Mekka in Berlin
Michael Guggenheimer
Das Gefühl überwältigt zu sein stellt sich ein. Oder auch die Gewissheit, diesen Ort beim ersten Mal etwas verwirrt zu verlassen, weil es so schwer fällt, sich zu entscheiden. Einen Kaffee am Savignyplatz trinken, sich die Notizen anschauen, die man gemacht hat, sich für zwei oder drei Titel entscheiden, um dann wieder zu diesem Marktplatz für Kunstinteressierte zurückzukommen, wissend, dass man beim nächsten Besuch Berlins wieder kommen wird. So viele Bücher. 20 000 sollen es sein. So viele Themen. 19 zählt die Homepage auf. So viele interessante Titel. Bücher zum Kino, Bücher zur Architektur, Bücher zur Kunstgeschichte, Bücher zum Theater. Bücher zur Fotografie und zur Mode. Die Bildende Kunst und die Darstellende Kunst sind hier mit unglaublich vielen Titeln vertreten. Namen von Architekten, von Malern und Bildhauern, von Regisseuren, Schauspielern und Modedesignern schwirren einem durch den Kopf. Welch’ ein riesiger Bogen, den es zu bewältigen gibt. Dabei sind es mehrere Bögen.
Buchhandlung Bücherbogen heisst der Ort, es ist DIE Berliner Fachbuchhandlung für Architektur, Kunst, Design und Fotografie sowie für Ausstellungskataloge. So aktuell sind die hier präsentierten Kataloge, dass man sich gleich eine Ausstellungsreise zusammenstellen könnte, eine, die nicht nur zu deutschen Ausstellungsdestinationen führen würde. Was heisst hier „DIE Berliner Fachbuchhandlung“. Könnte es sein, dass es die am besten dotierte Buchhandlung dieser Sparten ganz Deutschlands oder im ganzen deutschsprachigen Bereich ist? Die riesige Buchhandlung liegt unter den Gleisen des S-Bahnhofs Savignyplatz. Während man sich die Titel anschaut, einzelne Bücher in die Hand nimmt, um sie genauer anzuschauen, rattern (oder ist’s vielmehr ein Dröhnen?) die S-Bahnzüge im Minutentakt über das steinerne Viadukt.
Bevor die Buchhandlung 1980 von Ruthild Spangenberg eingerichtet wurde, waren hier eine Autowerkstatt und ein Blumenladen untergebracht. Begonnen hat der Bücherbogen zwischen zwei Viaduktbögen, heute ist es eine Sequenz von fünf. Bögen. Gelbbräunlich die Backsteine dieser Innenräume, ein roter Linoleumbelag zieht sich als Band und Laufsteg von einem Bogen zum nächsten, helles Neonröhrenlicht erhellt die hohen Räume. Während sich an den Hackeschen Höfen Restaurants und Cafés in den Bögen unter den S-Bahn Gleisen eingerichtet haben, befinden sich hier beim eleganten Savignyplatz zwei Buchhandlungen, denn gleich nebenan befindet sich noch die auf Belletristik spezialisierte Autorenbuchhandlung. Wer Bücher mag, kann unter den Bögen locker einen ganzen Tag verbringen. Cafés und Restaurants gibt es in genügender Zahl in der Nähe, falls man sich zwischen beiden Buchstationen stärken möchte.
Das Bücherbogen-Sortiment umfasst nicht nur Bücher aus deutschen Verlagen. Englische Verlage und US-amerikanische Verlage sind hier ebenfalls gut vertreten. Man ist hingezogen und gleichzeitig überwältigt von diesem Mekka der Designbücher. Unerhört die Fachbereiche, die hier abgedeckt werden: Der Bogen reicht von Architektur über Tanz zum Thema Zeichnung. Trotz der überwältigenden Zahl der Titel fühlt man sich im Bücherbogen wohl.
Kein Wunder, dass der Laden im Buch „Die schönsten europäischen Buchhandlungen“ beschrieben wurde. Man ist angesichts der vielen Titel, die man näher anschauen möchte, froh um die Sitzmöglichkeiten, um die Designtische von Egon Eiermann auch, auf denen man schwere Bände hinlegen und durchblättern kann. Zwischendurch blickt man sich nach den anderen Buchfreunden um, die hier zwischen den Tischen und entlang den schwer beladenen Büchergestellen aus Metall unterwegs sind: Auffallend die Besucher, die man als Japaner, Koreaner oder Chinesen vermuten würde. Dabei sind sie vielleicht Architekten und Grafiker aus Gelsenkirchen oder Düsseldorf, aus München oder Zürich, die bei jedem Besuch in Berlin hier einen halt machen, um sich hier wieder mit Neuerscheinungen einzudecken. Ja, ich weiss es, auch ich müsste wiederkommen. Denn beim Flanieren durch Maastricht und beim Anblick der vielen Hauszeichen an den Hausfassaden fehlt mir das entsprechende Wort für diese Schlusssteine, die keine Schlusssteine sind, für diese Reliefs von Tieren und Stadtansichten, unter denen stets der Hausname steht und eine Jahreszahl eingraviert ist. In der Buchhandlung Bücherbogen wird sich gewiss ein Fachbuch zur niederländischen Architektur des 17. Jahrhunderts finden, in dem der Begriff in mehreren Sprachen vorkommen und erläutert wird.
