind. Es sind die sogenannten Lese- oder Rezensionsexemplare, die nicht in den Verkauf gelangen würfen. Wochen vor dem offiziellen Verkaufsdatum dieser Neuerscheinungen erhalten sie Buchhändler und Rezensenten, damit sie sich mit ihnen vertraut machen können. Carol Forster stellt die Bücher jeweils im Sommer im Schwimmbad in einem Leseschrank den Badegästen leihweise zur Verfügung. „einschliessen und geniessen“ lautet ein weiteres Angebot: Mit Freunden kann man sich abends in der Buchnaldung einschliessen lassen, um dann ungestört in schönen Büchern schmökern zu können. Das kostet zwar etwas, aber zum Abend gehört auch ein Imbiss. Und alle zwei Jahre soll in Zukunft eine junge Tradition mit Namen „Kleiner Frühling“, ein BuchKunstFest am Pfingstwochenende weitergeführt werden, das nächste mal im Jahr 2017. Das sind Lesungen an ungewohnten, „verstohlenen“ Orten und in ungewohnten Formaten: Schriftstellerinnen und Schriftsteller treten dann mit einem von ihnen ausgewählten Gast im Duett auf, vorlesend, diskutierend, sich vor Publikum unterhaltend. Ein Konzert gehört dazu und eine Installation oder kleine Ausstellung einer Künstlerin oder eines Künstlers. Zu guter Letzt sei noch verraten, was der Schreibende im bücherladen gekauft hat: „tagediebesgut“ von Andrea Maria Keller, eine weisse Box aus Hartkarton. In der Box gewiss über hundert weisse Karten mit einer Eigenheit, die die deutsche Sprache auszeichnet: Kombiniert aus zwei vertrauten Begriffen werden neue Vokabeln gebildet wie „kuckuckskinderwunsch“, „geschleechtsverkehrsumleitung“ oder „sturzfluglotse“. Herausgebeben haben die Box Agathe Nisple und der bücherladen.
Bücherladen
Poststrasse 1
9050 Appenzell
T: 071 787 29 30
www.buecherladen-appenzell.ch
Bücher laden ein
Heinz Egger
Von Gossau aus fährt die Appenzellerbahn den Berg hoch. Schnee liegt, die Wälder stehen schwarz und nass. Wiesland und Einzelhäuser prägen die Landschaft. Und immer wieder schallen die Sirenen heulend und gespenstisch durch den Nebel. Es ist nationaler Sirenentesttag.
Vom Bahnhof Appenzell aus ist der Buchladen Appenzell quasi um die Ecke erreichbar. Zuerst der Klostermauer entlang, dann rechts einbiegen und der geschwungenen Strasse folgen. Sie führt direkt vor den Buchort. Das Haus ist alt, sehr alt. Nicht nur, weil das mit feinen Schindeln gelb eingekleidete Gebäude etwas verwahrlost wirkt. Überall blättert die Farbe, die Schindelchen hängen schräg, an vielen Stellen fehlen auch ein paar. In einem Fensterladen ist die Füllung herausgerutscht. Sie hängt nur noch schwach an einer Stelle des Rahmens. In den Fenstern hängen Vorhänge, aber es ist dunkel in den Räumen.
Das Haus habe den verheerenden Brand im 15. Jahrhundert unbeschadet überstanden, sagt Frau Forster, die Inhaberin des Buchladens. Ja, doch, es wohne der Besitzer im ersten Stock. Und der hege Umbaupläne. Sie wisse nicht, wann sie aus dem Haus müsse. Der Hausherr hat ihr die Rückkehr mit dem Buchladen angeboten. Aber die finanziellen Bedingungen wären natürlich andere. Jetzt habe sie einen günstigen Mietzins, sagt Frau Forster. Deshalb schaut sie sich nach einem neuen Ort um. Und denkt gar an Vergrösserung.
Ich setze mich zuerst einmal in einen der beiden Ledersessel mit hölzernen Armlehnen. Ich möchte den Raum auf mich wirken lassen und quasi ankommen. Neben mir steht eine Leselampe, die ich aber nicht brauche. Denn im Moment ist es recht hell im niedrigen Raum. Die Holzdecke und die tragenden Balken sind weiss gestrichen. Der Boden ist hell. Zwei Fenster lassen trübes Schneewetterlicht durch. Da über dem Schaufenster ein Hausvorsprung gegen die Strasse ragt, kommt da kaum Helle herein.
Neben der Tür steht ein eiserner Kleiderständer. Er ist allerdings „zweckentfremdet“, denn es hängen Kalender an den Haken. Das sieht gut aus. Aber ich getraue mich nicht, meinen nassen Mantel auch noch zur Ergänzung der Installation hinzuhängen. Dann lachen im Eingangsbereich zahlreiche Postkarten den Besucher an.
