Von Hand gebunden
Michael Guggenheimer
Wer durch die engen Gassen von Ascona flaniert, dem fallen zuerst die vielen Modeboutiquen auf. Hier duftet es nach Geld und Wohlstand. Und doch ist der Ferienort am Lago Maggiore mehr als das. Hier war einst am Kirchplatz das berühmte Buchantiquariat La Rondine des holländischen Pianisten Leo Kok, lange Zeit ein Treffpunkt von Literaten. Über 90 Prozent der Bücherbestände bei Kok waren deutschsprachige Bücher. Und es gab stets genügend deutschsprechende Bewohner und Feriengäste in Ascona, die sich bei ihm und seinem Nachfolger Hanspeter Manz mit Lesestoff eindeckten. An der Seepromenade von Ascona befindet sich ein zweiter Bücherort: Die schöne Biblioteca Popolare ist die einzige öffentliche Bibliothek des Tessins, in der es mehr deutschsprachige Bücher gibt als italienische.
Etwas versteckt in einem ehemaligen Altersheim an einer schmalen Gasse liegt ein weiterer Buchort. 1965 eröffnete Josef Stemmle, Inhaber einer Buchbinderei in Zürich, in Ascona die Legatoria artistica, eine Handbuchbinderei aus der das heutige Centro del bel libro entstanden ist, ein Zentrum des schönen Buchs, wo das Handwerk des Buchbindens und Papierschöpfens gepflegt und gelehrt wurde. Fünfzig Jahre später konzentriert sich die vom Verein „Centro del bel libro“ getragene Institution auf die Vermittlung von Techniken des Buchbindens an Fachleute und an Liebhaber des schönen Bucheinbands. Es ist die einzige Institution in der Schweiz, die kontinuierlich die Kunst des Buchbindens als künstlerische Disziplin anbietet.
Seit fünf Jahren leitet Suzanne Schmollgruber das Zentrum. Die gebürtige Westschweizerin, die in Österreich ihre Kindheit verbracht hat, hat im Wallis das Handwerk des Handbuchbindens erlernt, in Basel auf dem Beruf gearbeitet, in Ascona sich weitergebildet, in Barcelona und Mailand eine eigene Handbuchbinderei geleitet und wurde nach Ascona berufen, wo sie heute unterrichtet und jedes Jahr ein reiches Kursprogramm zusammenstellt. Wer sich während einer Kurswoche im Centro del bel libro umhört, erlebt, wie engagiert die Leiterin des Zentrums ist, wie ernst ihr die Vermittlung kreativer Techniken des Buchbindens ist und wie international dieses Zentrum ist, in dem Italienisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Englisch gleichzeitig gesprochen werden.
Bis 2014 bildete der Fachbereich Buch- und Papierrestaurierung einen zweiten Schwerpunkt im Unterrichtsprogramm des Zentrums. Weil die Sponsorenmittel in den letzten Jahren spärlicher fliessen, konzentriert sich das Centro heute auf den Fachbereich Bucheinband und Gestaltung. Wie vielfältig die Palette der im Centro angebotenen Kurse ist, zeigt ein Blick in die sorgfältig gestalteten Programmflyer des Hauses, die in vier Sprachen vorliegen. 26 Kurse von der Schuberherstellung bis hin zur Herstellung von Seiden- und Papierbände mit Lederrücken weist das Jahresprogramm 2015 auf. Zudem können auch noch Privatkurse nach den Wünschen von Interessenten zusammengestellt werden.
Richtete sich das Kursangebot bis vor wenigen Jahren auf Fachpersonen, so hat es sich in der letzten Zeit geöffnet: Immer mehr handwerklich begabte und künstlerisch orientierte Personen haben das Handwerk des Buchbindens und der Gestaltung des Bucheinbands für sich entdeckt. Ihnen bietet das Centro ebenfalls Kurse an. Und es kann immer wieder passieren, dass angehende und gelernte Buchbinder im Kurs neben Liebhabern der Buchbindekunst arbeiten. Zu diesen Liebhabern gehören häufig Architekten und Grafiker. Hans Burkhardt, Vizepräsident des Trägervereins und langjähriger Direktor der grössten Buchbinderei der Schweiz, weiss aus langjähriger Beschäftigung mit dem Centro del bel libro, wie wichtig in Ascona die Vermittlung neuer Gestaltungsmöglichkeiten des Bucheinbands sind. Hier werde das Handwerk von früher gepflegt, das im Rahmen der Industrialisierung der Buchherstellung anderswo nicht mehr im Zentrum stehe. Er und andere Leiter von Buchbindereien schicken regelmässig Buchbinder zu Weiterbildungskursen nach Ascona, weil hier die Herstellung des innovativen Bucheinbands gepflegt und gelehrt werde. Wer sich in Ascona in einem Kurs mit der Herstellung besonders kunstvoll gestalteter Bucheinbände befasse, der öffne seinen Blick für neue Möglichkeiten, für ganz besondere Bucheinbände, die an internationalen Wettbewerben regelmässig prämiert werden.