Bücherbogen am Savignyplatz
Stadtbahnbogen 593
10623 Berlin (Charlottenburg)
T: 0049 30 31 86 95 11
www.buecherbogen-shop.de
Beobachtungsplatz
Heinz Egger
Nein, in einem Aufwasch ist das nicht zu fassen. Der Bücherbogen bietet so viele Bücher zu allen Bereichen der Kunst, dass Beschränkung Not tut. Bücher stapeln und drängen sich in vier Bögen. Ein fünfter ist fürs Büro reserviert. Die Buchhandlung dehnt sich über die ganze Tiefe der Gleisanlage des darüber gelegenen Bahnhofs aus. Vorne liegen die raumhohen Schaufenster zum Savigny-Platz, hinten die hoch liegenden, breiten Sprossenfenster zu den Nachbarhäusern und Innenhöfen mit hohen Gittern.
Ich lasse mich an einem kleinen Tisch mit bequemem Stuhl am Schaufenster nieder. Ein Aussichtspunkt. Vor mir türmen sich auf mehrgeschossigen Tischen, die aus gelochtem Stahlblech zusammengeschweisst sind, die Bücher. Links und rechts den Tunnelwänden entlang stehen Büchergestelle aus Stahlblech. Alle sind dicht bepackt. Da lese ich Aufschriften auf den Tablaren wie: Kunsttheorie, Kunst 1933-45, Künstlergespräche, Gender, Kunstmonographien, Biennalen, Kunstmessen, Sammlungen, Fotografie, Kunst und Psychiatrie, christliche Kunst.
In der Mitte des Tunnels verläuft der Verbindungsweg zwischen den einzelnen Bogen. Und auf diesem Weg flanieren die Besucherinnen und Besucher vorbei. Ein Schauspiel! Ein Laufsteg! Den meisten sieht man an, dass sie in einem künstlerischen Beruf tätig sind oder wenigstens sich zu den Design- und Kunstaffinen zählen. Da ziehen gemessenen Schrittes drei asiatisch anmutende Herren vorbei. Sie tragen ausnehmend schöne Kleider – Schnitt und Stoff sind bei uns so nicht üblich. Seidener Glanz, feine Caros, massgeschneiderter Sitz. Dann ein Herr in weiblicher Begleitung. Er trägt einen schwarzen Mantel. Er hat ihn geöffnet, so dass sein rotes Hemd sichtbar wird. Um den Hals hängt lose ein weisser Schal mit sehr feinem Muster. Seine langen Beine stecken in einer hellen Hose, er trägt braune, in eine Spitze auslaufende Schuhe. Neben seiner Grösse imponiert seine Haarpracht. Blonde, mittellange Locken, zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt. Zwei ältere Damen halten vor dem grossen lesepultartigen Plexiglasständer. Lange betrachten sie die beiden aufgelegten Bücher über Hieronymus Bosch. Auch in Berlin weiss man, dass in ’s Hertogenbosch zum 500. Todestag von Hieronymus Bosch gerade eine grosse Ausstellung stattfindet. Die beiden Damen sprechen über eines der allegorischen Bilder – natürlich flüstern sie nur.
Hinter mir im Schaufenster liegt eine ganze Reihe von Büchern zur Dada-Bewegung. Auch das passend zum Jubiläumsjahr. Dazu gehören auch der Ausstellungskatalog des Kunsthauses Zürich, dadaglobe reconstructed, und jener des Rietbergmuseums Zürich, dada Afrika.
Neben mir liegen zahlreiche Zeitschriften auf. Beispielsweise Zeitkunst, die Monatszeitschrift für Kunst und Kultur, oder Monopol, das Magazin für Kunst und Leben, oder frieze d/e, das englisch-deutsche Magazin, das vierteljährlich über zeitgenössische Kunst und Kultur in Deutschland, Österreich und der Schweiz berichtet.
Ich verlege meinen Beobachtungsplatz unter das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Tunnels. Von einem einfachen Holzstuhl aus sehe ich wieder Besucherinnen und Besucher vorbeigehen. Da ist ein hochgewachsener, schlanker Herr. Er trägt ein dunkles Jackett mit Wildlederverstärkungen an den Ellenbogen, weisses Hemd und eine rote Fliege. Den Mantel hat er lässig über seine Schulter geworfen. Seine Brille ist gross und schwer mit dem schwarzen, breiten Rand. Sie gibt dem Träger einen intellektuellen Touch. Eine elegante Erscheinung, wenn da nicht die Schuhe wären: abgewetztes, schwarzes Leder und abgetretene Absätze. Ein weiterer Herr im rosa Hemd und heller Hose steht in meiner Nähe und liest einen Buchprospekt. Den Nähten der Hosentaschen entlang sind deutliche Benutzungsspuren sichtbar. Ein älterer Herr mit Stock und Mütze geht langsam den Gestellen entlang. Er hält seinen Kopf zur Seite geneigt, um die endlose Reihe der Buchrücken lesen zu können.
Das mache ich auch so, um die Rücken der vor mir auf den Büchertischen gestapelten Bände zu lesen: Alice Aycook, B. Gilles, Giorgione, Eva Hesse 1965, Erich Heckel, Metropolis, Michel Comte and Milk a collaboration, Ligne de Fond – Grundlinie, Grey Matters, Psychoprosa, Sphinx, God & Co, Marc Adrian …
Durch das Sprossengitter am Fenster hinter mir blickt ein Fussballer von einem riesigen Gemälde auf einer Brandmauer. Sehr dynamisch ist er hinter dem runden Leder her, es begleitet ihn ein Wolf. Als Wahlspruch unter dem Bild steht: Riskier alles. Ob er auch einen Blick auf einen grossformatigen Fotoband oder ein Buch mit Gemälden wirft?