Ich bin etwas verwirrt. Die Gestelle im Buchladen sind nicht beschriftet. Es gibt keine von Weitem sichtbare Kategorien. Ich stehe auf und gehe den Gestellen entlang. So entdecke ich schon eine Ordnung. Ein gut assortierter Bereich mit Krimis – auch Dror Mischanis erster ins Deutsche übertragener Krimi „Vermisst“ ist da. Daneben Belletristik. Die jüngst erschienenen Bücher liegen auf. Auch das neueste Werk von David Grossmann „Kommt ein Pferd in die Bar“ in der Übersetzung von Anne Birkenhauer steht für Leseratten bereit. Es ist erst seit fünf Tagen im Handel.
Links vom Schaufenster finde ich Wanderkarten, Wanderführer und Bücher übers Appenzell. Darunter ein Bildband von Mäddel Fuchs. „Hag um Hag“ heisst er und erschien im Bilger Verlag, erkennbar am sechsfingrigen Händchen. Die Fotos sind schwarz-weiss. Im Druck allerdings sind sie mit einem Hauch Sepia in ihrer Härte gebrochen. Jedes Bild zeigt ein Stück Schneelandschaft mit einem Zaun. Faszinierend. Es gibt darin auch Texte zum Thema und ein Requiem über den Hag.
Die Ladentüre geht auf. Ein kalter Windhauch weht herein. Immer wieder kommen Frauen, eine gar mit dem Kinderwagen, auch ein Mann ist da. Er steht lange im kleinen zweiten Raum der Buchhandlung. Dort sind die Kinderbücher. Eines, das er lange angeschaut hat, interessiert auch mich. Es ist ein Bilderbuch. Die Bilder in „Was ist denn hier passiert?“ von Julia Neuhaus und Till Penzek erzählen für sich mit den vielen Figuren schon eine Geschichte. Aber auf jeder Doppelseite gibt es auch einen QR-Code. Fotografiert man ihn mit einem Smartphone oder einem Tablet-Computer, erreicht man einen Trickfilm. Ich frage mich, ob die elektronische Erweiterung des Buches die frühe Gewöhnung der Kinder an moderne Technik, dafür vielleicht aber die Beschränkung der Phantasie, in den Bildern eine eigene Geschichte zu erkennen, fördere?
Man kennt sich, redet miteinander, greift nach Büchern und blättert darin. Warum plötzlich so viele Leute im Raum stehen, klärt sich, weil eine Gruppe Kinder auf Mütter und Vater zugehen. Sie kommen aus dem Gewölbekeller, wo sie eine Vorlese- und Geschichtenerzählstunde erlebt haben. Dieser Anlass ist fest etabliert. Jeden ersten Mittwoch des Monats findet er statt.
Den Gewölbekeller kann man direkt von aussen erreichen oder via das kleine Büro und eine steile Treppe. Im Untergeschoss des Hauses sind zwei Räume. Der erste, in den man von der Treppe her kommt oder eben direkt von aussen, ist hoch und geräumig. Eine Theke steht da. Hier können an Lesungen auch Gäste bewirtet werden. An einer Wand stehen Dutzende Bücher auf Regalbrettern. Es sind alles Leseexemplare. Sie werden im Sommer in wechselnder Zusammensetzung in die Badi gebracht, wo sie den Gästen als Lektüre während dem Sonnen angeboten werden.
Über einen kleinen Gang gelangt man in den niedrigen Gewölbekeller. Ein leichter Moderduft empfängt einen. Die Feuchtigkeit ist ein Problem des Raumes. Deshalb stehen die Polstermöbel auf einem Holzrost. Zum Mobiliar gehören auch ausrangierte Kinostühle. An der abschliessenden Wand aus grob behauenem Stein steht ein Sessel und eine Leselampe auf einem Podest. Über der Sessellehne liegt ein weisses Fell. Dieses diente der Erzählerin wohl als wärmende Unterlage, denn im Keller ist es kühl. Im Sommer dürfte das sehr angenehm sein.
Der Buchladen ist ein fester Teil des kulturellen Lebens von Appenzell. Er organisiert nicht nur den Kindernachmittag und die Badilektüre, sondern auch Lesungen, Konzerte und alle zwei Jahre an Pfingsten ein ganzes Literaturfestival. Immerhin zog dieses Literaturfest 2015 gut 1000 Leute an.
Von Appenzell führt die Appenzellerbahn hinunter nach St. Gallen. Während ich im Buch „Hag um Hag“ blättere, schaue ich immer wieder hinaus. Einzelne Gehöfte, schwarzer Wald, weisses Wiesland, Schneegestöber ziehen vorbei. Und mir fällt auf, wieviele Zäune es hat. Einer läuft über eine Hügelkuppe, ein anderer säumt einen Weg, der dritte führt schnurgerade einen Hang hoch. Keiner ist gleich wie der andere. Dunkelheit bricht herein. Bald tanzen nur noch die Flocken vor dem Fenster.