Zweimal in diesem Jahr wird es möglich sein, einen Einblick in die Arbeit des Centro del bel libro zu erhalten. Da finden einmal Tage der offenen Tür vom 26. bis 29. März statt, dies im Rahmen der Eventi Letterari vom Monte Verità mit ihren exquisiten Lesungen, während sich auf dem Platz der Seepromenade in Ascona Verleger und Buchkünstler an einem grossen Buchmarkt präsentieren. Ascona nennt sich bei dieser Gelegenheit Città del bel libro. Und am 30. Mai wird zum fünfzigjährigen Bestehen des Centro del bel libro eine 10-tägige Foto-Ausstellung zur Geschichte des Zentrums in der Casa Serodine eröffnet.
Das Kursprogramm kann auf der Homepage des Centro eingesehen werden.
Centro del bel libro ascona
Via Collegio 17
6612 Ascona
T. 091 791 72 34
www.cbl-ascona.ch
Zum schönen Buch
Heinz Egger
„Buongiorno“ sagt sie bei der Begrüssung am Telefon. Aber sie spricht auch Deutsch mit einem charmanten Akzent, der mit dem „Au revoir“ zum Ende des Gesprächs geklärt wird. Suzannne Schmollgruber leitet seit fünf Jahren das centro del bel libro in Ascona. Und wenn sie erklärt, worin die Aufgaben und Ziele des centro sind, dann leuchten ihre Augen, dann strahlt sie. Und es wird gleich klar, warum im Namen des centro auch bel – schön – steht. Das Zentrum wurde vor 50 Jahren als Weiterbildungsstätte für Handbuchbinderinnen und -binder von Josef Stemmle gegründet. Es werden dort die Techniken gelehrt, mit denen man ein schönes Buch, eines, das die Zeiten überdauert, herstellt. Es geht nicht nur um die vielen Bindetechniken, sondern auch um Gestaltung, das Erproben neuer Materialien, die Verfeinerung bekannter Verfahren und schliesslich auch um die Möglichkeiten der Buchrestauration.
Den Beruf der Handbuchbinderin hat auch Suzanne Schmollgruber erlernt. Und um ein Haar wäre sie ausgestiegen, weil das Handbuchbinden in einem Atelier oft mit „langweiligen“ Wiederholungsarbeiten verbunden ist. Serienarbeit sind nicht ihr Ding. In einem Kurs im centro del bel libro hat sie dann gesehen und erlebt, was Handbuchbinden auch noch sein kann: eine sehr kreative Tätigkeit. Dank der Unterstützung durch ihre Mutter konnte sie ein ganzes Jahr lang die Kurse besuchen. Dort erwarb sie das Rüstzeug für eine Selbstständigkeit. Jahre später rief sie der Leiter des centro an, um ihr mitzuteilen, dass er nach 26 Jahren im centro in Pension gehe und seine Stelle ausgeschrieben werde. Über Jahre standen sie in lockerem Kontakt und Edwin Heim fand, sie wäre die geeignete Nachfolgerin. – Und sie ist es, obwohl sie bei den Kursen übers Handvergolden gern auf die riesige Erfahrung ihres Vorgängers zurückgreift. Sie hat Ideen und glüht vor Berufsstolz.
Da das Handbuchbinden ein rückläufiger Beruf ist, muss sich das centro etwas öffnen. Es bietet heute seine Kurse gezielt auch Künstlern, Architekten, Designern und Grafikern an. Sogar Laien sind heute willkommen, wenn sie handwerkliches Geschick und etwas Erfahrung mitbringen. Mindestens 80% der Kurse erteilt Suzanne Schmollgruber selber. Es geht ihr darum, die Liebe zum schönen Buch zu stärken. Sie betreut jeweils bis 8 Kursteilnehmende, die aus der ganzen Welt anreisen. Mehrsprachigkeit ist entscheidend. Wenn ein externer Kursleiter da ist, übersetzt sie: Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch.
Die Räumlichkeiten sind recht eng unter dem Dach, wo sich das centro schon seit 40 Jahren befindet. Weiss belegte Tische mit drei Leimdosen darauf – eine für den Kleister, eine für den Kunstharzleim und eine für eine Mischung der beiden. Darüber hängt eine starke Lampe, die die Arbeitsfläche ganz ausleuchtet. Jede Fläche im Raum ist optimal genutzt. Ein Nassbereich, zwei Schlagpressen, mit denen mehrere Tonnen Druck ausgeübt werden kann, eine Wand mit Heftfadenrollen verschiedener Dicke, Schublädchen mit Seide für das Stechen von Kapitalbändern, ein Schrank mit Werkzeugen zum Vergolden. In einem weiteren Raum steht eine kleine Fachbibliothek. Dort steht auch ein grosser Tisch für Besprechungen. In einem Gestell prangen die Buchbindetechniken des Mittelalters in zahlreichen Beispielen.
Führungen macht Suzanne Schmollgruber gern. Sie findet, das centro müsse bekannter werden, auch bei der breiten Bevölkerung. So sind denn zum 50-Jahrjubiläum des centro am 28. und 29. März 2015 Tage der offenen Tür geplant und am 30. Mai werden die Bücher des Jugendleistungswettbewerbes für ein paar Stunden ausgestellt.
Zum Schluss des Rundgangs zeigt sie Beispiele aus Kursen. Da staunt man: feine Materialien, handwerklich perfekt gearbeitet. Solches kann wahrlich die Liebe zum schönen Buch wecken oder vertiefen. Arrivederci et merci beaucoup!